The Project Gutenberg eBook of Du Schwert an meiner Linken

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Title: Du Schwert an meiner Linken

Ein Roman aus der deutschen Armee

Author: Rudolph Stratz

Release date: May 6, 2025 [eBook #76032]

Language: German

Original publication: Stuttgart: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger, 1912

Credits: Peter Becker, Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DU SCHWERT AN MEINER LINKEN ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.


Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt.

Du Schwert an meiner Linken

Du Schwert
an meiner Linken

Ein Roman aus der deutschen Armee


von


Rudolph Stratz


59.-68. Tausend


Stuttgart und Berlin
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
1923

Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten


Für die Vereinigten Staaten von Amerika:
Copyright, 1912, by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
Stuttgart und Berlin



[S. 5]

1

Viel Worte machte der Oberst von Ottersleben nicht, als er aufstand, um an der Festtafel im Kasino seines Regiments das Hoch zu Kaisers Geburtstag auszubringen. Was hätte er auch sagen sollen, was nicht heute, am 27. Januar, in der Armee, vom Bodensee bis zur Weichsel, selbstverständlich war? Er hielt das Sektglas in der Hand und überschaute den langen, hufeisenförmigen Tisch, der heute, wo alle Verheirateten mitspeisten, wo die Ärzte, wo die Zahlmeister, die man sonst hier nie sah, gekommen waren, den ganzen Saal bis an die Türen hin füllte. Dort drüben saß, unter der palmeneingerahmten Büste des Kaisers, zum Einsatz bereit, die Musik. Der Stabshoboist Schickedorn, der mit seinen Backenbartstreifen und dem rötlich jovialen Gesicht wie ein Potsdamer General aussah, hielt den Taktstock in der Rechten und schaute erwartungsvoll hinüber nach dem Regimentskommandeur. Alle Offiziere hatten sich erhoben. Sie standen in langen Reihen, mit gesammelten, dienstlich ernsten Gesichtern. Sechzigfach und öfter wiederholte sich der Namenszug des Infanterieregiments Burggraf Friedrich von Nürnberg auf den Stabsoffiziersraupen, den Leutnantsepauletten, den Achselklappen der Junker unten am Tisch. Es war tiefe Stille. Durch die klang kurz und scharf die Stimme[S. 6] des Obersten: »Seine Majestät der Kaiser und König, unser allergnädigster Kriegsherr, hurra!«

»Hurra!«

»Und abermals: Hurra!«

»Hurra!«

»Und immerdar: Hurra!«

»Hurra!«

Es dröhnte wie ein einziger donnernder Ruf. Dann standen sämtliche Herren andächtig, das Glas in der Hand. Die Musik spielte einen Tusch, daß die Scheiben klirrten, und ging dann feierlich in das »Heil dir im Siegerkranz« über. Als das endete, wurden sechzig, siebzig Sektkelche bis auf die Nagelprobe leer. Dann setzte man sich wieder. Lachen, Leben, Lärmen flackerte rasch da und dort auf und sprang wie ein Lauffeuer die Tafel entlang. Je weiter nach unten an ihr, desto röter waren schon die Gesichter, desto lauter das Gespräch. Dem Fähnrich von Baldring, der dicht vor dem Leutnant stand, hatten sie zu viel vorgetrunken. Er nickte schlaftrunken nach vornüber, erschrak dann und saß eine Weile mit aufgerissenen Augen stramm aufrecht. Neben ihm lächelte der Zahlmeister Brauske feucht und gerührt vor sich hin. Ihn hatte niemand zum Trinken gezwungen. Er tat es von selber. Weiter aufwärts war die ›scharfe Ecke‹. Dort gab der Assistenzarzt Doktor Taubmann, ein alter, mit Schmissen übersäter Korpsstudent, das Beispiel und legte seinen Nachbarn, den Leutnants Gollenius und von Solkowski, ein mörderisches Tempo in der Sektvertilgung vor und sprach zu seinem Gegenüber, dem Oberleutnant von Logow, mit einem Kopfschütteln[S. 7] tiefster Mißbilligung: »Ich weiß nicht, Herr von Logow ... Sie sind doch sonst so ein hervorragender Zeitgenosse ... Daß Sie, wie ich einwandfrei diagnostiziert habe, von der Suppe ab Ihren Wein zu Dreiviertel mit Selters mischen, das ist, verzeihen Sie das harte Wort: schnöde! Es erzeugt beim unbefangenen Beobachter Magensäure ... Es ist ...«

»Logow trinkt doch sonst überhaupt nichts!« sagte Gollenius.

Erich von Logow zuckte nur die Achseln. Er sprach nie viel. Er ging nicht leicht aus sich heraus. Er war kein Mann für Kasino-Ulk. Er war zu selbstbewußt dafür und zudem der älteste Oberleutnant des Regiments, schon zu Anfang der Dreißig. Nach seinem ganzen Wesen hätte er mehr an das obere Ende der Tafel gehört, dahin, wo die dicken Epauletten saßen, die Flaschen spärlicher standen, die Unterhaltung gemessener geführt wurde und der Oberst von Ottersleben, immer halb im Dienst, zu seinem Nachbarn, dem Oberstleutnant Wahrmund, sagte: »Ich will dieser Tage mal raus mit dem Regiment ... in den Schnee. General von Glümke murmelte gestern schon was von Winterspeck ... Motten im Pelz ... Na ... Sie kennen ihn ja ...«

Der Oberstleutnant bejahte diplomatisch. Er wußte: Der Brigadekommandeur von Glümke, der unbekümmerte Frontsoldat, Junggeselle und Jagdreiter, und Oberst von Ottersleben, diese Autorität in Gewehrkunde und Schießausbildung, paßten nicht recht zueinander. Herr von Ottersleben hatte in seinem Äußeren durchaus nichts Unmilitärisches. Das uralte Soldatengeschlecht, aus dem er stammte, verleugnete er in Sprache[S. 8] und Haltung nicht. Aber seine Züge waren, bei aller dienstlichen Schärfe, fein, von kleinen Fältchen und Äderchen durchzogen, der kurze Schnurrbart und das Haar an den Schläfen leicht angegraut, in den klugen Augen manchmal ein mehr sinnender als befehlender Ausdruck, wie er jetzt über die lange Tischreihe seiner Herren hinblickte, diese sechzig, siebzig so verschiedenen Menschen, die ihm alle, vom Stabsoffizier bis zum Fahnenjunker, mit ihrem Wohl und Wehe anvertraut waren, für die er verantwortlich war, ohne doch immer in ihr Inneres dringen zu können, und immer in der Hand des Zufalls, der ihm diese oder jene Überraschung durch einen Untergebenen bringen konnte.

An der Tafel war der Lärm und das Gelächter immer lauter geworden. Die Musik schmetterte dazwischen. Der Oberstleutnant mußte seine Stimme verstärken.

»Dies Jahr haben wir die drittbesten Schießresultate der Armee, Herr Oberst! Voriges Jahr die zweitbesten! ... Ein Regiment, das so steht, das braucht wirklich nichts zu fürchten!«

Der Oberst von Ottersleben nickte.

»Ja. 's ist komisch, lieber Wahrmund ... Wenn ich 'nen Truppenteil unter mir hatte, so konnt' er auf einmal schießen. So ging es mir als Kompaniechef, als Bataillonskommandeur, und jetzt mit dem Regiment. Aber freilich ...«

Er verstummte und nahm einen Schluck. Es war, als liefe eine Wolke über seine Züge. Aber es war nur der Schatten der großen schwarz-weiß-roten Fahne, die sich draußen vor dem Fenster im Winterwind hin und her blähte. Dann versetzte er: »Das ist nun das[S. 9] fünfunddreißigste Mal, daß ich Kaisers Geburtstag in der Armee feiere! Wie oft nun noch, das steht beim lieben Gott und dem Militärkabinett ...«

»Aber Herr Oberst ...« Drei Majore riefen es zu gleicher Zeit. Sie lachten dabei. Der Regimentskommandeur stimmte mit ein. Die trübe Anwandlung war vorüber, die so gar nicht zum Festjubel des heutigen Tages paßte. Der dicke Oberstabsarzt Doktor Sand aber brummte halblaut zu seinem Nachbarn: »Es ist ein Jammer, daß so ein Mann sich auf dem Pferd so in acht nehmen muß!«

Der andere nickte. Es war kein Geheimnis: Der Oberst von Ottersleben hatte einen Knacks in der Gesundheit, der sich im Sattel fühlbar machte. Und von drüben murmelte jemand, aus denselben Gedanken heraus: »Olaf reitet freilich wie der Teufel!«

Olaf — das war der Vorname des Generalmajors von Glümke, unter dem er seit vierzig Jahren in der ganzen Armee bekannt war. Von den verrückten Streichen seiner Leutnants- und Hauptmannszeit in der Garde bis jetzt hinauf in Rang und Würden, die ihn keineswegs hinderten, der Alte zu sein.

Der Oberst von Ottersleben hatte nichts von dem Gespräch vernommen. Er hatte sich halb erhoben und rief in das allgemeine Stimmengeschwirr: »Gesegnete Mahlzeit, meine Herren!«

Das war das Zeichen für die Zigarre. Der Saal hüllte sich in blauen Rauch. Stühle wurden gerückt. Man setzte sich in Gruppen zusammen, beim Dampfen des Kaffees zwischen dem Perlen der Sektgläser. Andere[S. 10] traten in die Nebenräume, ein paar mit bloßem Kopf hinaus in den Kasinogarten in den Schnee, um die erhitzten Stirnen abzukühlen. Drinnen spielte die Musik den Pariser Einzugsmarsch. Der dicke kleine Hauptmann Neugereuth war auf das Podium geklettert und hatte einige Hoboisten verdrängt, um seiner Leidenschaft, die große Pauke zu schlagen, zu frönen. Er zählte krampfhaft mit und wirbelte dann doch zwei Takte zu früh los. Aber es schadete nichts. Denn an Stelle des Kapellmeisters Schickedorn dirigierte der musikalisch veranlagte lange Regimentsadjutant, schwenkte mit verklärtem Gesicht den Taktstock, und die Musikanten folgten ihm dienstlich entschlossen durch dick und dünn. Im Lesezimmer lag der Benjamin des Regiments, der Fahnenjunker Reiffenscheidt, noch ein halbes Kind, erschöpft auf dem Kanapee, mit dem Kopf auf der Kreuzzeitung und den Lackstiefeln in der Luft. Der Leutnant Griller, der Kraftmensch des Kasinos, zeigte sein Renommierstück und hob einen Stuhl samt einem darauf sitzenden Herrn mit dem linken Arm frei in die Höhe. Im großen Saal trieb der Leutnant und Bataillonsadjutant Hase die Ordonnanzen, rascher aufzuräumen, denn es zuckte ihm in den Tanzbeinen. Es war alles so, wie in Hunderten anderer Kasinos, in allen Teilen des Deutschen Reiches, in denen dreißigtausend Offiziere jetzt um dieselbe Zeit den höchsten Festtag der Armee begingen.

Der Oberleutnant Erich von Logow war auf seinem Platze sitzen geblieben. Er rauchte eine Zigarre, was er sonst selten tat, und schaute vor sich hin. Da hörte er neben sich die Stimme einer zu ihm gesandten[S. 11] Ordonnanz: »Der Herr Oberst möchten dem Herrn Oberleutnant zutrinken!«

Er schnellte empor, tat, dienstlich stramm stehend, seinem Regimentskommandeur Bescheid, hob das geleerte Glas und setzte sich wieder.

Oben am Tisch sagte der Major Rumpach, ein blondbärtiger Riese, mit seiner Grabesstimme: »Auffallend tüchtiger Mensch, der Logow!«

Der Major war eben erst von einem Urlaub zurückgekehrt, auf dem er sich von einem tüchtigen Rumpler mit dem Pferde erholt hatte. Er sollte eigentlich erst vom ersten Februar ab wieder Dienst tun, und war nur heute, zur Feier des Tages, schon in Uniform erschienen. Logow stand in seinem Bataillon. Er blickte nach dem jungen Offizier hinüber. Der saß da, ohne darauf zu achten. Er hatte ein preußisches Militärgesicht. Kurzer dunkler Schnurrbart, feste dunkle Augen, um den Mund ein Zug von Zurückhaltung. Seine Gestalt war über Mittelgröße, straff und elastisch. Es haftete ihm etwas In-sich-Versunkenes an. Er redete nicht, sondern hörte den anderen zu, die um ihn Witze rissen und lachten, und schien mit seinen Gedanken irgendwo in der Ferne zu sein. Es war Strenge und Reife in seinem ganzen Wesen. Der Major Rumpach dachte sich: Wenn es bei uns in der Armee Generale von dreißig Jahren gäbe, dann müßten sie so aussehen! Neben ihm sagte der Oberst: »Der Logow? ... Ja, ich wollte, ich hätte mehr von der Sorte im Regiment! ... Wir legen mit ihm noch Ehre ein!«

»Herr Oberst haben ihn ja auch besonders zu sich herangezogen!«

[S. 12]

»Ja. Er verkehrt viel in meinem Hause!«

Der andere frug nicht weiter. Es hätte indiskret aussehen können. Oberst von Ottersleben besaß drei erwachsene Töchter ... Zwei von ihnen kamen nur in Frage. Die dritte, die jüngste, war schon glückliche Braut. Der Major wandte sich an den Regimentskommandeur und forschte mit seinem tiefen Baß: »Wann heiratet denn Fräulein Dora, Herr Oberst?«

Herr von Ottersleben lachte.

»Im Frühjahr! Bei mir ist's die verkehrte Welt, lieber Rumpach. Ich brech' mein Vierteldutzend von hinten an! Na, wie Gott will! Wenn man drei Mädels unter die Haube zu bringen hat, darf man nicht pedantisch sein. Ich hätt's ja auch nicht gedacht, daß eine von meinen Mariellen gerade zu den Pionieren verschlagen würde ...«

Er hatte sein ganzes Leben in bevorzugten Truppenteilen verbracht. Es gab ihm immer einen gewissen inneren Ruck, wenn er sich vorstellte, daß sein Dorle, das Nesthäkchen der Familie, künftighin schlicht und recht Frau Grotjan heißen würde, so wenig er an sich gegen den Leutnant Grotjan von dem dreißigsten Pionierbataillon einzuwenden hatte. Er besaß nun einmal eine Schwäche für alte Namen wie Ottersleben oder Logow, in denen es gleich Trompetenfanfaren von Fehrbellin und Roßbach nachklang. Mit unwillkürlichem Wohlwollen streifte sein Auge wieder den Oberleutnant Erich von Logow drüben an der schon halb verlassenen Tafel, der eben mit zusammengepreßten Lippen, in einer seltsamen Ungeduld, auf die Uhr sah, als ob er in nächster Zeit etwas Besonderes erwartete.[S. 13] Neben ihm erkundigte sich der Major: »Na ... und der älteste filius ... der Artillerist?«

»Mein Sohn?« sagte der Oberst. »Gott ... er macht sich! Er ist vom ersten April ab nach Berlin kommandiert ... zur militärtechnischen Akademie! ... Ich hätt' ihn ja lieber noch hier unter der Fuchtel, in der gleichen Garnison behalten. Sein Oberst und ich sind alte Kriegsschulkameraden. Da macht er mir keine Wippchen vor. Aber da draußen in Berlin ... das ist heutzutage ein heißer Boden für einen, der an sich schon Rosinen im Kopf hat, wie der Otto! Das weiß ich: meinen Jüngeren, den Lichterfelder Kadetten, geb' ich lieber seinerzeit auch für ein schönes Regiment in der Provinz ein. Na — vorläufig soll er mir mal erst die Selekta absolvieren! ...«

Der Oberst hatte laut zu seinem Nachbarn sprechen müssen, so rauschend schmetterte die Musik den Radetzkymarsch durch den raucherfüllten Saal. Einer der jüngeren Herren war auf einen Anrichtetisch an der Seite geklettert und tanzte da oben, wie er es in Österreich gesehen, zwischen abgeräumten Tellern und leeren Gläsern im Takt, der Hauptmann Neugereuth schlug begeistert die Pauke, der lange Regimentsadjutant dirigierte, mit hocherhobenem Arm wie ein Feldherr. Dann plötzlich brach der k. k. Marsch in einem wirren Durcheinander ab, der Oberleutnant Rudicke hatte jählings den Taktstock hingelegt. Er hatte eine Ordonnanz bemerkt, die mit einer Depesche auf einem Teller quer durch den Saal auf ihn zusteuerte, und sprang mit einem Hechtsatz vom Podium und ihr entgegen.

[S. 14]

»Telegramm aus Berlin? ... An das Regiment? ... Herr Oberst ... das Militärwochenblatt ist heraus!«

Das Militärwochenblatt! ... Das große Ereignis zu Kaisers Geburtstag! Die endlose Reihe von Beförderungen, Ordensverleihungen, Adelungen, Gnadenbeweisen aller Art, die heute Spalten um Spalten und Seiten um Seiten der dickleibigen Extraausgabe füllten, während da drüben, fern in Berlin, wo jetzt eben die dreiundzwanzig kommandierenden Generale dem Kriegsherrn die Glückwünsche der Armee überbrachten, Tausende von Offizieren sich zur Ausgabe der Parole: ›Es lebe Seine Majestät‹ im Zeughaus um ihn scharten, schwarzwimmelnde Menschenmassen die Linden füllten. Das Militärwochenblatt! Im Augenblick lief das Wort durch die Räume des Kasinos. Man drängte sich durch die Türen herein. Der Saal war voll von Uniformen — von Stimmengewirr — Erwartung — dann Schweigen. In ihm die trockenen Worte des Obersten: »Na — lesen Sie mal, Rudicke!«

Der Regimentsadjutant riß das Telegramm auf und räusperte sich: »Regiment Burggraf von Nürnberg ... Gratuliere gehorsamst, Herr Oberst ... Roter Adlerorden dritter Klasse mit der Schleife ...«

Oberst von Ottersleben nahm gelassen die Händedrücke von allen Seiten entgegen. Es war keine große Überraschung. Die Auszeichnung kam ihm nach seinem Dienstalter zu. Er winkte: »Na — nu weiter ...«

»Major Rumpach unter Versetzung in das Infanterieregiment 209 zum Oberstleutnant befördert.«

Ein neues Hallo! Der blondbärtige Riese war im Regiment sehr beliebt. »Uff!« sagte er, sichtlich erleichtert,[S. 15] mit seiner Bärenstimme. »Bis hierhin hat uns Gott gebracht in seiner großen Güte! Danke gehorsamst, meine Herren! Danke Ihnen allen! Tut mir herzlich leid, dies schöne Regiment zu verlassen! Behalten Sie mich in freundlicher Erinnerung, wie ich Sie alle! Grob — aber 'n guter Kerl — nicht wahr? ... Na — Hände her!«

Er war sichtlich ergriffen, während er mit seiner Riesenfaust eine Rechte nach der anderen drückte. Der Oberst hatte inzwischen für sich weiter gelesen. Er ließ das Blatt sinken und sprach, kopfnickend und halb andächtig: »Donnerwetter!«

»Was ist denn? ... Was ist?«

»Logow ... kommen Sie mal her!«

Erich von Logow trat ein paar Schritte näher heran. Er hatte sein gewohntes, unbewegtes Gesicht. Aber er war auffallend blaß geworden. Der Adjutant hielt die Depesche in der Hand und las, in der tiefen Stille jedes Wort betonend: »Oberleutnant von Logow unter Beförderung zum Hauptmann in den Großen Generalstab versetzt!«

Es war kein Lärmen und Gelächter wie bisher. Es verbreitete sich jene Stimmung, der der Oberst selber mit dem Worte »Donnerwetter« Ausdruck gegeben. Aufrichtiges Händeschütteln, ernste Glückwünsche. Da stand nun einer der Auserwählten der Armee. Er hatte das Höchste erreicht, was ihm nach seinem Dienstalter möglich war. Er war vor Tausenden bevorzugt. Er trug von nun ab die breiten Karmoisinstreifen des Großen Generalstabs, zu dem er schon einmal, nach der Kriegsakademie, ein Jahr zur Dienstleistung[S. 16] kommandiert gewesen. Er beherrschte sich. Er nahm ruhig die Händedrücke der Vorgesetzten und Kameraden entgegen. Nur eine Sekunde hatte es in seinen dunklen Augen vom Triumph eines unbezähmbaren Ehrgeizes aufgeleuchtet. Dann war das wieder in sich erloschen. Der Oberst von Ottersleben hielt seine Rechte fest und sprach laut und herzlich: »Alles Gute auf den Weg, mein lieber Logow! Wir werden Sie hier recht vermissen! Aber es ist eine Ehre für einen Truppenteil, seine Herren an die große Bude am Königsplatz abzugeben! Darum betrauern wir Ihr Scheiden nicht. Sie waren eine Zierde des Regiments — ein Vorbild für die jüngeren Herren! ... Na — Gott mit Ihnen!«

Ein neuer Lärm brach hinter seinen Worten los. Der Fähnrich Freiherr von Baldring war Offizier geworden. Er hatte Wein im Kopf, aber nicht so viel, daß er nicht dem großen Augenblick gewachsen gewesen wäre. Strahlend und beinahe ungläubig über die eigene Wandlung stand er, zum erstenmal unter seinesgleichen, bei allen Glückwünschen unwillkürlich stramm, sich immer noch als Untergebener fühlend, und die neuen Kameraden, die jüngsten Offiziere, die ihm das Du anboten, mit »Herr Leutnant« anredend. Mit seinen Epauletten, die daheim in seiner Kasernenstube schon samt Waffenrock und Schärpe seit Tagen, des großen Augenblicks harrend, bereit lagen, war das Militärwochenblatt, soweit es das Infanterieregiment Burggraf betraf, erschöpft. Der lange Adjutant hatte sich wieder auf die Musikestrade geschwungen. Er kommandierte einen Tusch. Dreimal rauschte es auf.[S. 17] Ein Hurra hinterher. Zehn, zwölf Leutnantsarme hatten den Major Rumpach erfaßt, auf die Schultern gehoben und trugen ihn im Triumph durch den Saal. Der Riese saß da oben etwas ungemütlich, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel und strampelte nur einmal, mit seinem Kellerbaß die Musik übertönend: »Donnerwetter, Kinder ... ihr zwickt mich ja in den Hintern!«

Der Leutnant Freiherr von Baldring trank inzwischen immer noch, etwas unsicher auf den Beinen, mit verschlungenem Arm aus Sektkelchen Brüderschaft. Im Saal flammte das elektrische Licht auf. Denn draußen brach schon in leichtem Schneegestöber der frühe trübe Winterabend herein. Die Stühle wurden zur Seite gerückt. Man wollte walzen. Der Leutnant von Solkowski chassierte schon für sich, mit den Fingern wie mit Kastagnetten schnippend, über das glatte, an einzelnen Stellen vom Wasser aus den Eiskübeln dunkle Parkett. Ein paar der jüngsten Leutnants und die Junker banden sich weiße Taschentücher um den Arm, als Zeichen, daß sie als Damen tanzten. Oben auf der Estrade gab der Stabshoboist Schickedorn, dienstlich ernst, mit wichtiger Miene das Zeichen zur »Schönen blauen Donau«. Ein kalter Luftzug traf dabei seinen Nacken. Die Glastür, die zur Sommerveranda des Kasinos und hinaus in den verschneiten Garten führte, hatte sich für einen Augenblick geöffnet. Der Hauptmann von Logow war durch sie in das Freie getreten. Er stand draußen in der kalten Dämmerung, barhaupt, im knappen Waffenrock, die Hände in den Taschen, und schaute stumpf vor sich hin ins Weite, in die unbestimmte[S. 18] ferne Lichterhelle der großen Provinzgarnisonsstadt, deren verworrenes Geräusch bis in die Stille des Gartens klang. Sein strenges und ernstes Profil zeichnete sich scharf vom Zwielicht ab. Der Oberst von Ottersleben sah es durch die Fenster des Vorraums, wo er sich eben von dem Oberleutnant Rudicke in den Mantel helfen ließ, um auf einen Sprung nach Hause zu gehen, und meinte kopfschüttelnd zu seinem Adjutanten: »Ein sonderbarer Mensch, der Logow! Da steht er nun wieder! Finden Sie nicht auch, daß er ein bißchen zu reserviert ist, Rudicke?«

Der Adjutant hatte sich seinem Kommandeur angeschlossen und schritt zu seiner Linken die Straße entlang.

»Sehr zurückhaltend, gewiß!« erwiderte er. »Aber trotzdem im Regiment sehr beliebt. Man weiß eben, was in ihm steckt. Na — nun hat er ja das Ziel seines Ehrgeizes erreicht!«

»Ja — das hat er!« wiederholte Herr von Ottersleben sinnend. Dann ging er eine Weile schweigend dahin. Sie waren jetzt in dem belebtesten Stadtteil. Festliches Menschengewimmel um sie, illuminierte Schauläden, die Häuser bunt von Fahnen, die Straßen farbig von Uniformen aller Truppenteile, Dragoner, Feldartilleristen, Pioniere, Trainsoldaten der großen Garnison. Der Oberst von Ottersleben hatte fortwährend den weißbehandschuhten Zeigefinger an den Helm zu legen. Von den vorbeikommenden Infanteristen machte jeder zweite als Angehöriger des Infanterieregiments Burggraf von Nürnberg Nummer 188 in jähem Zusammenfahren vor ihm Front. Im großen[S. 19] Festsaal des Hotels zum ›König von Preußen‹ auf dem Marktplatz waren die Fenster glänzend hell. Innen sah es aus wie im Kasino. Sechzig, siebzig Offiziere saßen da in Wehr und Waffen an langer Tafel. Aber es waren die Uniformen aller möglichen Regimenter durcheinander. Die Herren des Beurlaubtenstandes feierten da unter dem Vorsitz des Bezirkskommandeurs Kaisers Geburtstag, und auf der anderen Seite des Gebäudes, in einem Nebensaal, verrieten dicht vorgezogene Vorhänge, würdevolle Ruhe, ein Schwarm von Kellnern und Ordonnanzen den Raum, in dem die Generalität, nur wenige Köpfe stark, tafelte.

Während so die ganze Garnison den höchsten Festtag der Armee beging, hatte Frau Oberst von Ottersleben ihrerseits die Damen des Regiments Burggraf um sich versammelt, nicht, wie es früher ausschließlicher Brauch, nur zu einem großen Nachmittagstee, sondern zu einem richtigen Festessen, einem Diner, bei dem das männliche Element lediglich durch die aufwartenden Burschen vertreten war. Die Räume ihrer Dienstwohnung waren groß genug für die Erschienenen — die Majorinnen, fast ein Dutzend Hauptmanns-, ein gutes Dutzend Leutnantsfrauen, die drei Töchter des Hauses und ein paar andere junge Mädchen. Den Damen hatte das Ungewohnte eines Diners ohne Herren Spaß gemacht und als Ausnahme die Stimmung angeregt. Sie hatten in langen Reihen gesessen und gelacht und getafelt, ganz wie ihre Herren drüben im Kasino, und auch wie jene für ihre Verhältnisse ganz munter Sekt getrunken. Zum Schluß war noch eine besondere Überraschung erschienen: eine große Eisbombe, auf der in[S. 20] rosafarbener Masse ein Miniaturstandbild des Kaisers prangte. Frau von Ottersleben war aufgestanden. Mit ihr alle ihre Gäste. Sie hob das Glas und sagte mit lauter Stimme: »Meine Damen! Seine Majestät der Kaiser und König — er lebe hoch!«

»Hoch! ... Hoch! ... Hoch!« Es folgte kein Orchestertusch hinterher. Aber im Innern der Bombe begann plötzlich eine dort verborgene Musikuhr zu spielen:

»Heil Dir im Siegerkranz ...«

und klang in feinen silbernen Tönen weiter, während das Eis die Runde um den Tisch machte, und die blonde Frau Leutnant Griller, die einen hübschen Sopran besaß, sang hellauf mit und die anderen schlossen sich an:

»Heil Dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands —
Heil Kaiser Dir!«

Nun wurde der Kaffee eingenommen. Die Damen saßen in den Zimmern verteilt. Im Salon, um das Sofaarrangement herum, Frau von Ottersleben in ihrem schwarzen Spitzenkleid mit den Stabsoffiziersgattinnen und den anderen gesetzteren Gästen, trotz ihrer Mitte der Vierzig schlank und straff wie ihre hochgewachsenen beiden ältesten Töchter — die Jüngste, die Braut, war im Emporschießen stecken geblieben und kleiner und rundlicher geraten — die Hände im Schoß zusammengelegt, ein müdes und leidendes, aber verbindliches Lächeln auf den etwas spitzen, distinguierten Zügen. Die Leutnantsfrauen waren da und dort in Gruppen beisammen und plauderten.

Im letzten Zimmer hatten sich die jungen Mädchen[S. 21] zusammengehockt und schwatzten und kicherten durcheinander. Ein feiner Zigarettendampf schwebte über den blonden, braunen, dunklen Köpfen. Die farbigen Kleider raschelten. Es war zu komisch — eine Gesellschaft ohne Leutnants. Man konnte sich die Welt schwer ohne Leutnants vorstellen. Wie von selbst bildete Ulla, die älteste der drei Töchter des Hauses, den Mittelpunkt. Sie war es immer, in jeder Gesellschaft, als die anerkannte Schönheit der Garnison. Schon seit drei Wintern oder vier, wenn man den einen dazwischen nicht rechnete, den sie, ihrer angegriffenen Brust wegen, in einem Höhenkurort des Schwarzwalds verlebt hatte. Sie besaß jetzt noch, im Verhältnis zu ihrer hohen, weißgekleideten Gestalt, sehr schmale Schultern und hielt sich nicht ganz aufrecht. Sie war brünetter als die anderen. Ihr klassisch schönes, ovales Gesicht mit den großen, dunklen Augen zeigte ein eigentümliches alabasternes Weiß, wie die Blutleere einer griechischen Statue. Auch in ihren Bewegungen war eine plastische Ruhe — eine monumentale Gleichgültigkeit — halb bewußt das Gefühl der Überlegenheit über die anderen — halb das Abgetanztsein einer Ballkönigin. Sie sprach nicht viel und sah leer vor sich hin. Sie langweilte sich unter den jungen Mädchen. Sie hatte sich mit denen wenig zu sagen. Sie wurde erst lebendig, wenn Herren da waren — Leutnants in ihre Nähe kamen.

In einer Ecke dieses Zimmers war das Telephon und klingelte plötzlich los. Von den dienstbaren Geistern war niemand in der Nähe. Dorle, die Jüngste, lief selbst an den Apparat. Sie war ein resoluter kleiner[S. 22] Kerl — rund, blond und mollig, in ihrem rosa Fähnchen, einer Art Kimono mit viereckigem Halsausschnitt und kurzen Ärmeln. Sie horchte und schrie dann plötzlich: »Hurra ... Mama, komm mal her — sie telephonieren aus dem Kasino ...: Papa hat den Roten Adler dritter Güte gekriegt!«

»Dorle ... was ist das wieder für ein burschikoser Ausdruck ... Du bist doch Braut ...« Ihre Mutter kam nicht weiter. Sie mußte die Glückwünsche der Damen in Empfang nehmen. Die Kleine kümmerte sich auch nicht viel um den Wischer. Sie lauschte wieder am Hörrohr und sagte dann mit erkünstelter Ruhe: »Du ... Maxe ...! ... Das betrifft dich! Wie? Bitte? ... Ich hab' nicht recht verstanden ...«

Dabei drückte sie ihrer mittleren Schwester Maximiliane halb mit Gewalt die Hörmuschel gegen das Ohr und stellte sich lauernd seitwärts. Gleich darauf trat jene stumm, unwillig den Kopf in den Nacken werfend, fast erschrocken einen Schritt zurück und hängte das Rohr an den Haken, und Dorle Ottersleben verkündete triumphierend den anderen: »Logow ist nämlich Hauptmann im Großen Generalstab geworden! Höllendusel ... Was?«

Einige der jungen Mädchen lachten vielsagend. Ein paar, die der Familie fremder waren, machten harmlose Gesichter, als wüßten sie von nichts. Alle Blicke waren auf Maximiliane von Ottersleben gerichtet, die anscheinend gleichgültig dastand. Sie war hoch und schlank wie ihre älteste Schwester, die Schönheit. Sie ähnelte ihr auch. Sie war ihr Gegenstück in Hellblond und mit blauen Augen. Aber neben deren reifer, beinahe[S. 23] frauenhafter Blüte kam sie nicht recht zur Geltung. Sie verblaßte, weil sie noch nicht voll entwickelt war. Sie war noch zu mager aufgeschossen, in den plissierten Fältchen ihres hellblauen Kleides. Ihr schmales Gesicht zeigte einen herben, unregelmäßigen Reiz, so als hatten sich ihre Züge noch nicht zu ihrem eigentlichen Ausdruck zusammengefunden und belebt. Sie war zweiundzwanzig. Aber sie sah jünger aus als Dorle, die Kleinste, die in ihrer Art schon ganz mit dem Leben und für das Leben fertig war. Sie blickte auf die lachenden, rotbäckigen Mädchengesichter um sie her, und ihre Wangen zeigten keine Spur einer verräterischen Färbung, während sie frostig sagte: »Was wollt ihr denn eigentlich? Was geht denn das bloß mich an, möcht' ich nur wissen!«

Dabei zuckte sie verächtlich die Achseln in einer instinktiven Scheu, daß man ihr zu nahe treten könne. Die Mädchen schwiegen und tauschten vielsagende Blicke, und Dorle rang die Hände.

»Nun tut sie doch, weiß Gott, als ob sie aus dem Mond käme!«

Dann verstummte auch sie, auf einen strengen Blick ihrer Mutter, die sich eilig nach dem Salon zuwandte. Die älteren Damen wollten sich verabschieden. Die übrigen folgten ihrem Beispiel. Es gab ein Stimmengewirr auf Flur und Treppe, ein Mäntelsuchen und Wagenholen. Dienstmädchen und Burschen liefen auf und ab. Das ganze Haus war in Bewegung.

Und unterdessen lag Maxe von Ottersleben einsam in ihrem stillen dunklen Mädchenstübchen vor ihrem Bett auf den Knien und preßte die Stirne in das[S. 24] kühle Leinen. Das Fenster ihres Kämmerchens stand trotz der Kälte offen. Es ging auf eine kleine Hintergasse hinaus. Die lag leer und schwarz. Über ihr flimmerten durch die vom Schneetreiben geklärte Luft winterhell die Sterne. Unten schlürften Soldaten vorbei. Zwei, drei. Sie hielten sich bierselig untergefaßt und sangen halblaut, klagend, langgezogen:

»Was nützet mi—i—ich ein schöner Ga—a—arten,
Wenn Andre drin spazieren gehen?
Und pflücken mir die Blümlein ab ...«

Sie bogen um die Ecke. Es verhallte in der Ferne:

»... und pflücken mir die Blümlein ab ...«

Maximiliane hatte sich erhoben. Sie trat an das Fenster. Sie hielt die Hände verschlungen. Ihr blasses Antlitz trug einen andächtigen Schein. Sie blickte zu der schweigenden Sternenpracht hinauf. Sie betete stumm im Herzen. »Er kommt weg von hier! Jetzt muß es sich entscheiden ... Das Warten hat ein Ende! Vater im Himmel! Gib mir den Mann, den ich liebe! Laß ihn nicht von mir gehen! Führ' ihn zu mir! Er wird nie wieder eine Frau finden, die ihn so liebt wie ich. Ich lieb' ihn, seit ich ihn gesehen hab'! ... Ich werde nie einen anderen lieben! ... Mein Leben ist er! ... Gib, daß auch ich sein Leben werde ... Ich bitte dich, Vater im Himmel ...«

Es klopfte an ihre verriegelte Tür. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter: »Maxe ... wo steckst du denn?«

Sie öffnete und stand ruhig im Licht des Flurs auf der Schwelle. So sagte sie in der schroffen und launischen Art, die sie oft den Ihrigen gegenüber hatte:[S. 25] »Herrgott, Mama ... kann man denn keinen Augenblick allein sein?«

»Papa ist eben gekommen! ... Wir freuen uns alle so über den Orden! Du allein bist wieder Gott weiß wo!«

»Ich komm' gleich hinüber!« sagte das junge Mädchen und schloß die Tür. Und Frau von Ottersleben kehrte zu ihrem Mann zurück.

Der hatte es sich im Salon in einem Fauteuil bequem gemacht und behaglich die Beine ausgestreckt. Es war niemand außer ihm und seiner Frau da. Er gähnte verstohlen hinter der vorgehaltenen Hand. Er war ein bißchen müde. Kaisers Geburtstag war ein anstrengender Tag. Gottesdienst, Regimentsappell, Mannschaftsessen in der Kaserne mit Schweinebraten, Klößen und Backpflaumen und leutseligen Fragen des Regimentskommandeurs auf seinem Rundgang von Stube zu Stube, dann das Liebesmahl im Kasino, nun noch abends die Kompaniefeste, in die er als gewissenhafter Vorgesetzter auch noch im Vorübergehen hineinschauen wollte — er hatte trotz des Roten Adlerordens auf einmal wieder die Stimmung: Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter! und fing sein altes Thema an: ein, zwei Jahre ginge es noch mit dem Reiten, aber dann ... vor der Brigade ... Frau von Ottersleben unterbrach ihn. Sie saß ihm aufrecht gegenüber und sah ihn prüfend an.

»Thilo ...«

»Ja, Mallchen?«

»Wie denkst du dir denn nun, daß das mit Logow wird?«

[S. 26]

Ihr Gatte machte eine ungeduldige Bewegung.

»Meine Beste ... ich stecke nicht in seiner Haut! Der Mensch ist zugeknöpft bis unters Kinn! Ich weiß nicht, was er vorhat!«

»Aber nachdem er nun die längste Zeit wie das Kind im Hause hier verkehrt hat ...«

Der Oberst erhob sich und schloß die vier mittleren Knöpfe seines Waffenrocks, die er der Behaglichkeit halber geöffnet hatte. Er sah auf die Uhr.

»Ich habe hier kein Heiratsvermittlungsinstitut!« versetzte er ärgerlich. »Ich hab' den Logow in meine Nähe gezogen, weil er weitaus der befähigtste Offizier des Regiments ist — überhaupt einer der befähigtsten Menschen, die mir in meiner fünfunddreißigjährigen Dienstzeit vorgekommen sind. Solche Elemente zu fördern, ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit als Oberst!«

»Thilo ... du bist nicht nur Oberst! ...« sagte Frau von Ottersleben in ihrer leidenden Bestimmtheit. »Du bist auch Vater und weißt so gut wie ich, daß es ein Geschenk des Himmels ist, daß unsere Töchter heiratsfähig sind, solange wir gerade das Regiment haben. Aber diese Zeit muß man nutzen!«

Ihr Mann zuckte die Achseln. Er war allerdings zu sehr Familienhaupt, mit wenig Vermögen und fünf Kindern, um sich dieser Erwägung zu verschließen. Dann wurde er gereizt: »Ich kann den Logow doch nicht am Kragen heranholen! Ich denke mir ja natürlich mein Teil und ich nehme an, er auch. Aber verpflichtet ist er zu nichts! Daß die Maxe bis über die Ohren in ihn verschossen ist ... das scheint ja klar, soweit man[S. 27] aus ihrer Verschlossenheit klug wird. Von da bis zu einer Aussprache ist es noch ein weiter Schritt. Den kann nur er tun. Und hat ihn, glaub' ich, noch nicht getan!«

»Nein. Ganz gewiß nicht! Das würde ich bei der Maxe gemerkt haben. Er hält sich merkwürdig zurück.«

»Weil er bisher nur seinen Generalstab im Kopf hatte — ehrgeizig wie er ist! ... Jetzt werden wir ja sehen. Das müssen wir alles ruhig den nächsten Tagen und dem lieben Herrgott überlassen! ... Mische nur du dich nicht hinein. Damit verdirbst du alles! Und nun komm — gib mir 'nen Kuß! Wir wollen uns zu Kaisers Geburtstag nicht zanken! ... Ach ... da sind Sie ja, lieber Rudicke! Zu Hause alles wohl gefunden? Na — dann kommen Sie! ... Vorwärts ins Vergnügen! ... Ich bring' heut Flöhe mit nach Hause, Mallchen! Das geht nicht anders!«

Die Kompaniefeste wurden an verschiedenen Stellen der Stadt in Wirtschaften und Brauereien gefeiert. Der Oberst und sein Adjutant betraten zuerst durch einen halbdunklen, schmutzigen, mit Schneewasserpfützen erfüllten Hof den Saal zur ›Krone‹. Drinnen war es gedrängt voll — Musketiere, Dienstmädchen, Ladnerinnen, Unteroffiziere, Bürgertöchter durcheinander, ein Gelächter und Gekreisch, rote Gesichter, Menschengeruch, Bierdunst, Tabakqualm. Am anderen Ende das Gefiedel der Musik, hinten das Podium für die große Gala-Elite-Vorstellung der dritten Kompanie, die der jüngste Leutnant seit Wochen eingeübt: Erst ein lebendes Bild — die Büste des Kaisers, davor der Einjährige Korn in einem weißen Frisiermantel seiner[S. 28] Schwester, in Blechrüstzeug aus der Büchsenmacherwerkstatt und in einer strohblonden Perücke als Germania, dann ein Schwank der anderen Einjährigen: ›Ein Viertelstündchen auf der Wache‹ — weiter dann das Auftreten des Kompaniekomikers, eines Berliner Jungen, als Coupletsänger. Jetzt eben die große Produktion der Akrobatengruppe Hopserini, neun Mann hoch, in etwas verschwitzten, von einem Athletenklub ausgeborgten Trikots. In drei Gliedern übereinander stehend bildeten sie eine Pyramide — tosender Jubel scholl unten — zwischendurch eine schneidende hohe Kommandostimme: »Famos, Jungens! Das müßt ihr uns noch mal vormachen! ... Ganz famos!«

Ein hochgewachsener, überschlanker Offizier stand da, die Hände in den Paletottaschen, die Mütze ein bißchen schief auf dem linken Ohr, darunter kurzes, hellblondes Haar. Man hätte ihn von hinten für einen Leutnant halten können. Aber als er sich jetzt umwandte, leuchteten die breiten, scharlachroten Klappen des Generals auf seinem Mantel, und aus dem mit goldenem Lorbeer und Eichenlaub gestickten Halskragen hingen die hohen Orden zweiter Klasse eines Würdenträgers der Armee. Er lachte verwegen unter seinem kurzgeschnittenen blonden Schnurrbart, seine feurigen blauen Augen, die ein kaum merklicher Kranz ganz feiner Fältchen umrahmte, lachten mit. Er wies auf die Truppe: »Schauen Sie sich mal Ihre Jungens an, Herr Oberst! ... Fix wie die Deibels! ... Kinder, ihr könnt euch noch im Zirkus Renz euer Brot verdienen! Bravo! Bravo!«

Er klatschte lebhaft in die Hände und schenkte den[S. 29] atemlos mit dem kleinen Finger an der Trikotnaht vor ihm stillstehenden Künstlern erst jedem eine Zigarre, dann allen zusammen ein Zehnmarkstück. Die Akrobaten strahlten, die Kompanie strahlte, die Dienstmädchen und Ladenfräulein strahlten mit. Der Generalmajor Olaf von Glümke war überall in seiner Dienstzeit der Abgott der Mannschaft gewesen, in Berlin, wo er einen großen Teil seiner Laufbahn in der Garde verbracht, wie jetzt als Brigadekommandeur in der Provinz, obwohl er als solcher kaum mit den Leuten in Berührung kam. Aber er gehörte zu ihnen. Es ging ein Fluidum von ihm aus. Er stand so selbstverständlich da, zwischen den Musketieren und ihren Schätzen, als könnte das Fest der dritten Kompanie ohne ihn gar nicht stattfinden.

»Da ist doch noch Leben!« sagte er befriedigt zu dem Oberst, seinem Untergebenen. »Leben gehört in die Bude! ... Das andere findet sich dann von selbst.«

»Es freut mich, daß Herr General mit dem Geist der Leute zufrieden sind!« erwiderte Herr von Ottersleben, halb dienstlich. Sein Grundsatz war: Schießen — schießen und wieder schießen! Sie waren beide ausgezeichnete Soldaten, jeder in seiner Art. Sie zogen an zwei verschiedenen Strängen. Herr von Glümke lachte.

»Hier hör' ich doch wenigstens nichts mehr vom Zukunftskrieg mit Rußland!« sagte er vertraulich. »Den halben Abend hat die Generalität im ›König von Preußen‹ das Problem gelöst. Aber an Kaisers Geburtstag ist mir's wurscht, wann die Rokitnosümpfe zufrieren! Da will ich Mensch sein! ... Puh ...[S. 30] stinkt das hier! ... Adieu, Kinder! ... Tanzt feste! ... Adieu! Adieu!«

Er wandte sich an den Regimentskommandeur, der ihn bis zum Saalausgang begleitete: »Sie haben's gut, lieber Ottersleben! Sie kehren von dem Volksfest hier heim zu Weib und Kind! Ich armer Junggeselle muß mir nu eigenhändig im Stall meinen Gaul satteln und noch ein Stündchen spazieren traben!«

General von Glümke stammte aus der Infanterie. Aber er war immer Adjutant und leidenschaftlich im Sattel gewesen. Er ritt stets nur fünf- und sechsjährige Pferde, ausgezeichnet, aber mehr noch keck als kunstvoll. Solch ein Galopp im Mondschein über den Schnee war bei ihm nichts Ungewöhnliches. Es war immer, als hätte er eine Sprungfeder im Leib — so elastisch eilte er auch jetzt mit langen Schritten wie ein ganz junger Offizier die Straße hinab. Oberst von Ottersleben sah ihm schweigend nach. Fast mit einem leisen Neid. Der dort drüben jagte auf halbrohen Gäulen über Stock und Stein. Und er ... ja, er hatte nun einmal seinen Knacks beim Reiten ...

»Kommen Sie, Rudicke!« sagte er halb seufzend zu seinem Begleiter. »Wir wollen nun auch weiter!«

Es war immer dasselbe Bild — drei-, viermal hintereinander. Als sie in den Saal der fünften Kompanie traten, hatte man eben angefangen zu tanzen. Der kleine stämmige Hauptmann Neugereuth eröffnete die Ehrenrunde mit der Feldwebelin, Frau Neugereuth mit deren Mann, der streng dienstlich und ernst, der hohen Auszeichnung sich bewußt, seinen blütenweißen Handschuh Nummer achteinhalb um ihre schlanke Taille[S. 31] legte, die Leutnants walzten, mit wem es ihnen gerade gefiel. Die Musketiere, die untereinander eifersüchtig waren wie die Tiger, strahlten vor Genugtuung, wenn einer der Herren ihre errötende Sonntagnachmittagbekanntschaft zum Tanz aufforderte. Auch Erich von Logow war da und tanzte mit seiner gewohnten gelassenen Ruhe, erst mit der Frau des Vizefeldwebels, dann mit der eines Sergeanten, und schwatzte dabei mit ihnen Unsinn, daß sie beide laut lachen mußten. Ihm war das heute Dienst und Pflicht, wie morgen irgend etwas anderes. Sein Oberst hatte ihn beobachtet und scherzte, als jener glücklich die rundliche Sergeantengattin wieder vor ihrem Stuhl gelandet: »Na — noch so eifrig, Hauptmann von Logow? Sie hätten es eigentlich gar nicht mehr nötig! Sie gehören ja nicht mehr zu uns!«

»So rasch fühle ich mich dem Regiment nicht fremd, Herr Oberst!«

»Das wollen wir hoffen! ... Am ersten Februar melden Sie sich wohl in Berlin?«

»Zu Befehl, Herr Oberst!«

»Grüßen Sie mir dort, wen Sie an Bekannten sehen! ... Und ...« Herr von Ottersleben wollte fortfahren: ›Lassen Sie einmal etwas von sich hören!‹ aber er brachte es nicht heraus. Er dachte an das, was er vorhin seiner Frau gesagt. Er wollte um keinen Preis dem jungen Mann da vor ihm irgendeinen Wink zukommen lassen, daß er ihm als Schwiegersohn willkommen war. Er vergab seiner Würde nichts.

Aber sonderbar: Erich von Logow wurde plötzlich rot. Man sah es ganz deutlich — unter den Schläfenhaaren[S. 32] — auf den Wangen. Er stockte und sagte dann unsicher: »Ich möchte Herrn Oberst gern etwas fragen ...«

»Bitte!«

»Nein. Nicht hier!« Der junge Hauptmann hatte etwas in der Kehle. Er schluckte es hinunter und fuhr entschlossener fort: »Würden Herr Oberst die Güte haben, mir eine Stunde zu bestimmen, wo ich Herrn Oberst in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit — ich darf wohl sagen, der wichtigsten, die es für mich gibt — in seiner Wohnung sprechen kann?«

Das entscheidende Wort war gefallen. Das war die Ankündigung der Werbung. Die beiden Männer blickten sich einen Augenblick stumm an. Dem Oberst von Ottersleben fiel ein Stein vom Herzen. Aber er ließ sich nichts merken.

»Ich stehe gern zur Verfügung, lieber Logow!« versetzte er. »Also ... Dienst haben Sie ja nicht mehr ... Paßt es Ihnen morgen um zwölf?«

»Zu Befehl!«

»Na — dann auf Wiedersehen!«

»Gute Nacht, Herr Oberst! Bitte gehorsamst, mich den Damen zu empfehlen!«

Es war ein eigener kräftiger Händedruck, mit dem sie sich trennten. Erich von Logow konnte genug daraus entnehmen, um seiner Sache sicher zu sein. Oberst von Ottersleben war sehr zerstreut, während er seinen Rundgang durch den Rest der Kompanien fortsetzte. Er gab ein paarmal ganz verkehrte Antworten auf Bemerkungen seines Adjutanten und eilte sich, zu Ende zu kommen. In die zwölfte Kompanie schaute er nur[S. 33] eben noch hinein, um die kleinen Füsiliere nicht zu kränken. Es drängte ihn nach Hause, damit er dort seine Frau noch wach finden und ihr die Neuigkeit noch mitteilen konnte. Und im Eintreten schon sagte er rasch zu ihr: »Also — die Geschichte ist in Ordnung! Morgen mittag kommt Logow und hält an! Punktum! ... Schluß! ... Streusand drauf! Ich bin doch recht froh, Mallchen!«

Um dieselbe Zeit verließ Erich von Logow das Kompaniefest. Langsam schritt er die Straße entlang. Das Schrillen der Tanzmusik, das Stampfen der Kommißstiefel auf den Dielen, das Gequieke der Mädchen klang ihm noch im Ohr. Er atmete tief die kalte Nachtluft ein. Es war ihm noch wie ein Traum, und kam ihm erst jetzt wieder recht zum Bewußtsein, was ihm drinnen, in Staub, Hitze, Schweiß und Tabakdunst wie durch einen Nebel in die Ferne gerückt erschienen: daß er, der da ging, nun Hauptmann im Großen Generalstab war. Er kam sich selber fremd vor. Er hatte eine ungläubige Achtung vor sich. Er war mit sich zufrieden. Er hielt die Lippen zusammengepreßt und sah vor sich hin, starr in die Nacht hinaus. Das Heute war nur der Anfang. Die erste Sprosse der Leiter. Nun vorwärts! Immer höher empor ... immer höher ...

Er war zu erregt, um schon schlafen zu gehen. Er stand auf dem großen Marktplatz. Überall waren noch Leute, lachten unter den Laternen, sangen, lärmten auf dem Heimweg. Heute war Freinacht. Die Schutzleute sahen und hörten keine Ruhestörung. Zur Linken schimmerten hohe helle Scheiben. Im Bierhaus zur[S. 34] ›Klause‹, in das der junge Hauptmann eintrat, saß alles gedrängt voll von den Honoratioren der Kaisergeburtstagsfeier, wie sie nach Schluß ihrer offiziellen Feste hier wahllos durcheinandergeraten waren: Herren von der Regierung in Dreispitz, Frack und Degen, ein Tisch voll Landadel aus der Umgegend in Attila, Koller und Litewka der Reserve, mit Schmissen bedeckte, bändergeschmückte alte Herren des hohen Kösener S. C., rote Infanterie-, schwarze Artilleriekragen, blaue Dragonerröcke der Garnison. Heute stellte man sich einander nicht vor. Es gab keine preußische Förmlichkeit. Man redete sich einfach an. Man rückte zusammen. Es war wie auf einem Volksfest. Logow ging, einen Platz suchend, durch die Tabakwolken des Mittelgangs. Da rief ihn von einem Seitentisch der lange trübe Oberleutnant Eiser an: »Logow ... Logow ... zum Donnerwetter ... Hören Sie denn nicht? ... Setzen Sie sich mal daher ...«

Dann besann er sich, daß der bisherige Kamerad jetzt Vorgesetzter war, und verbesserte sich: »Verzeihung: wollen Herr Hauptmann vielleicht hier Platz nehmen?«

Logow lachte und zog sich einen Stuhl heran. Der gute Eiser litt an der Oberleutnantsmelancholie. Er saß wie eine Trauerweide da, die Stirne auf die Hand gestützt, in menschenfeindlicher Alkoholstimmung, und fing sofort an zu klagen. Vierzehn Jahre war man nun bei dem Krempel. Und immer dieselbe Geschichte! Und wenn man nun glücklich seine Kompanie bekam — was hieß das: wieder zehn Jahre Kommiß! Denn er, der Oberleutnant Eiser, war nun einmal ein armer Frontproletarier und blieb es ...

Und während Erich von Logow die Klagen des[S. 35] guten Kerls anhörte, der alles, nur kein Kirchenlicht war, der keine glänzende Erscheinung besaß, der keinen alten Namen sein Eigen nannte und nicht genug Vermögen, um zu heiraten, der seine Laufbahn aller menschlichen Voraussicht nach an der Majorsecke beschloß, um dann still in das Dunkel des a. D. hinüberzugleiten, da fühlte er, so grausam es ihm selbst vorkam, in sich einen stählernen Stolz, ein Machtbewußtsein vor dem Schicksal, das ihm, vor tausend anderen, so viel gegeben: den sehnigen Körper, den uralten Adel, genügend Geld für häusliches Glück und vor sich Laufbahn im großen Stil. Und in ihm brannte eine Ungeduld, alles zu fassen ... alles zu erraffen ... sich alles untertan zu machen im Leben ...

Sie hatten gezahlt und waren auf den Platz hinausgetreten. Im Scheine einer Laterne saß da der Zahlmeister Brauske mitten auf dem Bürgersteig, lächelte selig und zufrieden und antwortete dem Oberstleutnant Wahrmund, der sich, auf seinen Säbel gestützt, über ihn beugte: »Ich habe mich hier niedergelassen, Herr Oberstleutnant!«

Der Stabsoffizier stellte den dürftigen kleinen Mann mit Logows Hilfe auf die Beine und klopfte ihm den Schnee von der Sitzfläche und sagte dann im Fortgehen zu dem frischgebackenen Hauptmann: »Na, Sie Moltke der Jüngere ... Werden Sie nur nicht zu gescheit in Berlin!«

Es war Scherz. Aber die Hochachtung klang doch durch — das, was Erich von Logow vor sich selber und in sich selber wie einen Höhenrausch verspürte. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt! Er[S. 36] überquerte mit seinem Gefährten den Platz. Auf der anderen Seite waren in dem Riesensaal der Aktienbrauerei, dem größten der Stadt, die Fenster geöffnet, um den Tabakwolken Abzug zu verschaffen. In bläulichem Rauch, vor schäumendem Bier, saßen da die Kriegervereine, Hunderte und Aberhunderte von Männern aller Stände, an langen Tischen, hohe Generale z. D., Reihen von befrackten, ordengeschmückten Würdenträgern an der Ehrentafel zwischen Handwerkern und Bürgern, und brausend tönte es aus diesen Massen von Männerkehlen hinaus auf den Markt:

»Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt,
Deutschland, Deutschland über Alles,
Über Alles in der Welt ...«

und draußen im Freien rang der hagere elegante Landrat Doktor Graf Harffen in seiner knappen Husarenuniform der Reserve, das Monokel im Auge, förmlich verzweifelt die Hände: »Hören Sie's, Herr von Logow! Da singen sie nun, als könnten sie kein Wässerchen trüben! Und dann bei der Reichstagswahl, hier in der Stadt, siebentausendvierhunderteinundachtzig Stimmen für Schulze von der Sozialdemokratie« — er hatte die Zahl auswendig im Kopf — »und dann kommt erst der Liberale, und dann, 'ne Postkutsche später, erst wir. Ja nu — wann verstellen sich denn die Leute — jetzt oder damals? Oder kriegen sie in ihrer göttlichen Unschuld beides zusammen fertig? Mir ist's zu hoch!«

Er schüttelte bekümmert das scharfe Rassehaupt und zog mit ein paar sporenklirrenden Granden der Provinz und einem Johanniterritter weiter. Logow war mit[S. 37] dem Oberleutnant Eiser stehen geblieben. Um sie war niemand mehr.

Der andere frug plötzlich: »Logow ... wissen Sie auch, wie gut Sie's im Leben haben?«

Der junge Hauptmann war zuerst erstaunt. Dann nickte er: »Ich sag' mir: wenn's einem gut geht, so ist das nicht nur Glück, sondern auch Pflicht. Dann muß man auch was aus sich machen!«

Und in einer plötzlichen Offenheit, die seiner Natur sonst widersprach, setzte er hinzu: »Heute hab' ich so die Idee, es muß mir alles glücken! Was ich will, das kommt zu mir. Man hat so seine große Zeit. Die eine Hälfte hab' ich schon erreicht ...«

»Was wollen Sie denn noch?« meinte der Melancholikus trübe.

Erich von Logow warf den Kopf in den Nacken.

»Morgen krieg' ich's! Man muß nicht immer bescheiden sein! ... Ich geh' jetzt mal aufs Ganze! ... Und nun verzeihen Sie mir mein Gequatsch! Es kam mir nur so über die Lippen! ... Mir ist heut immer, als hätt' ich 'ne Pulle Sekt zu viel getrunken! ... Na ... gute Nacht, lieber Eiser!«

»Nacht, Sie oller Glückspilz! ... Pardon: Gute Nacht, Herr Hauptmann!«

Immer ruhiger wurden die Straßen, die der Hauptmann von Logow heute — zum letztenmal ohne Sporenklirren — durchschritt. Die Lichter in den Wirtschaften erloschen allmählich. Die Nachtschwärmer fanden nach Hause. Gassenweit regte sich nichts mehr als das Spiel des Ostwinds in leise geblähten Fahnen. Die wallten immer noch feierlich wie ein Nachhall des Festes durch[S. 38] das sternenhelle Dämmern. Drüben, am anderen Ende der Stadt, lehnte Maximiliane von Ottersleben in ihrem Stübchen am Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Ihre Mutter hatte sich nicht enthalten können, noch einmal bei ihr anzuklopfen und ihr durch die Tür zuzurufen: »Kind ... eben ist Papa gekommen! ... Logow hat ihn für morgen mittag um eine ganz wichtige Unterredung gebeten. So. Nun weißt du's! Gute Nacht!«

Sie hatte nichts darauf erwidert. Sie brachte kein Wort heraus. Das Übermaß des Glückes machte sie stumm. Sie stand in ihrem weißen Gewand, mit gefalteten Händen, mit gläubigen Augen, andächtig wie eine Braut — harrend auf das Glück, dem diese Nacht sie leise entgegentrug wie im Traum. Es war so ruhig um sie, daß sie das schwere, freudebange Hämmern ihres Herzens hörte. Nichts rührte sich mehr, in den Straßen unten, über den Dächern und Fernen. Kaisers Geburtstag war verrauscht. Still schien der Mond über der schlafenden Stadt.

[S. 39]

2

Trüb brach der nächste Morgen an. In allgemeiner Unlust, aufzustehen, soweit es die königlich preußische Armee betraf. Es war ein Gähnen in den Kasernen, ein Sich-Recken in den Leutnantsbetten. Übernächtigkeit, Katerstimmung. Alltag. Des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr. Freilich nur wenig Dienst. Ein bißchen Griffekloppen. Viel konnte man mit den Herren Offizieren und der Mannschaft heute vormittag doch nicht anfangen.

Erich von Logow war zeitig auf, nach seiner Gewohnheit schon vom Kadettenkorps her, in dem er als Waise, nach dem frühen Tod seiner Eltern, aufgewachsen war. Sein Kopf war klar. Er fühlte sich morgenfrisch und straff wie immer, aber voll einer Unruhe, die er kaum beherrschen konnte und die von Stunde zu Stunde stieg. Die Zeit kroch unerträglich langsam dahin. Ungeduldig schritt er in seiner Wohnung auf und nieder, ein paar spartanisch einfachen Räumen. Er hätte sich mit seinem Gelde üppiger einrichten können. Aber er legte keinen Wert darauf. Er verachtete jede Art von Verweichlichung. Er war auch nie lange hintereinander in seiner Garnison seßhaft gewesen. Militärturnanstalt, Kriegsakademie, ein Jahr lang schon einmal zur Dienstleistung beim Generalstab kommandiert, dann die[S. 40] Brigadeadjutantur — das Infanterieregiment Burggraf war immer nur der Ausgangspunkt und Stützpunkt seiner militärischen Laufbahn gewesen. Nun sagte er ihm ganz Lebewohl.

Es war erst zehn Uhr vormittags. Er wußte nicht, was tun. Er blieb vor dem einzigen Luxus seines Lebens stehen, dem Schrank mit seiner kriegswissenschaftlichen Bibliothek, langen Reihen in Halbfranz gebundener, abgegriffener, innen von Randstrichen und Tinteneintragungen erfüllter deutscher, französischer, russischer Bände, obenauf die Büsten der beiden Kriegsgötter, Napoleons und Friedrichs des Großen. Er dachte sich, wie er es zuweilen tat: ›Wenn die beiden gleichzeitig gelebt hätten und aneinandergeraten wären — Donnerwetter ja!‹ Er nahm ein Buch heraus. Es schien ein Heft der Einzelschriften des Großen Generalstabs zu sein. Ganz klar wurde es ihm nicht. Er stellte es auf seinen Platz und nahm seine Wanderung durch die Zimmer wieder auf. Der Bursche trat ein. Er brachte ihm Überrock und Mantel und grinste. Der Militärschneider hatte heute früh in aller Eile auf den Achselstücken den zweiten Stern, das Zeichen der Hauptmannswürde, befestigt. Erich von Logow fuhr in den Paletot, schnallte den Säbel um und setzte den Helm auf. Er hatte immer noch eine Stunde Zeit. Er wollte lieber solange noch draußen ein wenig auf den Straßen herumgehen. Er schritt an der Kaserne vorbei. Auf Leitern standen Musketiere und nahmen die Tannengirlanden von Kaisers Geburtstag ab. Auf dem kleinen freien Platz davor übte seine alte Kompanie, in Glieder auseinandergezogen. Der[S. 41] kleine dicke Hauptmann Neugereuth leitete den Dienst persönlich.

»Dazu hat man nun drei Herren!« sagte er erbost zu Logow. »Der eine versetzt, der andere auf Jagdurlaub, der dritte so höllenverkatert, daß er nich aus dem Bett findet! Na, der gute Solkowski wird noch ein unangenehmes Viertelstündchen erleben, wenn er wieder so weit Mensch ist.«

Erich von Logow lächelte zerstreut und ging weiter. Er hatte jetzt die Richtung nach dem Otterslebenschen Hause eingeschlagen. Seine Schritte verlangsamten sich unwillkürlich, je näher er kam. So konnte ihn ein junger Artillerieoffizier, der von einer Seitengasse einbog, mit wenigen Sprüngen einholen und schlug ihm von hinten auf die Schulter: »Logow ... Sind Sie auf dem Weg zu uns?«

»Ach ... Sie sind's, Ottersleben ...«

Der junge Hauptmann, dessen neue Gradabzeichen der andere nicht beachtete, schüttelte dem Feldartilleristen kameradschaftlich die Hand. Otto von Ottersleben, der ältere Sohn des Obersten, war ein auffallend hübscher Mensch von dem schlanken, hohen Wuchs seiner Schwestern. Er hatte weiche dunkle Augen. Etwas Einschmeichelndes und Liebenswürdiges in Stimme und Bewegungen. Um das rechte Handgelenk trug er ein silbernes Armband, seine Lackstiefel glänzten im Schnee. Ein feiner Hauch von Kölnischwasser, als Gegenmittel wider den Dunst der Pferdeställe, umwitterte ihn. Er meinte, sich mit der vom Handschuh befreiten Rechten, an deren kleinem Finger der Nagel einen halben Zoll lang gepflegt war, über die Stirne fahrend: »Ich hab'[S. 42] ein bißchen 'nen Brummschädel! ... Aber ich muß anstandshalber mal bei meinem alten Herrn antreten! ... Der Grotjan, der kennt den Weg als Bräutigam ja nu schon auswendig ...«

Sein Begleiter, der Pionierleutnant Hans Grotjan, der nun auch herangetreten war, trug behutsam den allmorgendlichen, in Seidenpapier geschlagenen Blumenstrauß für Dorle Ottersleben, seine Verlobte, in der Hand. Seine freundlichen und treuherzigen Züge leuchteten vor stiller Zufriedenheit. Er war glücklich, die Dorle zu kriegen. Er war mit Dienst und Vorgesetzten einverstanden. Er stand sich gut mit den Kameraden. Er hatte mit niemandem Streit. Seine hellblauen, klaren Augen entdeckten sofort den zweiten Stern auf Logows Achselstücken. Die beiden Leutnants gratulierten dem Hauptmann. Dann setzten alle drei, den neuen Vorgesetzten in die Mitte nehmend, ihren Weg fort, und der Artillerist gähnte: »Na ... ich bin nur froh, wenn ich nun bald hier 'rauskomme! ... mal keine Roßäpfel morgens rieche ... Herrschaften ... Berlin! ... Laßt mich nur erst mal dort sein! Ihr werdet euch wundern! ...«

»Das fürchtet dein Vater auch!«

»Ach, Papa hat ja keinen Schimmer!« meinte der Leutnant von Ottersleben mitleidig.

Logow achtete kaum auf das Gespräch. Er war blaß, als sie jetzt vor der Haustür standen. Aber das fiel heute, an dieser Art von Aschermittwochstag, keinem auf.

Dorle Ottersleben, die oben schon im Flur auf der Lauer gelegen, schleppte auf der Stelle ihren Bräutigam[S. 43] mit sich fort. Sie hatten im Salon ihre eigene ungestörte Verlobungsecke. In der tuschelten und raunten sie stundenlang.

Logow und der Sohn des Hauses begrüßten inzwischen im Wohnzimmer Frau von Ottersleben und ihre älteste Tochter. Maximiliane war nur zum Frühstück für einen Augenblick erschienen, blaß, verträumt, mit einem verlorenen Lächeln, hatte viel weicher und inniger als sonst den Eltern den Morgenkuß gegeben und sich gleich wieder in ihr Stübchen zurückgezogen. Ulla saß, als die beiden eintraten, am Fenster und beugte still den klassischen brünetten Kopf über eine Stickerei. Es war kein Leben in ihr, außer dem regelmäßigen Sticheln der weißen Finger und zuweilen einem leisen Aufhusten. Denn sie hatte sich wieder einmal erkältet und sah angegriffen aus. Dies Blutlose, Statuenhafte hatte sie meist, wenn sie mit sich und den Ihren allein war. Jetzt, bei dem Rasseln der Säbel, dem Klirren der Sporen draußen kam Ausdruck in ihren Blick, Wärme in ihre Wangen, während sie langsam das Haupt hob. Und wenn auch nur ihr Bruder und ein Freund des Hauses eintraten — sie brauchte Männer, auf die sie Eindruck machte. Einen ganz unpersönlichen nur, ganz ohne Nebengedanken. Sie mußte den Reiz ihrer Erscheinung an sich fühlen, um ganz zu werden, was sie war. Dann blühte sie auf einmal auf, wie sie sich jetzt leise lächelnd halb umwandte und den beiden vertraulich zunickte, begriff man, daß sie als das schönste Mädchen galt, das die Garnison seit vielen Jahren gesehen.

Erich von Logow war steif und förmlich vor Aufregung.[S. 44] Er verbeugte sich stumm gegen Frau von Ottersleben, die ihm freundlich die Hand drückte.

»Meinen Glückwunsch zum Hauptmann, Herr von Logow! Mein Mann erwartet Sie! Sie wissen ja den Weg in sein Arbeitszimmer!«

Sich auf der Schwelle von ihm verabschiedend, meinte sie zu ihrem Sohn: »Weißt du, Ottochen ... Eigentlich bist du gerade jetzt hier recht überflüssig. Du wirst später erfahren, warum. Wie wäre es, wenn du noch ein bißchen spazieren gingst?«

»Ich bin schon draußen, Mama!«

Der Leutnant schloß behutsam die Tür hinter sich. Er pfiff dabei durch die Zähne. Er begriff, was vorging. Er hatte es schon lange erwartet. Er mußte lachen, während er die Treppe hinabstieg. Es machte ihm Spaß, daß die Schwestern so abgingen wie warme Semmeln. Es schmeichelte seiner brüderlichen Würde. Komisch nur, daß nun ausgerechnet gerade die Ulla noch übrig blieb, die Älteste, die Schönheit der Familie ...

Zwischen der und ihrer Mutter herrschte, als sie wieder zusammen allein im Zimmer saßen, ein langes Schweigen. Endlich ließ Ulla die Hand mit der Nadel sinken und seufzte vor sich hin: »Ach ja ...«

Es war die Mattheit einer Ballkönigin im fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Dann, als Frau von Ottersleben aufstand und sich ihr näherte, machte sie eine ungebärdige, abwehrende Bewegung.

»Ich bitte dich, Mama, laß mich in Ruhe! Ich weiß alles, was du sagen willst!«

Nach einer Pause, in der sie sich mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt hatte, fügte sie hinzu und nahm[S. 45] dabei ihre Arbeit wieder auf: »Ihr habt immer viel zu viel aus mir gemacht, Mama! Mich herausgeputzt und zur Schau gestellt, als wäre ich Gott weiß was! Nun rächt sich das! Das ist, wie wenn was zu teuer im Ladenfenster steht. Schließlich will's keiner. Die große Partie, die jahrelang in der Luft gelegen hat, ist nichts geworden! Ich bin nicht Gräfin geworden! Er ist fort! Und die anderen trauen sich nicht heran. Alle fürchten sich vor meinen Ansprüchen! Schließlich bleib' ich euch auf dem Hals!«

»Ulla ... sei doch nicht so verbittert!«

»Ja, ein Vergnügen ist's doch nicht, Mama, wenn die jüngeren Schwestern vor einem heiraten! Dadurch wird man viel älter, als man ist! Man gehört bald ganz zum alten Eisen!«

»Gönn doch der Maxe ihr Glück!«

»Ich tu's ja! Ich gönn' ihr ja, was sie mag! Ich will nur auch was für mich haben! Ich wollt', ich wär' so ein kleiner fideler Stöpsel wie 's Dorle! Die finden gleich ihr Publikum. Da wär' ich längst versorgt und aufgehoben, und ihr wärt mich los!«

»Kind — das ist doch nicht dein Ernst!«

Das schöne Mädchen erhob sich und dehnte müde die Arme. Die hohe Gestalt vom weißen Morgenkleid umflossen, stand sie mitten in dem Zimmer.

»Gott ... zum Lachen ist's jedenfalls auch nicht, Mama! Wenn man so denkt: die Maxe, die noch kaum fertig ist — die immer noch Augen macht, als wäre sie gestern auf die Welt gekommen, die kriegt also, was sie will! Und ich ...«

Sie brach ab und sah sich vor dem großen Stehspiegel[S. 46] an und sagte langsam, im Anblick ihrer dunklen, tannenschlanken Schönheit: »Und ich ... ich ... schau mich mal an, Mama ... ich werd' also 'ne alte Jungfer! ... ich hab' so Angst davor ... so gräßlich Angst!
Lieber alles als das!«

»Ulla — nun sei doch ruhig!«

»Lieber Gott! Ich bin's ja!« Sie ließ sich wieder an ihrem Fensterplatz nieder und griff nach der Stickerei. Ihre Hände zitterten, trotz der äußerlichen Teilnahmslosigkeit, die über sie gekommen war. Sie stach sich in den Finger, führte ihn an den Mund und sog mit zusammengepreßten Lippen das Blut. Dabei blickte sie düster vor sich hin, unter der Last einer Schicksalswendung, die sich an ihr vollzog, ohne daß sie sie recht begriff. Frau von Ottersleben sprach auch nicht mehr. Es war still in dem Raum. Aber ferne, über den Gang her, vernahm man aus dem Gemach des Obersten undeutlich den gedämpften Klang von Männerstimmen.

Maximiliane von Ottersleben hatte es in ihrem Stübchen gehört, als Logow draußen auf dem Flur vorbeiging, um sich zu ihrem Vater zu begeben. Sie kannte seinen raschen, gleichmäßigen Schritt. Nun war die Entscheidung da: die große Stunde. Sie fühlte eine Weihe über sich. Sie stand mitten in ihrem Zimmer, das auf die stille, verschneite Hintergasse hinausging, und tat vor sich selber ein Gelübde, den herben Reiz ihrer Züge von einem heiligen Ernst verklärt: »Ich will seiner würdig werden. Er soll es nie bereuen, daß er gekommen ist. Ich geb' ihm Liebe um Liebe! Mehr Liebe, als er ahnen kann. Denn er hat ja noch nie offen mit mir gesprochen. Mehr Liebe, als ich selbst[S. 47] begreife. Ich hätte es nie geglaubt und niemand außer mir weiß es, daß man einen Menschen so lieben kann ...«

Von der Wand ihres Mädchenzimmers lächelte die Sixtina aus weißem Rahmen auf sie hinab. Sie schlang die Hände ineinander. Sie hatte feuchte Augen. Sie fühlte sich wie auf einer Insel voll hellem Sonnenschein, geborgen in Licht und Liebe, und draußen die graue Welt. Plötzlich faßte sie ein Schrecken. Die Angst vor dem Glück. Sie dachte sich, während ihr der Herzschlag stillstand: »Es ist zu viel für mich! Kann denn ein Mensch das tragen?« Dann erfüllte sie eine erlösende Bejahung. Sie hob tapfer lächelnd den Kopf: ›Die Liebe kann's! Die grenzenlose Liebe ...‹

Sie versank in Träumen, in Staunen: ›Woher hat er's nur gemerkt? Ich hab' gedacht, ich hätte mich nie verraten, in der ganzen langen schweren Zeit! Ich hab' meinen Stolz so ängstlich gewahrt. Aber es gibt ein Hellsehen der Herzen. Das ging von mir zu ihm, ohne daß ich es wollte und wußte, und kommt zu mir zurück.‹

Sie fühlte sich fromm und voll Dank und Demut. Sie sagte sich: ›Ich will von jetzt ab gut zu allen Menschen sein und meine Eltern und meine Geschwister noch mehr lieben. Ich will alle meine Fehler ablegen. Ich will das Beste aus mir machen, was ich kann, um seiner wert zu sein ... ich hab' ihn so lieb ... ich hab' ihn so unendlich lieb ... ich weiß nicht, was ich in der Welt anfangen würde ohne ihn ... da wär' ich lieber tot ...‹

Sie ließ sich auf einem Sessel nieder und saß still. Sie hörte die Uhr ticken, manchmal draußen eine Tür[S. 48] gehen, eine Stimme. Sonst war kein Laut im Hause. Niemand kam und störte sie. Ihr war, als hielte alles umher, so wie sie selber, den Atem an, bis dort drüben im Arbeitszimmer des Vaters die Unterredung zwischen ihm und dem Freier zu Ende war.

Dort saß Erich von Logow, straff aufgerichtet, den Säbel zwischen den Knien, den Helm neben sich am Boden, seinem Regimentskommandeur gegenüber. Erst ein paar freundliche Einleitungsworte des Obersten: »Na — gut bekommen, gestern ... lieber Logow?«

»Danke gehorsamst, Herr Oberst!«

»Wann werden wir Sie denn nun abessen? Der Kasinovorstand frug schon bei mir an. Ist's Ihnen recht: übermorgen abend?«

»Wie Herr Oberst befehlen!«

Eine kurze Pause. Dann begann der junge Hauptmann entschlossen, seinem Vorgesetzten dabei fest in die Augen schauend, so als erstatte er einen dienstlichen Bericht: »Herr Oberst hatten die Güte, mich ständig hier im Hause verkehren zu lassen. Ich war Herrn Oberst immer für diese Auszeichnung tief dankbar. Ich hätte es mir nie erlaubt, mir sie in so vollem Maße zu Nutzen zu machen, wie ich es getan hab', wenn dabei nicht noch für mich besondere Umstände mitgesprochen hätten ...«

Er brach einen Augenblick ab, um Atem zu holen, und fuhr fort: »Ich habe es bisher nicht gewagt, mich hierin zu erklären. Man hat sich darüber gewundert. Ich weiß. Ich bin im Kasino damit aufgezogen worden. Ich hab' sogar spaßhafte anonyme Briefe gekriegt.[S. 49] Aber ich hielt meine Zeit noch nicht für gekommen. Ich sagte mir ...«

Plötzlich verließ ihn wieder der Fluß der Rede. Er mußte anhalten und seine Gedanken sammeln. Der Oberst wartete ernst und freundlich und dachte sich dabei ganz verwundert: Herrgott, warum ist der Mensch so aufgeregt! Er weiß doch wahrhaftig, daß er keinen Korb riskiert. Und doch färbte jetzt eine leichte Röte der Befangenheit die wettergebräunten Wangen seines Gegenüber.

»Nämlich, Herr Oberst! Unter meinen vielen Fehlern ist auch der: Ich hab' eine viel zu große Meinung von mir. Ich hab' immer die Idee, mir müßte alles glücken. Der Gedanke an eine Niederlage ist mir gräßlich. Der möchte ich mich auch jetzt nicht aussetzen. Ich möchte — frei gesprochen — nicht einen glatten Korb riskieren. Und deswegen komme ich zuerst, ganz privatim, zu Herrn Oberst! ...«

Herr von Ottersleben lächelte für sich. Eigentlich überschätzte sich der gute Logow wirklich nicht so sehr, wie er sagte. Eher im Gegenteil. Der junge Offizier war jetzt wieder blaß vor Spannung. Er hing an den Lippen seines Kommandeurs, der langsam meinte: »Na — inwieweit Sie Ihrer Sache sicher sind, Herr von Logow, das müssen Sie doch eigentlich besser wissen als ich!«

Der Hauptmann schüttelte hastig den Kopf. Er beugte sich etwas vor und fuhr lebhaft fort, in einem beinahe ängstlichen Vertrauen zu seinem Vorgesetzten.

»Nein, Herr Oberst ... ich weiß es nicht! Ich sage mir selbst, daß Ihr Fräulein Tochter hohe Ansprüche[S. 50] zu stellen vermag, höhere als irgend jemand sonst. Und wieweit ich denen gewachsen bin ... Herr Oberst sagten mir einmal auf dem Heimritt von einer Felddienstübung, Sie würden sich freuen, wenn Ihre Töchter auch einmal alle Offiziere heiraten würden. Herr Oberst haben bei anderen Gelegenheiten gesprächsweise Ihre Freude an so alten preußischen Namen ausgedrückt, wie sie Herr Oberst und ich tragen. Diese Voraussetzungen kann ich also erfüllen. Ich habe auch genug Vermögen, mehr als verlangt wird. Ich würde Herrn Oberst hierüber meinen Bankauszug vorlegen ... Aber das alles will ja noch wenig besagen ...«

»Na — was denn noch?« dachte sich Herr von Ottersleben verblüfft. Der Freier wurde ihm schon beinahe ein Rätsel.

Erich von Logow hub wieder an: »Ich gab mir selbst zu: Wenn ich so als simpler Leutnant eines Linienregiments in der Provinz antrete ... Ihr Fräulein Tochter kann wirklich mehr vom Leben erwarten. Das war, neben meinem dienstlichen Ehrgeiz, der Grund, weswegen ich so hartnäckig auf den Generalstab losarbeitete und bis dahin nicht rechts und nicht links schaute. Seit gestern abend hab' ich es nun erreicht. Ich bin Hauptmann und ich bin im Generalstab und werde alles daransetzen, mich dauernd in der Generalstabskarriere zu halten. Dadurch eröffne ich auch meiner künftigen Frau die Aussicht auf einen ganz anderen äußeren Verlauf ihres Lebens — Berlin und sonstige ganz große Garnisonen, der ständige Verkehr mit hohen Vorgesetzten, die reiche Geselligkeit überhaupt ... die Möglichkeit, seiner Frau einmal hohen Rang und Titel[S. 51] zu verschaffen ... Verzeihen Herr Oberst, wenn ich da im Eifer unbescheiden von mir rede ...«

»Na, das weiß ich doch alles selber, lieber Logow ...«

»Und glauben Herr Oberst, daß ich ... daß ich daraus mir das Recht herleiten darf, die Frage zu stellen, die ...«

Der Hauptmann von Logow war jetzt so aufgeregt, daß er, gegen seine sonstige selbstbeherrschte Art, stotterte und stockte.

Der Oberst nickte ihm begütigend zu. »Na — nun schon mal 'raus mit der Sprache, Logow! Herrgott ja — wir sind doch hier unter uns Männern ...«

»Ich darf reden, Herr Oberst?«

»Gewiß!«

Erich von Logow gab sich einen Ruck und sagte schweratmend: »Dann möchte ich hiermit Herrn Oberst ganz gehorsamst um die Hand Ihrer Fräulein Tochter Ulla bitten!«

Herr von Ottersleben traute seinen Ohren nicht. Er hätte beinahe in seiner Überraschung gefragt: ›Wie? Haben Sie sich nicht versprochen?‹ Aber er biß sich noch im rechten Augenblick auf den Schnurrbart und wiederholte, ohne daß man seinem feinen und klugen, ein wenig kränklichen Gesicht etwas anmerkte: »Um die Hand meiner Tochter Ulla?«

»Zu Befehl!«

Erich von Logow schien verwundert, daß man den Namen noch erst zu nennen brauchte. Das mußte, nach seiner Meinung, längst ein offenkundiges Familiengeheimnis sein, wem seine Werbung galt, wenn er auch sich nie mit einem Wort verraten hatte, das ihm bis[S. 52] gestern gegenüber dem schönsten Mädchen der Garnison, der verwöhnten, vielgefeierten Ballkönigin, der überall in der Provinz, im ganzen Armeekorps bekannten Ulla Ottersleben als Vermessenheit erschienen wäre. Er war froh, daß es nun glücklich heraus war. Sein Gesichtsausdruck war dienstlich steinern, während er dasaß und auf Antwort wartete. Der Oberst erhob sich. Er war noch immer wie vor den Kopf geschlagen.

»Schön, Herr von Logow! Ich danke für Ihr Vertrauen! Und nun verzeihen Sie, bitte, einen Augenblick. Sie begreifen: Ich will vor allem jetzt einmal mit meiner Frau reden!«

Er ging rasch über den Flur. Unterwegs wurde er zornig. Als er in das Wohnzimmer trat, in dem Frau von Ottersleben allein saß, polterte er los: »Das kommt davon, wenn man vier Frauenzimmer im Haus hat! Ganz verrückt macht ihr einen mit eurem Geschwatz! Weißt du, wen der Logow will: die Ulla!«

»Was?«

»Die Ul—la!« wiederholte der Oberst mit scharfer Betonung. »Was sagst du nun?«

Frau von Ottersleben legte die Hände im Schoß zusammen.

»Thilo ... ich glaube, du träumst!«

»Nee, meine Liebe, ihr habt geträumt! ... Ihr habt mir das in den Kopf gesetzt ... Ihr habt womöglich auch der Maxe das eingeredet ...«

»Thilo ... Maxe etwas einreden! ... Du weißt doch, wie verschlossen sie ist! Man ist bei ihr immer nur auf Mutmaßungen angewiesen. Wenn ich mich da getäuscht haben sollte ...«

[S. 53]

»Aber gründlich, mein bestes Mallchen! Das Mädel kommt gar nicht in Frage! Macht sich wahrscheinlich auch gar nichts aus dem Logow! Sonst müßte er doch was gemerkt haben! Das war alles eitel Hirngespinst!«

Die beiden Gatten schwiegen. Frau von Ottersleben schüttelte ratlos den Kopf. Ihr Mann hub an.

»Das ist wieder ein Beweis, daß wir Eltern alle von unseren Töchtern ungefähr so viel wissen, wie ich vom Kaiser in China! Die haben ihre Geheimnisse für sich. Die beißen sich lieber die Zunge ab, ehe sie uns was verraten! Ich bin mir eben förmlich dumm vorgekommen gegenüber dem Logow. Drüben lauert er nun! Zu lange können wir ihn nicht warten lassen! Sonst dämmert's ihm doch, daß hier etwas nicht ganz in Ordnung ist!«

»Bitte ihn, nachmittags wiederzukommen, Thilo! Das ist das beste! Wir müssen doch jedenfalls jetzt erst ein paar Stunden für uns haben!«

Erich von Logow war auch gar nicht überrascht, als ihn sein Oberst, in das Zimmer zurückkehrend, auf drei Uhr wieder herbat.

»Ich denke, es ist in Ihrem Sinn, lieber Logow! Wir sprechen unterdessen mit unserer Tochter Ulla! Sie finden sie vorbereitet ... wenn das noch nötig sein sollte. Sie sagen ja, Sie hätten sich ihr selbst gegenüber noch in keiner Weise eröffnet ...«

»Nein, Herr Oberst! Aber ich bin trotzdem überzeugt, daß Fräulein Ulla seit langem über meine Gefühle nicht im unklaren ist. Es kommt ihr gewiß nicht überraschend!«

»So ... so!« versetzte Herr von Ottersleben. Er[S. 54] machte ein zweifelndes Gesicht, während er seinen Besucher hinausgeleitete. Mochte sich der Kuckuck auskennen mit den drei Mariellen! Er furchte gedankenvoll die Stirne, fuhr sich mit der Rechten an den Kragen, um sich Luft zu machen, und schritt energisch und sporenklirrend hinüber in den Wohnraum.

Dort war jetzt auch Ulla. Ihre Mutter hatte sie gerufen. Sie hatte ihr bereits gesagt, um was es sich handelte. Es war unmöglich, zu erkennen, welchen Eindruck das auf sie machte. Sie stand schweigend, in ihrer statuenhaften Schönheit, mitten im Zimmer. Ihr Vater sah das blasse, an eine griechische Gemme erinnernde Profil mit den langen Wimpern und dem schweren, unbekümmert um die Mode, nach antiker Art im Nacken lastenden Haarknoten, den edlen Linien ihrer hohen Gestalt, und dachte sich: Ein Wunder ist's ja schließlich nicht, daß die dem guten Logow in die Augen gestochen hat. Die Maxe kommt ja nicht gegen sie auf! ...

Er wartete und wunderte sich über ihre Ruhe. Endlich meinte er nur: »Na ... nu sag mal ...«

Ulla Ottersleben erwiderte nichts. Sie zuckte nur die Schultern, mit einer eigentümlichen, etwas gereizten Bewegung, aus der man allerhand entnehmen konnte.

Der Oberst forschte gedämpft: »Hast du dir denn das ahnen lassen?«

Die dunkle Schönheit ihm gegenüber hielt gleichmütig seinen Blick aus. Sie legte das Haupt leicht in den Nacken.

»Komisch, daß ihr euch so darüber wundert!« sagte sie endlich. »Warum soll denn nicht schließlich auch jemand zu mir kommen? Er ist doch wahrhaftig der erste nicht. Aber ihr denkt immer, ich sei schon ganz[S. 55] passée! ... Bloß, weil Mama mich immer aufgestachelt hat, für nichts und wieder nichts auf eine Riesenpartie zu warten ...«

»Also hast du's gewußt?«

»Gott ... gewußt ... Gedacht hab' ich mir schon im stillen oft mein Teil ... aber ihr habt einen ja ganz konfus gemacht ... immer die Maxe ... ewig die Maxe ... Schließlich wurd' ich selber an mir irre und wußt' nicht mehr, woran ich war ...«

»Aber gesprochen hat er zu dir nie?«

»Nie 'ne Silbe! ... Man fühlt nur so was! Man merkt auf einmal, daß man irgendwo Eindruck macht! Mir war's übrigens ganz egal! Ich hab' mir weiß Gott keine Mühe gegeben! Ich bin der Maxe nicht ins Gehege gekommen. Ich hab' ihm mit keinem Blick und mit keinem Ton Andeutungen gemacht. Das muß mir der Neid lassen ...«

Und mit trotzigen Querfältchen auf der weißen Stirne, in einer plötzlichen Aufwallung, die ihrem sonstigen Phlegma fremd war, fügte sie hinzu: »Überhaupt ... ich brauch' mich doch schließlich nicht zu verteidigen, wenn ich jemandem gefalle! Das ist doch mein gutes Recht und doch auch kein Wunder, wenn man vierundzwanzig und nicht gerade 'ne Meerkatze ist. Und ich kann ja auch gar nichts dafür!«

»Das behauptet ja auch niemand!«

»Warum macht ihr denn dann Gesichter, als sei Gott weiß was für ein Unglück passiert!«

»Auch darin täuschst du dich, liebe Ulla! Mama und ich sind nur verblüfft. Die Frage ist: was nu?« Herr von Ottersleben wurde plötzlich wieder zornig.[S. 56] »Das kommt davon, wenn man mir die ganze Zeit solchen Hokuspokus vormacht. Ich kann's doch nicht wissen! Ich hab' doch noch andere Sachen im Kopf, als eure Liebeshändel. Ich ...«

»Thilo ...« mahnte seine Frau in leiser Strenge.

»Jawohl, Mutter! Ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich erfahre ja doch alles erst hinterher! ... Du auch! ... Also gut! ... Dann macht ihr, was ihr wollt! Ich sag' nicht ja und nicht nein, so willkommen mir auch der Logow als Schwiegersohn ist. Aber ich will so aus heiterem Himmel die Verantwortung nicht übernehmen. Ich überlasse es dir! Bring du deine Sache selbst zu Ende ...«

Ulla Ottersleben erwiderte nichts, sondern schritt nach dem Ausgang.

»Wohin denn, Kind?«

»Zu Maxe, Mama!« sagte sie, einen Augenblick auf der Schwelle innehaltend, mit gelassener Stimme und ging dann den Flur entlang. Dort flog bei ihrem Nahen eine Tür auf. Maximiliane stand da, mühsam ihre Angst beherrschend.

»Du ... Ulla ...«

»Da bin ich!«

»Eben hört' ich doch Schritte ... Ulla ... Er ist doch nicht weg?«

»Ja.«

»Um Gottes willen ...«

»Erschrick nicht ... Er kommt wieder ... Heute nachmittag ... da holt er sich Bescheid ...«

»Ach so ...« Ihre blonde Schwester holte erlöst Atem. Sie lehnte auf der Schwelle, so, daß die andere[S. 57] nicht an ihr vorbei in das Zimmer treten konnte. »Ulla ... ich möchte jetzt lieber noch einen Moment allein sein!« sagte sie.

»Aber ich muß mit dir sprechen, Maxe!«

Die beiden großen schlanken jungen Mädchen standen sich in der schmalen einfenstrigen Stube gegenüber. Ulla setzte sich auf das Bett der anderen, glättete mechanisch mit der Hand den Kissenüberzug, senkte den dunkelglänzenden Scheitel und hub an: »Du, hör mal ... Maxe ... Also Logow hat richtig angehalten ...«

»...ja ...«

»Aber um mich! ... Er will mich ... Komisch ... nicht? ... Was meinst du dazu? Was rätst du mir ...«

Sie machte eine Pause und hob dann langsam die langen schwarzen Wimpern zu der Jüngeren empor. In ihren großen mandelförmigen Augen war eine leise Angst vor dem, was nun kommen würde. Aber zu ihrem maßlosen Erstaunen zeigte Maximiliane keine Spur von Bewegung auf den Zügen. Sie war nur wie versteinert. Aber sie lächelte. Es war ein Zucken um die Mundwinkel — dann ein Schein freundlicher schwesterlicher Teilnahme ... Sie sagte wie im Traume: »So ... dich will er ...?«

»Ja.«

»Nun — dann wünsch' ich dir Glück!«

»Ja aber, Maxe ... so schnell geht das nicht ...« Ulla Ottersleben war verwirrt vor dieser unheimlichen übernatürlichen Ruhe. »Erst muß ich doch wissen, was du darüber denkst!«

Maximilianens große blaue Augen wurden weit vor Staunen.

[S. 58]

»Ich?« sagte sie verwundert, als bekäme sie eine Botschaft vom Monde. »Was geht denn das ums Himmels willen mich an?«

»Aber du interessierst dich doch für ihn ... Wir hatten wenigstens alle den Eindruck ...«

Das blonde junge Mädchen lachte leichthin und drehte sich halb zur Seite.

»Ach, das war nicht so schlimm. Das war vielleicht mal so 'ne Spielerei mit einem Gedanken. Das passiert einem ja manchmal ... dir ja auch ... das ist bis morgen vorüber, wenn man sieht, daß nichts daraus wird! Das muß man nicht zu tragisch nehmen! Ich tu's wenigstens nicht. Du siehst ja, ich bin ganz ruhig. Also lasse du dich dadurch beileibe nicht stören, Ulla!«

»Also du meinst wirklich ...«

»Nimm ihn doch, wenn er dir gefällt! Meinen Segen hast du ...«

Ulla zögerte.

»Weißt du ...« sagte sie ... »ich bin ja nicht so leidenschaftlich versessen auf ihn ... Was hast du denn? ... Du wirst auf einmal ganz weiß ...«

»Nichts ... nichts!« versetzte Maximiliane und lachte. Dann legte sie wie in der Zerstreutheit die Hand auf eine Stuhllehne, um sich vor dem forschenden Blick der Schwester unauffällig aufrecht zu erhalten. Sie fühlte: die glaubte ihr nicht. Die wußte, daß das alles Lüge war, verzweifelter, beleidigter Stolz. Aber sie fühlte auch: es paßte Ulla, es nach außen hin zu glauben. Es stimmte zu ihren Plänen. Darum gab sich die Schwester den Anschein, als nähme sie die Worte der Jüngeren für bare Münze. Sie meinte:[S. 59] »Wenn ich's tue, Maxe, dann ist's bei mir mehr Vernunftsache ... Sieh mal ... Es ist nachgerade für mich Zeit. Ich hab' ein paar Jahre verplempert ... damals ... du weißt, um wen — schließlich hat doch eine andere ihn und ist Gräfin geworden und hat die Riesengüter ... da sag' ich mir: Es kommt da jemand, der mir immerhin noch etwas sehr Annehmbares bietet — der mich gern hat — der es noch einmal sehr weit bringen kann ... wer weiß denn, wann die Gelegenheit wiederkehrt ...«

»Wenn du diese Ruhe in dir hast,« versetzte Maximiliane, »... wenn du dir das zutraust, einen zu heiraten, ohne daß du in dir fühlst: ›Den oder keinen ... und lieber tot‹ ... ich könnt' es nicht ... Aber die Menschen sind ja Gott sei Dank verschieden ...«

»Also du redest mir selber zu, Maxe?«

»Ich wünsch' dir viel Glück!« versetzte das junge Mädchen mit unbewegtem Gesicht.

Ihre schöne dunkelhaarige Schwester sprang auf und küßte sie auf die blassen Lippen. Sie ließ es schweigend geschehen. Die andere spielte ihre Komödie weiter.

»Ich danke dir von Herzen,« sagte sie lebhafter als sonst. »Nun ist mir ein Stein von der Seele, da du mich so über deine Gefühle beruhigt hast. Nun kann ich erst mit den Eltern sprechen. Die haben ja doch von nichts eine Ahnung!«

Sie umarmte die Jüngere noch einmal, nickte ihr zu und schlüpfte aus dem Zimmer. Sie war jetzt ganz mit sich beschäftigt. Sie merkte es nicht mehr, daß, noch während sie die Tür in das Schloß drückte, Maximiliane mit einem leisen, todwunden Stöhnen schwankte,[S. 60] unsicher in der Luft nach einem Halt griff, ein paar Schritte nach ihrem Bett zu machte und schwer darauf niederstürzte. Da blieb sie liegen, ohne sich zu rühren, mit geschlossenen Augen, wächsernen Wangen und strengem, leidendem Mund, gleich einer Toten.

Ulla war inzwischen wieder zu ihren Eltern ins Zimmer getreten. Sie sah jetzt belebter und fröhlicher aus. Der Vater empfing sie ungeduldig, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Gott ... die Maxe ist ja ganz vernünftig!« sagte sie. »Sie faßt's mit der größten Seelenruhe auf. Es war bei ihr gar nicht so schlimm, wie man dachte! ... Wahrscheinlich war überhaupt nichts. Man wird ja nie aus ihr klug ...«

»Bist du dessen auch ganz sicher?«

»Ja, ja ... Mama!«

»Gott sei Dank!« sprach Frau von Ottersleben.

Ihr Mann räusperte sich: »Na schön! ... Also nun hab' die Güte, liebes Kind, und erkläre dich!«

»Wieso, Papa?«

»Ja ... sieh mal — bloß um sich einen Korb zu holen, bestell' ich mir den Logow nicht erst nachmittags extra ins Haus! Das mute ich einem Mann von seinem Selbstgefühl nicht unnütz zu! Das vergißt er mir nie! Da schreib' ich ihm lieber ein paar schonende Zeilen und schick' sie ihm vorher ...«

Ulla von Ottersleben überlegte nicht lange. Sie sagte ruhig, nur noch, in diesem Augenblick der Entscheidung über ihr Leben, um einen Ton blässer werdend: »Du brauchst ihm nicht zu schreiben, Papa!«

»Also willst du ihn nehmen?«

»Ja.«

[S. 61]

3

Im Hause Ottersleben saß man beim Abschiedsfrühstück. In einer Stunde sollte Erich von Logow nach Berlin abreisen. Er trug schon die Uniform des Generalstabs. Er hatte seine Braut zu seiner Rechten. Ulla war ganz verwandelt. Ihre sonstige Teilnahmlosigkeit und Schweigsamkeit war geschwunden. Ihre Augen glänzten. Sie lachte. Sie schwatzte. Sie sprang vom Stuhl auf, um Vergessenes herbeizuholen, und lief geschäftig und sorgte für ihren Verlobten, und er lächelte ihr verzückt zu und folgte in stummer Andacht jeder ihrer Bewegungen. Er war so blind verliebt, wie nur ein Mann sein konnte. Jetzt, wo die Schranke der Zurückhaltung für ihn gefallen war, äußerte sich das bei seiner strengen Natur in einem naiven, beinahe kindlichen Glück.

In den Kelchgläsern perlte Sekt. Der Oberst von Ottersleben trank seinem künftigen Schwiegersohn mit einem väterlichen und gütigen Kopfnicken zu. »Dein Wohl, mein lieber Erich!« Dann rauschte plötzlich von unten, von der Straße her, Musik. Es war eine Aufmerksamkeit des Adjutanten Rudicke, der die Regimentskapelle zu einem Abschiedsständchen geschickt hatte. Die Hoboisten standen im Kreis, mit im Winde flatternden Mänteln, mitten auf dem Pflaster und spielten das lustig-wehmütige:

[S. 62]

»Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus,
und du, mein Schatz, bleibst hier ...«

und oben schaute der Hauptmann von Logow seiner Braut in das schöne, weich lächelnde, von dunklem Seidenhaar umsponnene Antlitz und meinte glückselig: »Nein, mein Schatz ... du bleibst nicht hier!! Zum Frühjahr hol' ich dich zu mir, nach Berlin ...«

Die Kapelle schloß unten ihr Konzert unter Trommelwirbel und Paukendonner mit dem zündenden alten Avanciermarsch des Regiments aus den Freiheitskriegen, unter dessen Klängen es sich bei Lützen und Bautzen gegen Napoleon die Feuertaufe geholt hatte und jetzt noch in der Parade vor dem Kriegsherrn vorbeirückte. Der Stabshoboist Schickedorn wurde heraufgerufen, um stramm stehend das ihm angebotene Glas Wein zu trinken. Dann war es Zeit zum Aufbruch. Logow trat mit seiner Verlobten in das Nebenzimmer, um ihr ungestört Lebewohl zu sagen. Sie küßten sich lang und innig, ohne viele Worte. Dann versetzte er sorglos und halb lachend: »Du, Schatzi — was du mir da aber gesteckt hast, gestern ... die Maxe hätte was für mich übrig gehabt ...«

»Etwas, Erich — nicht viel — nur ein ganz klein bißchen! Werde nur nicht eitel!«

»... also — das ist Unsinn, Maus! Das habt ihr euch eingebildet! Ich hab' sie doch jetzt beobachtet! Sie ist ja die Ruhe und Unbefangenheit selber! Wie käme sie denn auch darauf! Ein Blinder hätte ja doch von Anfang an sehen müssen, daß ich dich im Auge gehabt hab'! ... Aber nun los! Sonst versäume ich noch den Zug ... Adieu, Schwiegerpapa ... Adieu,[S. 63] Maxe! ... Adieu, Otto! ... Adieu, Hans! Auf Wiedersehen, Mama und Dorle — in ein paar Tagen in Berlin!«

Es war beschlossen, daß die Aussteuer für die beiden Bräute in der Reichshauptstadt besorgt werden sollte. Solange es sich nur um die Jüngste handelte, hätte man nicht so viel Umstände gemacht. Da fand sich auch hier in der Provinz das Nötige. Aber für Ulla mußte man sich anstrengen. Sie verlangte das selbst am meisten. So reiste Frau von Ottersleben in der folgenden Woche mit ihr und Dorle nach Berlin. Sie war sehr aufgeregt, voll der festlichen Unruhe einer zweifachen Brautmutter. Sie war auch gar nicht gewohnt, ihren Mann allein zu lassen. Sie zog ihre mittlere Tochter vor der Abfahrt auf die Seite.

»Maxe: ich binde dir Papa auf die Seele! Sorge ja dafür, daß er nichts Gewohntes vermißt! Morgens zwei Eier zum Kaffee. Um halb elf das Glas Wein und ...«

»Ich weiß ja, Mama!« sagte Maximiliane ruhig. »Du kannst dich auf mich verlassen! Ich hüte schon das Haus!«

Aber sie kam nicht dazu, am nächsten Morgen für den Vater zu sorgen. Früh um fünf, noch in schneeheller Nacht, war ein Trompetenblasen auf den Straßen, ein Rennen von schlaftrunkenen Leutnants und atemlosen Einjährigen, ein Galoppieren von Hauptleuten und Majoren auf dem glitscherigen Pflaster, ein Poltern und Stürmen der Ordonnanzen zur Wohnung des Obersten hinauf, vor der der Stallbursche mit fertig gesatteltem Handpferd vortrabte. Der Generalmajor[S. 64] Olaf von Glümke machte einen seiner kleinen Scherze und alarmierte die Garnison. Das brachte Zug in die Bude! Springlebendig mußte eine Truppe sein wie 'ne Hand voll Flöhe! Von irgend woher hörte man auf dem Exerzierplatz — sehen konnte man ihn nur schattenhaft auf seinem mächtigen Gaul — seine schneidige fröhliche Stimme: »Famoser Morgen, Kinder ... da wollen wir uns mal recht ordentlich lüften!« Und damit führte er die Seinen wie eine lange schwarze Schlange durch die dämmernde Stadt, zum Tor hinaus, in den weiten weißen Schnee.

In der Wohnung des Obersten von Ottersleben war nun alles still. Das fahle Morgenlicht des Februar lugte durch die Fenster und erfüllte sie allmählich mit einem trüben Grau. Maximiliane ging übernächtig durch die Zimmer hin und her. Sie empfand mit einem leisen Frösteln diese traumhafte, beinahe unheimliche Ruhe — dies Ausgestorbensein der Räume, in denen sonst die Ihren lebten und lachten und kamen und gingen. Der Vater weg, die Mutter weg, die Schwestern weg, die Brüder — es war, als seien die alle, alle tot und sie allein noch am Leben. Oder besser umgekehrt: sie war fort und die anderen blieben. Die hatten noch was vom Sein. Sie nicht. Es war ja alles vorüber ...

Das war nicht ein plötzlicher Gedanke, der sie durchzuckte — das war eine ständige Stimmung. Die hatte schon die ganzen Tage in ihr gewohnt. Nun, in der Einsamkeit, kam ihre Stunde. Das stieg grau in ihr empor, ballte sich, umwölkte sie, mit einem unfaßbaren Zwang der Notwendigkeit, unter dem sie sich ganz kühl[S. 65] und ruhig sagte: Ich werde jetzt meine Halifax nehmen und Schlittschuhlaufen gehen! Es ist ja noch eigentlich zu früh. Aber warum soll ich mich denn hier langweilen? Es vermißt mich ja hier niemand. Überhaupt keiner auf der Welt. Ich bin das fünfte Rad am Wagen. Ich weiß nicht, wozu ich da bin ...

In einem jähen Trotz, als hätte ihr jemand widersprochen, wiederholte sie sich: Warum soll ich denn nicht Schlittschuhlaufen gehen? Ich kann's doch! Sogar gut! Die Eltern haben nichts dagegen. Die haben mir's immer erlaubt — auch damals, vor zwei Wintern, nachdem die arme Herta Harff dort eingebrochen und ertrunken war. Denn es sind ja freilich Löcher dort im Eis — tiefe schwarze Löcher — man kommt aus Versehen mal hinein ...

Auf der Straße pfiff ein eiskalter Wind. Es waren jetzt zwischen sieben und acht Uhr morgens da nur Arbeiter unterwegs, Ladenverkäuferinnen, Schulkinder. Neugierige Blicke folgten dem großen schlanken eleganten jungen Mädchen, das, die Schlittschuhe am Arm, in seinem Pelzjäckchen gleichmäßig dahinschritt, die breiten Straßen entlang, in denen die Rolläden der Schaufenster sich allmählich knarrend lüfteten und die vollbepackten Straßenbahnwagen klingelten und sausten, dann in die Ruhe der Villenvorstadt hinaus, in der noch kein Mensch wach war und ihr Schritt sonderbar im Schweigen widerhallte, als wäre es noch tiefe Nacht — so dunkel wie die Löcher da draußen im Eise.

Sie dachte sich mit einer, ihr selbst unverständlichen Ruhe: Wenn mir heute etwas passiert, dann war ich eben unvorsichtig. Ich hab' die Warnungszeichen nicht[S. 66] beachtet. Das kann jedem geschehen. Nachher ist's zu spät. Es wird natürlich ein großes Geschrei geben ... Aber ich hör' es ja nicht mehr ...

Und eine neue Bitterkeit: Was liegt denn an mir? Es will ja keiner was von mir wissen? Da dräng' ich mich auch nicht auf, wenn mich niemand mag. Ich geh' jetzt Schlittschuhlaufen. Und ob ich wiederkomm' ...?

Ihr schmales, trotz der Winterluft unter dem Schleier blasses Antlitz war unbewegt, während sie weiterschritt und sich vorstellte: Nur, daß es in den Zeitungen stehen wird, das ist schrecklich! Aber alle werden sagen: Das ist ein Unglücksfall! Ein bodenloser Leichtsinn! Was es war, weiß keiner. Auch er nicht! Er vor allem nicht! Er soll sich nie einbilden, daß ich an ihn gedacht hab' ... auf diesem Weg ...

Zwei Freundinnen kamen ihr entgegen: die Töchter des Divisionspfarrers Nicholt. Sie hatte die beiden seit Kaisers Geburtstag nicht mehr gesehen. Berta Nicholt, die immer aufgeregt war, stürzte mit ausgestreckten Händen auf sie zu.

»Du, Maxe ... das ist ja großartig! ... Ich war ja ganz paff: Die Ulla ist glückliche Braut?«

»Sogar sehr glückliche!« sagte das junge Mädchen lächelnd und stehen bleibend.

»Ja, wie kam denn das so plötzlich?«

»Gar nicht plötzlich! Das ist eine alte Geschichte!«

Maximiliane von Otterslebens Stimme klang sehr unbefangen, wie sie dastand, lang, schlank und blond, in dem Ostwind, der mit den krausen Härchen in ihrem Nacken spielte. Die beiden anderen sahen sie unsicher[S. 67] an. Man hatte sich doch immer eingebildet, daß sie und Logow ... Aber sie lachte nur: »Die Ulla ist im siebten Himmel!« sagte sie. »Na, das könnt ihr euch vorstellen! ... Und er erst! ... Wir sind alle so froh! Ich denke, da haben sich gerade die beiden Rechten gekriegt!«

Sie hatte dabei nur die Angst, daß die Freundinnen sich ihr anschließen könnten, aber die dachten nicht daran. Jetzt da draußen auf der Eisbahn, ohne Leutnants, ohne Musik ... pah ... sie begriffen Maxe Ottersleben nicht und schauten ihr noch ein paarmal nach, wie sie ihren Weg nach dem Stadtpark fortsetzte. Aber die hatte ja immer so komische Ideen! Das war nichts Neues ...

Im Forst war tiefes Weiß. Der Wind stürmte von hinten und blies Maximiliane in schneidendem Pfeifen um die Ohren. Sie hörte kaum mehr das Knirschen des Schnees unter den Füßen, so stark war das Brausen in dem kahlen Geäst. Im Sommer kam man oft von der Stadt aus hierher, trank drüben im Jägerhaus Kaffee, lagerte im Grünen. Jetzt war das große Schweigen. Kein Mensch weit und breit. Nur ferne etwas Dumpfes, wie Schläge der Holzaxt. Oder war es das Hämmern ihres Herzens? Eine Erwartung ... ein Rückwärtsschauen: es war ja alles ganz schön gewesen. Die Eltern waren gut zu mir. Die Geschwister freundlich. Kein Mensch hat mir Böses getan. Ich war auch ganz froh. Ich hab' ja ganz gern gelebt und gedacht, das Eigentliche kommt erst ...

Und statt dessen nun dies sonderbare, ihrem Willen entzogene Muß, dies: Vorwärts! — Die Löcher im[S. 68] Eise sind tief ... darin versank man still, nach dem Sturz aus allen Himmeln ... Es war eine traurige Gewißheit, daß das so sein sollte. Aber sie konnte nichts dafür ... sie wahrlich nicht ...

Sie dachte sich: ›Jetzt küßt er sie eben in Berlin! ... Manche könnte sich ja nun vornehmen: Gut — dann heirate ich eben niemals einen anderen! Aber was ist das für ein Leben — vielleicht noch fünfzig Jahre lang? Das halt' ich nicht aus! Lieber so!‹

Vor ihr, am Waldrand, lärmten die Krähen. Dahinter die stundenweite, undeutliche, verschneite Fläche, das war der Liesensee. Jetzt, um diese Morgenstunde, war gewiß kein Mensch dort. Das Musiktempelchen stand öde. Die Bude für Punsch und Pfannkuchen war geschlossen. Man streifte den Reif von einer Bank und setzte sich und schnallte sich selbst die Schlittschuhe an und fuhr los. Kein Wächter rief hinter einem her, wenn man den gebahnten Pfad verließ — ins Weite hinaus — nur den Wind hatte man hinter sich. Der schob einen. Eine fremde Gewalt trug einen dahin. Es war ein Flimmern vor den Augen ... Hinaus ... Hinaus ...

Sie senkte den Kopf und ging eilig im Schnee weiter. Merkwürdig: was sie bisher für Axtschläge gehalten, klang jetzt immer lauter und näher. Es war mehr ein Böllern, ein häufiger dumpfer Knall. Sie machte noch ein paar Schritte und hemmte dann erschrocken den Fuß. Da, auf den Hügeln am See stand ein einzelnes Feldgeschütz, die Mannschaft darum herum und feuerte. Eine große gelbe Flagge wehte daneben. Und etwa hundert Schritte weiter war eine zweite Kanone und[S. 69] eine zweite Fahne — eine dritte und vierte — eine lange markierte Artillerieaufstellung. So viel militärische Schulung besaß sie als Offizierstochter wohl, um das auf den ersten Blick zu erkennen.

Sie seufzte in tiefem Kummer auf, in Angst und Ungeduld. Es durfte jetzt nichts dazwischen kommen. Ihr war, als habe sie eine Pflicht zu erfüllen. Von den Kanonieren bemerkte sie niemand. Die schauten alle nach vorne, luden und zielten. Sie bog rasch nach rechts ab, um so die waldumbuschte, einsame Seitenbuchtung des Sees zu gewinnen. Aber als sie dort in dem Weidendickicht stand, schimmerte es vor ihr himmelblau im Weiß des Schnees. Ein Trupp Dragoner hielt da versteckt mit einer farbigen, ein Kavallerieregiment darstellenden Flagge und lauerte blutdürstig auf etwas hinter den Anhöhen — aus deren Ferne man nur ein unbestimmtes Plackern vernahm.

Trostlos machte sie kehrt, gehetzt, als seien ihr Feinde auf den Fersen, eilte sie wieder durch den Wald zurück, hinter den Geschützen vorbei, nach der anderen Seite — voll stummer, verbissener Leidenschaft, sich nicht hemmen zu lassen, ihr Schicksal zu erzwingen ... Aber da drüben in der freien Ebene, auf der weißen Fläche, längs der Ufer, bildeten dunkle Punkte und rote Flaggen eine lange, dünne, langsam vorschreitende Linie. Es war Infanterie vom Regiment ihres Vaters. Sie erkannte die Achselklappen. Sie sah das Aufblitzen der Schüsse. Auch von rechts, wo die Dragoner gewesen, knatterte jetzt das Kleingewehrfeuer, und weiterhin, jenseits des Sees, war alles schwarz von Soldaten.[S. 70] Sie war mitten in die Felddienstübung des Generals von Glümke hineingeraten.

Sie blieb ratlos, in sich zusammenfröstelnd, im Schnee stehen. Der Weg zum See war ihr mit Waffengewalt versperrt. Das Gefecht näherte sich mehr und mehr. Es schien, daß Papa mit seinem Regiment eine weitausgreifende Umfassung vorbereitete. Sie glaubte ihn fern unter einem einzelnen Baum an seinem Pferd, der guten alten Rappstute Bella, zu erkennen, die so phlegmatisch im Kugelregen stand. Sie wandte sich um und ging langsam, wie vor den Kopf geschlagen, längs des Waldsaums dahin. In ihr war immer noch der verzweifelte, nachtwandelnde Drang: ›Ich kann mir nicht helfen. Ich muß jetzt Schlittschuhlaufen. Weit weg. Ganz weit ... Wer weiß, wann ich wieder die Kraft dazu habe.‹ In einer Aussichtshütte, die am Wege stand, ließ sie sich nieder und saß da, ohne sich zu rühren. Hier störte sie keiner. Sie hatte die Hände zusammengelegt und den Kopf geneigt. Sie war unendlich traurig. Über ihr war in der Holzwand von sommerlichen Ausflüglern ein Herz eingeschnitten. ›Paul — Emma. 1900.‹ stand darin. Das machte sie auf einmal beinahe weinen. Alle Menschen liebten sich, jedes fand den Seinen oder die Seine. Nur sie war verlassen. An ihr ging man achtlos vorbei. Es war so grausam — so demütigend. Sie ertrug es vor sich selber nicht. Sie seufzte schwer, mit düsterem Gesicht. Sie dachte sich: Es muß ja nicht heute sein! Der Winter ist ja noch lang. Es kommen noch mehr solche Tage ... Das gab ihr einen trüben Trost. Sie fühlte sich ruhiger. Sie erhob sich und drehte nun endgültig[S. 71] dem Gefechtsfeld den Rücken und schlug die Richtung nach Hause ein.

Hinter ihr klang es, fern im Wind, aus vielen Hörnern: ›Gewehr in Ruh'!‹ Es wurde plötzlich ganz still. Die Übung war doch früher zu Ende, als sie geglaubt. Hoffentlich hatte Papa gut abgeschnitten. Er machte es ja dem General von Glümke nie zu Dank. Nun rückten die Regimenter bald in die Quartiere. Aber für sie, Maxe Ottersleben, war es heute zu spät: die große Stunde und Stimmung verflogen.

Ein andermal ... Traumverloren wanderte sie weiter — eine Viertel-, eine halbe Stunde. Sie brauchte doppelt so viel Zeit als auf dem Hinweg — so matt war sie — so schwer trugen sie die Füße. Am liebsten hätte sie sich lang in den Schnee hingeworfen und wäre liegen geblieben, mochte daraus werden, was wollte. Dann gab sie sich einen erschrockenen Ruck und schritt anscheinend gleichgültig dahin. Sie hatte hinter sich Hufgetrappel gehört. Da kam jemand, im schlanken Trab, ohne sich um Schneelöcher und Baumwurzeln zu kümmern, so elastisch wie ein junger Leutnant im Sattel, trotz der weithin leuchtenden, scharlachroten Generalsaufschläge. Als er sich dem jungen Mädchen näherte, richtete er sich in den Bügeln empor, die — das Zeichen eines tadellosen Reiters — so lang geschnallt waren, daß er eben noch mit der Fußspitze Anlehnung fand, und rief lachend: »Na, Sie Schlachtenbummler ... hab' ich Sie noch glücklich erwischt ...?«

Sie machte halt, einen Schatten des Unmuts auf dem hübschen, blassen, unregelmäßigen Gesicht. Der General von Glümke ... der fehlte ihr noch gerade! ...[S. 72] Papas Vorgesetzter und Widerpart! Sie schaute kühl zu ihm empor, in der Erwartung, daß er an ihr vorbeireiten würde. Er sah etwas verändert aus, weil der Reif seinen sonst blonden Schnurrbart silbergrau überzogen hatte. Aber das machte ihn nicht älter. Es war eher, als ob er sich gepudert hätte, wie ein Offizier aus friderizianischen Zeiten. Mit seinen geröteten Wangen, den blitzenden blauen Augen war er ein Bild der Unternehmungslust. Man mußte schon genau hinblicken, um die vielen feinen Fältchen auf seinen verwegenen Zügen zu erkennen. Er ritt ein riesiges, blutjunges Pferd, das noch so hochbeinig war wie ein halbes Fohlen. Es arbeitete an der Kandare, daß die weißen Schaumflocken flogen. Sein dickes Winterhaar rauchte von Schweiß und war struppig wie bei einem Ackergaul. Beim unvermuteten Anblick einer Dame machte es mit allen vieren eine Lançade in die Luft hinauf, daß sie schon einen Sturz befürchtete. Aber Olaf ließ sich durch solche kleine Späße nicht im Sitz stören. Er klopfte dem Tier beruhigend auf den Hals, schwang sich mit einem Satz aus dem Sattel und ging, es am Zügel nach sich ziehend, so als ob sich das von selbst verstände, links neben Maximiliane her.

»Nu sagen Sie mal um Gottes willen, was haben Sie denn eigentlich den ganzen Morgen da draußen gemacht?«

»Ich?« sagte sie erstaunt. Es konnte sie doch niemand gesehen haben. Es war doch zu weit gewesen.

»Na — ich beobachte Sie doch seit zwei Stunden und trau' meinen Augen nicht! Stiefelt mir da auf einmal eine junge Dame in der Schützenlinie herum![S. 73] Ich hatt' schon Angst, Sie würden schließlich noch die Führung des markierten Feindes übernehmen ... Na — da hätt' ich schön Senge besehen! Gegen Damen bin ich wehrlos!«

»Ich bin nur hinaus, um Schlittschuh zu laufen, und wie das nicht ging, gleich wieder umgekehrt.«

Er lachte schallend und schlug mit der Hand auf den Krimstecher, den er in einem Lederfutteral umgeschnallt trug: »Und mein Zeiß? Ich hab' doch als Feldherr das Gelände überschaut. Ich hab' mich immer beim Befehlerteilen gefragt: Jesus — was macht sie nur? ... In dem zugigen Aussichtstempelchen, in dem Sie eine Stunde gesessen haben, könnt' ja unsereiner 'nen Schnupfen kriegen! ... Aber warten Sie nur: ich steck' es dem Papa!«

Er drohte ihr gutmütig wie einem Kind mit dem Finger und setzte amüsiert hinzu: »Schade, daß Sie nicht zum Schluß zur Kritik gekommen sind! Ich hätte Ihnen gerne die Brigade im Parademarsch vorgeführt!«

Sie biß sich auf die Lippen, erwiderte nichts. Endlich versetzte sie schroff: »Ich kann doch spazieren gehen, wo ich will.«

»Aber unbedingt!« sagte Olaf von Glümke. Im Augenblick, wo er merkte, daß sie auf seine Neckereien nicht einging, änderte er den Ton.

»Ich hatt' nämlich wirklich Angst, es wäre Ihnen nicht wohl!« gestand er. »Oder Sie hätten gestern was beim Schlittschuhlaufen verloren und suchten es. Da hab' ich Adjutanten, Ordonnanzen und Gäule auf der Chaussee vorausgeschickt und bin Ihnen durch den[S. 74] Wald nachgeritten, um zu sehen, ob ich Ihnen nicht behilflich sein kann.«

»Sie sind sehr gütig, Herr General!«

Sie gingen eine kurze Strecke stumm nebeneinander her. Leise klirrten ihre Schlittschuhe, seine Sporen im Takte ihrer Schritte. Hinter ihnen schnaufte das Pferd. Man fühlte seinen heißen Atem im Genick. Sie dachte sich: Warum steigt er denn nicht endlich auf und reitet weiter? Sie sagte es schließlich direkt in ihrem Unmut: »Aber ich möchte Ihnen nicht Ihre Zeit wegnehmen, Herr General!«

Er verneinte.

»I wo! Ich vertret' mir mit Wonne 'n bißchen die Beine! Ich bin verfroren. Ich kann mir doch nicht Stroh um die Steigbügel wickeln lassen wie ein Großpapa ... Aber die Brigade mußte mal 'raus und ihre Sünden abschwitzen. Ihr Herr Vater, der ist nur fürs Zielen! Aber ich bin nicht so gelehrt. Ich bin kein Bücherhengst. Es ist ja jetzt Mode. Die Herren sind's alle. Ihr künftiger Schwager Logow auch. Na — wann heiratet denn die schone Ulla?«

»Anfang Mai.«

»Und das Dorle?«

»Am selben Tag.«

»Und die blonde Maxe?«

»Ich?«

Sie war ganz empört, daß er sie im Scherz mit ihrem Garnisonspitznamen »blonde Maxe« nannte! Woher wußte er denn überhaupt?

Er bestätigte unbefangen: »Ja ... Sie!«

Sie wurde nicht rot, sie kicherte nicht und sah nicht[S. 75] zur Seite, wie er es als alter Schwerenöter sonst bei jungen Mädchen kannte, sondern warf den Kopf etwas zurück und sagte sehr kühl und von oben herab: »Ich hab' noch lang' Zeit, Herr General!«

»Nanu?«

Sie ärgerte sich über seine belustigt hochgezogenen Brauen und setzte hochmütig hinzu: »Wenn es nach mir geht, heirate ich am liebsten überhaupt gar nicht! Ich finde die Männer nicht so furchtbar verlockend!«

Der General von Glümke schüttelte sich vor Lachen.

»Sie haben sehr recht, Fräulein Maxe ... Sehr recht! ... Ich kenne die Gesellschaft! Ich warne Sie! Aber Sie müssen mich trotzdem zu Ihrer Hochzeit einladen! Versprechen Sie es mir?«

»Lassen Sie doch endlich die Witze, Herr General! Die sind wirklich nicht neu! Wenn Sie bloß deswegen von Ihren Soldaten weggeritten sind, um mir das zu erzählen ...«

»Der Dienst ist zu Ende!« versetzte Olaf von Glümke. »Jetzt bin ich Mensch! Hol' der Deubel den Dienst in den Freistunden! ... Na ... Kopf hoch, Fräulein von Ottersleben! ... Was machen Sie nur immer für ein Armsündergesicht? Tut's Ihnen so leid, daß die Schwestern aus dem Hause gehen? ... Na — warten Sie nur: Sie werden auch bald ... Ach so ... Ich bin schon still ... Sie müssen es nicht so ernst nehmen, was ich rede!«

Ihre Züge waren unter dem schwarzgetupften Schleier blaß und trotzig. Sie antwortete wenig höflich: »Das tu' ich auch nicht, Herr General!«

»Danke gehorsamst!«

[S. 76]

Er legte zwei Finger an den Helmrand, lachte, und es fuhr ihm dabei blitzschnell durch den Kopf: Donnerwetter ja! ... Die hat schon scheint's ihre Erfahrungen hinter sich! Die hat sich schon irgendwo verbrannt! Dann forschte er wohlwollend: »Sind Sie eigentlich immer so kratzbürstig, Fräulein von Ottersleben?«

Sie antwortete nicht und ging rascher. Er hielt elastisch mit ihr gleichen Schritt. Er sah sie dabei vergnügt aus seinen strahlenden, von feinen Krähenfüßen umrahmten blauen Augen an. Er behandelte sie wie ein Kind, mit dem man sich im Spiel herumneckte. Er war grausamer bei ihrer jetzigen Seelenverfassung, als er ahnte. Und doch belebte sie seine unbekümmerte frische Art. Er nickte befriedigt.

»Sehen Sie ... Jetzt schauen Sie schon wieder viel blanker aus den Augen! Lachen Sie! ... Lachen Sie, Fräulein Maxe! ... Wollen Sie gleich lachen ... Donnerwetter ja! So! Na ... das war wenigstens ein Anfang ... Sie möchten nämlich ganz gerne fidel sein, Kind ... Sie genieren sich bloß ... Sie denken: Blässe ist interessant! ... Ach wo! ... Kinder ... wenn schon die jungen Mädchen Trübsal blasen, was sollen denn dann wir alten Knackstiebel erst anfangen? Ich hab' doch so was Väterliches an mir, nicht?«

»Nein — gar nicht, Herr General!«

Er wiegte betrübt den blonden Kopf.

»Ach ... und ich dachte ... na ... nichts für ungut! Kommen Sie: wir wollen uns wieder vertragen! ... Ich muß jetzt da links ab ... Sind Sie mir noch böse?«

Sie waren am Stadtrand. Vor ihnen schimmerten[S. 77] schneebedeckt die ersten Villen. Sie dachte sich: ›Böse — Warum? ... Lieber Gott ... Er ist nun mal so ...‹

»Adieu, Herr General!« sagte sie freundlicher, froh, von ihm loszukommen. »Au — Sie tun mir ja weh ...«

Er hatte ihre Rechte kameradschaftlich derb geschüttelt, hielt sie einen Moment fest und schaute ihr ins Gesicht.

»Ich mein's nämlich wirklich nicht so schlimm!« sagte er. »Ich hab' Sie doch noch als Backfisch gekannt! ... Wissen Sie, Fräulein von Ottersleben ... Sie gefallen mir eigentlich! Sie sind ein apartes Mädel! Anders wie die anderen! ...«

»Herr General ... nun möcht' ich aber wirklich bitten ...«

Olaf von Glümke ließ ihre Hand los und schwang seine hagere, straffe Gestalt mit einem Sprung in den Sattel. Der Gaul schnarchte nervös, bockte und stieg, drehte sich mit dem Reiter im Kreis.

»Passen Sie auf ... das Biest keilt ...« schrie er oben, im Kampf mit dem Tier, zu dem jungen Mädchen, das, an Pferde gewöhnt, nur langsam zurücktrat. »So ... alter Sohn ... Nu hab' ich dich ... 'n Morgen, Fräulein von Ottersleben! Besuchen Sie uns bald wieder draußen beim Exerzieren! Ist uns immer eine Ehre!«

Er war mit Zügeln und Schenkelschluß in Ordnung, ein Sporengekitzel: Roß und Reiter flogen im Rechtsgalopp dahin. Er drehte sich noch einmal um. Er winkte mit der Rechten.

»Ich tanz' doch noch auf Ihrer Hochzeit!« schrie er durch den Wind. Dann bog er über den Chausseegraben[S. 78] auf das flache Feld zur Linken ein. Da waren Heckenreihen. Er übersprang sie, eine nach der anderen, in elegantem Jagdsitz. Es war ein schneidiger Anblick. Seine Gestalt wurde rasch kleiner und kleiner und verschwand. Sie sah ihm nach und dachte sich: Drollig. Da zeigt er sich nun vor mir mit seinen Reiterkunststücken ... Er — ein General in Rang und Würden. Er hat es doch wirklich nicht mehr nötig, auf mich Eindruck zu machen. Er ist ein komischer Mensch ... Aber immerhin ... Wo er war, war Leben: es lag jetzt noch, wie sie in die Stadt hineinschritt, ein vergessenes halbes Lächeln von vorhin auf ihren Zügen. Dann wurde sie seiner bewußt, und es schwand. Die traurige Grundstimmung ihrer Seele nahm wieder von ihr Besitz. Aber nicht mehr mit dem alten lähmenden Zwang. Der war durch den General von Glümke unterbrochen worden. Er hatte sie wachgerüttelt. Etwas von seiner Frische — das, wodurch er die Mannschaft elektrisierte — hatte sich ihr mitgeteilt.

Eigentlich mußte sie ihm dafür dankbar sein. Er war der erste und einzige, der ihr ein bißchen Trost gegeben hatte. Nein, nicht Trost — eher Trotz. Sie sah sich jetzt in ihrer Stimmung von heute früh wie eine Fremde. Sie fühlte, die Anwandlung kam in dieser Stärke nicht wieder. Darüber war sie nun hinaus ...

[S. 79]

4

Von dem Hotel zum ›König von Preußen‹ wallte eine mächtige schwarz-weiß-rote Fahne nieder. An der Tür zum Festsaal hielten zwei Flügelleute des Regiments in dessen Uniform aus den Freiheitskriegen, in hohem Tschako und Schwalbenschwanz, Wache. Die ganze Straße hinunter standen die Menschen und schauten sich die Hochzeitskutschen an, Offiziere darin und Offiziersdamen in zarten Frühlingsfarben, und immer wieder Offiziere. Warmer Maisonnenschein war in der Luft — tiefes Glockenläuten, fern von der Garnisonkirche her, als Zeichen, daß die Doppeltrauung zu Ende war.

Ein ›Ah‹ der Neugier unter den Gaffern, ein Sich-auf-die-Fußspitzen-Erheben der hinteren Reihen: da kamen die Brautwagen. Die beiden Neuvermählten, Frau Ulla von Logow und Frau Dora Grotjan, schlüpften tief verschleiert heraus und am Arme ihrer Männer, mit niedergeschlagenen Augen, ins Haus. Beide waren blaß. Das fließende Weiß mit dem grünen Myrtenkranz ließ sie noch bleicher erscheinen: Ulla, mit ihrem von Natur schon blutlosen Teint, sah aus wie eine Marmorbraut. Es war, als sei ein Bild ohne Gnade aus seinem Rahmen herniedergestiegen.

»Ich hatt' sie mir eigentlich noch großartiger gedacht!« meinte der Festordner, der Regimentsadjutant[S. 80] Rudicke, zu dem Hauptmann Neugereuth. »So eigentlich noch niederschmetternder ... strahlender ... Na, das macht die Aufregung ... Ich muß jetzt nur schauen, daß wir die ganze Gesellschaft glücklich in den Garten lotsen. Der Photograph tanzt schon vor Ungeduld. Er hat gerade noch gutes Licht ...«

Vor Beginn der Festtafel sollte ein Gruppenbild der Teilnehmer aufgenommen werden. Es war ein Gerufe und Gelaufe, bis endlich alles beisammen und in aufsteigenden Reihen auf den zum Hotelgarten niederführenden Stufen geordnet war. In der Mitte vorn die beiden jungen Paare, rechts und links die Eltern, neben dem Brautvater seine beiden Brüder: der Oberstleutnant Bruno von Ottersleben, Chef des Generalstabs des XXV. Armeekorps, der Stolz der Familie, hochgewachsen, breitschultrig, mit etwas grob geschnittenen Zügen, die klug, energisch und voll Wohlwollen waren, und der Major z. D. und Bezirkskommandeur Kaspar von Ottersleben, dessen militärische Laufbahn sich schon dem Abend zuneigte. Er war ein etwas vor seinen Jahren gealterter, nervöser Mann. Er konnte nicht lange still stehen. Er trat ungeduldig während der Vorbereitungen zum Photographieren von einem Fuß auf den anderen. Seine Frau hielt ihn begütigend am Arm. Neben ihr stand Otto, der Sohn des Hauses, der von seinem Berliner Kommando herübergekommen war. Seinen jüngeren Bruder Peter, den Lichterfelder Selektaner, hatte man mit gekreuzten Beinen auf den Boden vor den Brautpaaren hingesetzt, zwischen seinen beiden noch jüngeren Kadettenvettern Günter und Busso, den Söhnen des Oberstleutnants.[S. 81] Dessen frische, große blonde Frau saß auf der anderen Seite neben den Grotjanschen Eltern, zu ihrer Linken der Bruder der Brautmutter, Major Freiherr von Koninck, ein wuchtiger, breit geratener blauer Husar. In den oberen Reihen drängte sich eine Musterkarte der Armee, das Dunkelblau und Hellrot der Infanterie, das dunkle Schwarz der dreißigsten Pioniere, die Samtkragen der Feldartillerie, helles Dragonerblau, Scharlach und Karmoisin der Generale und Generalstäbler, goldener und silberner Gardeglanz, hohe und niedere Regimentsnummern, die aus allen Teilen Preußens herbeigereisten Verwandten. Davor das schneeige Weiß der Bräute, das Rosa, Himmelblau, Violett der Damenkleider — das Grün der Bäume umher — das Strömen der Sonne über das ganze bunte, flüsternde, lachende, leise wie vom Frühlingswind bewegte Bild.

Ganz zuletzt kam noch Maximiliane von Ottersleben vom Saal her. Es war da noch etwas an der Tischordnung zu ändern gewesen, wegen plötzlicher Unpäßlichkeit des Divisionskommandeurs. Sie trat vorne an den linken Flügel. Der Divisionspfarrer Nicholt wollte sie an sich vorbei lassen. Aber sie meinte: »Ach wo, ich steh' hier ganz gut!« und blieb wo sie war und schaute, die Hände auf dem Rücken zusammenlegend, in lässiger Haltung hinüber nach dem Apparat. Ihre Augen waren glänzend und lebhaft, ihre Lippen halb offen, ihre Wangen leicht gerötet. Ihre Brust hob und senkte sich rasch von dem Treppenlaufen im Hause. Sie lächelte heiter. Sie hatte sich in der Gewalt. Sie hatte Zeit gehabt, sich auf diesen Tag vorzubereiten.

»Donnerwetter!« sagte neben ihr eine lachende[S. 82] Stimme. Sie wandte den Kopf. Da stand der Generalmajor von Glümke, straff, jugendlich schlank, im Glanz seiner vielen Orden, auf feinen Säbel gestützt, und musterte sie aus seinen großen blauen Augen, in denen der Übermut brütete, mit unverhohlener Billigung. »Donnerwetter!« wiederholte er. »Famos sehen Sie aus, Fräulein Maxe!«

Sie trug ein rosafarbenes Kleid, über dem blonden Scheitel einen vollen Kranz von rosa Rosen. Im Sonnenglanz, unter dem blauen Himmel, war das, im Verein mit der Wärme auf ihren Wangen, wie ein Bild des Frühlings, im Gegensatz zu dem Weiß der vor Aufregung blassen, verschleierten Bräute. Alle hatten Maxe heute reizend gefunden. Ihr war es gleich. Sie hatte sich willenlos von ihrer Mutter so herausmustern lassen. Sie machte auch jetzt nur eine kurze abwehrende Schulterbewegung, während ihr Nachbar ihr geheimnisvoll zuraunte: »Ihre Schwestern können sich gegen Sie verstecken! Wissen Sie das?«

»Bitte, Herr General ... Hier ist noch Platz!«

Man wollte Olaf als Ehrengast einen Stuhl in der Mitte einräumen. Aber er winkte mit der weißbehandschuhten Rechten ab.

»Nee, danke ... danke gehorsamst! Ich bin hier vorzüglich aufgehoben! Fräulein Maxe behandelt mich zwar schlecht, aber das bin ich bei ihr schon gewohnt! Wir sind doch gute Freunde — was?«

Seit er sie damals, vor einem Vierteljahr, im Schnee im Stadtpark getroffen, stand er mit ihr auf dem Neckfuß. Er war seitdem öfters in das Otterslebensche Haus gekommen, ein-, zweimal sogar spät abends nach[S. 83] dem Tee, zu einem Plauderstündchen als armer, von Gott und der Welt verlassener Junggeselle, wie er sagte. Meist hatte er dann mit dem Oberst in dessen Rauchzimmer gesessen und debattiert. Die Beziehungen zwischen den beiden Herren hatten sich dadurch auch dienstlich sehr gebessert. Maximiliane wußte: das war für Papas Stellung ein großer Vorteil. Schon deswegen mußte man Olaf nehmen, wie er nun einmal war. Übrigens hatte sie auch weiter nichts gegen ihn und seine Dummheiten. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er flüsterte, nachdem die erste photographische Aufnahme mißlungen war, vertraulich: »Na ... Hand aufs Herz, Fräulein Maxe ... Wie sieht er denn aus?«

»Gar nicht, Herr General!«

»Ist er hier unter uns?«

»Nirgends!«

»Ich muß doch mal schauen, ob Sie dabei rot werden!« Er blickte ihr scharf wie einem seiner Soldaten in das schmale, hübsche, unregelmäßige Gesicht und schüttelte den Kopf. »Keine Spur! Merkwürdig, wie Sie sich verstellen können! Wo kriegen Sie nur die unschuldigen Augen her? Aber Sie haben sich doch verraten, Fräulein Maxe!«

»Wieso?«

»Sie haben sich instinktiv dicht neben unseren Kommißbonzen gestellt! Sie denken, den Mann muß man sich auf alle Fälle warm halten!« Er verstärkte seine Stimme und rief vergnügt zu dem Divisionspfarrer hinüber, der vorhin Maxens Schwestern getraut hatte: »Na ... Herr Pfarrer ... sehen Sie mal,[S. 84] wen wir da zwischen uns haben! Da gibt's bald mehr für Sie zu tun — nicht?«

»Ach, lassen wir doch Fräulein von Ottersleben damit in Ruh'!« meinte der Geistliche gutmütig. »Die hört diese Späße nun schon den ganzen Tag!«

»Ja, weiß Gott!« sagte Maximiliane ergeben und rückte sich im Stehen zurecht. Es wurde wieder photographiert.

Olaf von Glümke mußte schweigen. Aber er war unverbesserlich. In der ersten Pause hub er wieder an: »Wenn man uns nur nicht auf dem Bild für ein heimliches Brautpaar hält, Fräulein Maxe, weil wir so verträglich beisammen stehen ...«

Und nun wurde sie wirklich ärgerlich und versetzte, unwillkürlich ein wenig mit dem Fuß aufstampfend: »Jetzt hören Sie aber, bitte, endlich einmal auf, Herr von Glümke! Sonst sag' ich's mal Papa!«

Ihr Vater schaute nicht herüber und achtete nicht auf sie. Er hatte, während die Gesellschaft sich auflöste und in Gruppen nach dem Festsaal schritt, eine plötzliche andere Sorge. Er drängte sich an seinen jüngeren Bruder, den Major z. D., heran und mahnte verstohlen: »Kaspar, ich bitte dich, daß du mir heute keinen Mißklang in das Fest bringst! Du sitzt zwischen lauter noch aktiven Herren, die deine Verbitterung nicht teilen ...«

Über das kluge, nervöse Gesicht des zur Disposition gestellten Bruders flog ein Schatten von Erstaunen: »Ich verbittert? ... Ich nehme nur kein Blatt vor den Mund.... Es gibt Mißstände in der Armee, Thilo! ... Und die zur Sprache bringen ...«

»Mißvergnügte Leute sehen überall Mißstände, mein Lieber!«

[S. 85]

»Ja, soll ich etwa tanzen und springen, weil man mich in der Vollkraft meiner Jahre kaltgestellt hat? Dann hab' ich wenigstens das Recht zur Kritik!«

»Ruhe ... Ruhe ...« versetzte von hinten der Husarenmajor Freiherr Wilderich von Koninck in einem Ton, als spräche er zu einem störrischen Schwadronsgaul, faßte den aufgeregten Mann am Arm und führte ihn zur Seite. Zugleich wandte sich der Oberst von Ottersleben an Olaf von Glümke.

»Wenn ich bitten darf, Herr General — Seine Exzellenz hat leider vorhin abgesagt — meine Frau zu führen!«

»Nichts angenehmer als das!« sagte Olaf in seinem verbindlichsten Leutnantston. Er hätte lieber neben der Tochter gesessen. Er schaute während der Tafel immer wieder verstohlen zu Maximiliane hinüber, die weit unten am Tisch saß. Er konnte zwischen zwei Blumenaufsätzen gerade ihren blonden Kopf erkennen. Ein Pionierhauptmann führte sie. Ein kleiner Dragoner war auf ihrer anderen Seite. Es war da unten am Tisch schon ein Gelache und Gekicher zwischen den jungen Mädchen und den Leutnants. Der Sekt rötete die Backen. Man bewarf sich mit Veilchensträußchen, zog vor der Zeit aus den Konfektschalen Knallbonbons und fuhr schuldbewußt, mit einem Blick auf die älteren Herrschaften oben, bei dem Krach zusammen — mitten darin saß Maximiliane von Ottersleben mit einem lächelnden, aber ganz leeren Gesicht, als ob sie das alles nichts anginge, und der General von Glümke dachte sich: ›Komisch! Sie dalbert nicht mit! ... Sie ist älter als ihre Jahre! Sie hat was hinter sich. Sie hat sich schon mal verbrannt. Aber gründlich!‹

[S. 86]

»Nun, gnädige Frau!« sagte er zu seiner Nachbarin. »Wie ist Ihnen denn nun so zumute! ... Ein nasses und ein heiteres Auge! ... Hart, seine lieben Mädels so auf einmal alle wegzugeben! Nicht?«

»Eine haben wir ja noch!«

»Aber wie lange?«

Frau von Ottersleben warf einen Blick auf ihre mittlere Tochter.

»Die Maxe wird nicht leicht unterzubringen sein, Herr von Glümke!« sagte sie.

Er riß seine blauen Augen auf. »Die? ... Na — da muß ich doch lachen!«

»Denken Sie nur: Wie schwer hatte sie's bisher neben Ulla ... Wenn eine gewisse Ähnlichkeit zwischen zwei Schwestern vorhanden ist und die eine ist dabei eine ausgesprochene Schönheit ...«

»Schönheit in Ehren ...« Der General ließ den Blick nicht von dem schweigsamen, kühlen Mädchenkopf da unten. »Aber Schönheit allein ist langweilig. Es gehört doch noch was dazu ... Rasse! ... Sehen gnädige Frau doch nur: Eigentlich ist sie doch einfach reizend!«

»Ja, ich finde es heute ja auch!« gestand Frau von Ottersleben. »Es haben's mir auch schon andere gesagt ...«

»... und wird noch viel reizender! ... Dafür hab' ich doch Augen! ...« Er schaute träumerisch zwischen den beiden Blumenaufsätzen hindurch.

Maxes Mutter seufzte. »Und trotzdem ... ich wäre ja froh ... aber das Mädchen ist so sonderbar! Sie macht sich gar nichts aus den jungen Leuten. Das erschwert es so! ... Beobachten Sie sie einmal: Sie[S. 87] ist direkt unliebenswürdig zu ihrem Tischherrn. Das sind so ihre Mucken. Sie kann unausstehlich gegen Herren sein, wenn sie will ...«

Und wieder dachte sich der General von Glümke voll Unruhe: Jawohl. Die hat schon ihren Knacks im Herzen weg. Die weiß: Es geht nicht alles so mit Lenz und Liebe! Die ist bereits auf dem Weg zur Vernunft ...

»Sie bekommen ja auf einmal einen ganz roten Kopf, Herr von Glümke ...« sagte neben ihm die Dame des Hauses.

Er fuhr zusammen und lachte: »Wissen Sie, warum? ... Ich war heilsfroh, daß unserem tüchtigen Divisionskommandeur
die ehrenvolle Aufgabe der Festrede zufiel. Nun kriegt der aus heiterem Himmel wieder mal sein Podagra, und ich muß hier aus dem Stegreif einen Speech loslassen ...«

»Es wird schon gehen!«

»Na, es muß gehen!« sagte Olaf unbekümmert, klopfte an sein Glas und erhob sich.

Es war still geworden. Seine helle Kommandostimme hallte durch den weiten Saal.

»Ja ... meine verehrten Herrschaften ... das wußt' ich ja ... ich seh' aller Augen vorwurfsvoll auf mich gerichtet. Die Damen scheinen mich sämtlich mit ihren Blicken zu durchbohren: Was haben denn Sie elender alter Junggeselle einen Toast auf Neuvermählte auszubringen? Was verstehen denn Sie davon? ... Stimmt! ... Ich habe einen unterdrückten Neid gegen meine beiden glücklichen jungen Kameraden da vor mir, Herrn von Logow und Herrn Grotjan. Ich hab', wie ich in deren Alter war, leider den Anschluß verpaßt.[S. 88] Aber warum? Sehr einfach! Es wollt' mich keine haben! ... Jetzt darf ich's ja sagen! Nee — lachen Sie nicht: das ist eine sehr traurige Geschichte ... und ich finde es eigentlich furchtbar nett von mir, daß ich mich trotzdem hier zum Sprecher aufgeschwungen habe, um unser aller Empfindungen Ausdruck zu verleihen, den Glück- und Segenswünschen für das Haus Ottersleben! ...«

»Meine Damen und Herren ... im Ernst gesprochen: Ich hab' immer einen Riesenrespekt vor diesem Hause gehabt, meine unbegrenzte Verehrung für dies schöne vorbildliche Familienleben, gerade weil es mir selber versagt geblieben ist — für Sie, mein lieber Herr Oberst, und Sie, meine verehrte gnädige Frau! ... Und ich hab' mich immer gefreut, wenn ich mit den Truppen unten vorbeigekommen bin und an den Fenstern drei Köpfe gesehen hab' — einen schwarzen, 'nen blonden und einen noch blonderen ...«

Er machte eine Pause und fuhr dann gelassen fort: »Anderen Leuten haben die auch gefallen! Sehr begreiflich! Und zwei von ihnen ziert nun heute der Myrtenkranz. Mein lieber Logow ... dumm sind Sie nicht, nach dem allgemeinen Urteil Ihrer Vorgesetzten — heute dürfen die Ihnen ja ausnahmsweise auch einmal etwas Schmeichelhaftes sagen — Sie sind — nehmen Sie mir's nicht übel — sogar ein verflucht gescheiter Kerl. Aber das Gescheiteste in Ihrem Leben haben Sie heute getan. Und Sie, mein lieber Herr Leutnant Grotjan ... ich habe ja nicht das Vergnügen, Sie so gut zu kennen wie Ihren nunmehrigen Schwager — aber ich bin überzeugt: Sie auch! ...«

Er wandte sich an die jungen Frauen.

[S. 89]

»Und Sie, meine verehrte Frau von Logow, und meine verehrte Frau Grotjan — ich weiß, Sie werden Ihre Wahl nicht bereuen! Wir Männer sind ja durch die Bank ein mangelhaftes Stück Schöpfung. Man muß uns nun mal nehmen, wie wir sind. Aber die beiden da sind, wie ich schon sagte, relativ gelungen. Ihnen hat sicher Ihr Gefühl das Richtige eingegeben, als Sie sich sagten: Für den und keinen anderen verlasse ich mein Elternhaus ...«

Der General von Glümke schwieg einen Moment und ließ das Auge über die Tischgesellschaft gleiten. Er zögerte. Maximiliane hatte die Lippen zusammengepreßt und die Augen gesenkt. Sie wußte: nun kam wieder die unvermeidliche Anspielung auf sie — der heute schon zehnmal gehörte Vergleich mit ihren Schwestern: ›Ich sei, gewährt mir die Bitte — in eurem Bunde die Dritte!‹ — Aber nein: Olaf warf seinen Kopf zurück. Seine Stimme wurde markig und ernst: »Meine Herrschaften ... der Sekt wird warm, der Braten kalt ... ich will Ihre Geduld nicht überspannen! Ich hebe mein Glas, und hinter mir steht im Geist die Armee, stehen all die Menschen, die Sie kennen und schätzen, und hundert und tausend Stimmen rufen Ihnen, den jungen Paaren, durch mich zu: ›Alles Gute! Alles Schöne! Glück und Segen auf dem neuen Weg!‹ Ich bin kein Bibelheld und hab' daheim nicht mehr nachschlagen können — aber irgendwo steht's geschrieben, womit ich meine Rede schließen möchte und die ich, wie Sie inzwischen leider bemerkt haben werden, unvorbereitet begonnen hab': Fürchtet Gott! Ehret den König! ... Habt einander lieb! Mehr kann[S. 90] das Leben uns nicht geben! ... Meine Damen und Herren: Wir leeren unser Glas: Herr und Frau Hauptmann von Logow, Herr und Frau Leutnant Grotjan ... Hurra! Hurra! Hurra!«

»Uff!« sagte er dann lachend, sich in dem allgemeinen Tumult und Gläserklirren setzend, und sonderbar: zu gleicher Zeit sah er einen Blick Maximilianes von drüben auf sich gerichtet. Den ersten. Es war wie ein Dank. Dann schaute sie wieder weg und gleichgültig vor sich hin, während an der Tafel allmählich Ruhe eintrat.

Sie dachte auch gar nicht mehr an den General von Glümke, sondern nur: ›Gott sei Dank ... nun ist bald alles vorbei! Er ist fort ... Dann hab' ich Ruhe! Ich werde ihn mir aus dem Kopf schlagen, so wie er sich nie um mich gekümmert hat. Ich werde vergessen, was er mir war. Er ist nur noch mein Schwager, den ich alle Jubeljahre mal irgendwo auf kurze Zeit sehe. Weiter nichts ...‹

Ihr Tischherr gab sich Mühe, sie zu unterhalten. Er erzählte ihr von der beabsichtigten Verlegung des dreißigsten Pionierbataillons nach Thorn, wo schon die Siebzehner standen. Da würde die Frau Schwester bis an die Weichsel verschlagen, bis an die russische Grenze.

Und sie erwiderte zerstreut: »Ach ... die Dorle ist eine fidele Haut! Die fühlt sich überall wohl!«

Sie sah von ihrem Platz aus Logows scharfes schnurrbärtiges Profil. Er wandte sich gegen seine Frau. Er lächelte und flüsterte ihr etwas zu. Einen Augenblick waren seine Züge sonnenhell. Dann legte sich wieder die gewohnte Ruhe darüber. Ein ehernes Selbstbewußtsein, das heute etwas Feierliches an sich hatte und noch[S. 91] gehoben war durch die Generalstabsuniform, die außer ihm im Saal nur noch sein Onkel Bruno trug. Wieder fuhr es ihr durch den Kopf: ›Bald ist er fort!‹ Es war so unwahrscheinlich: dies Gefühl der räumlichen Entfernung. Alle diese Jahre hatte sie ihn neben sich in derselben Stadt gewußt, ihn in Gedanken über die paar Gassen und Plätze hinweg in ihre Nähe rufen können. Er war erreichbar ... sichtbar gewesen. Auch als Bräutigam war er im letzten Vierteljahr noch jeden zweiten Sonntag von Berlin herübergekommen. Nun wurde er für sie eine Erinnerung ... Und die blieb ...

Es wurden die eingelaufenen Glückwunschdepeschen verlesen. Otto von Ottersleben hatte den ganzen Stoß vor sich liegen und verkündete sie der Reihe nach: lange und kurze, in Vers und Prosa, ernste und heitere. Ein paarmal lachte Logow herzlich zu irgendwelchen Anspielungen der Kameraden. Sie hörte nicht zu. Seine gute Laune tat ihr im tiefsten Herzen weh. Sie sagte sich: ›Ich muß etwas tun. Ich muß mich gegen ihn wappnen. Gegen mich. Ich kann doch nicht ewig an ihm kranken. Es ist ja schrecklich, welche Macht er über mich hat — jetzt noch mehr — wo ich weiß, daß ich ihn verloren hab' — jetzt gerade — aus purer Verzweiflung ...‹

Sie fröstelte bei der Vorstellung der Öde, die von morgen ab kam: Die Schwestern aus dem Hause, Papa im Dienst, Mama in der Stadt auf Besorgungen — da saß man nun, die Hände im Schoß. Wozu war man eigentlich auf der Welt? Wie füllte man seine Tage aus? Und die dehnten sich ohne Ende vor einem, in schnurgerader Linie, wie die Kilometersteine an der Chaussee ... Sie hatte ihren Zorn gegen sich, daß sie von dieser Furcht[S. 92] vor dem Nichts nicht loskam. Sie hatte sich so gewünscht, daß die Prüfung vorüber sein möge. Aber nun stand dahinter erst, noch viel schlimmer, das Morgen.

Diakonissin? Im Gelächter und Stimmengewirr um sie her, dem Schmettern der Musik, dem Duft der Blumen, sah sie einen stillen, dämmerigen Saal vor sich, Kranke in den Betten, durch den Mittelgang schreitend, unhörbar, in dunkler Tracht jemanden — das war sie — nein — das war nicht sie ... der Trotz bäumte sich in ihr auf ... Selbstgefühl ... Daseinslust trotz alledem ... sie wollte nicht ihr Leben lang Trauer tragen für einen, dem sie nie etwas gewesen war ... das war ein unnützes Opfer. Sie stand hastig mit den anderen auf — denn nun endlich, endlich wurde die Tafel aufgehoben — und nahm den Arm ihres Tischnachbarn, der sie in die Nebenräume führte.

Dort trank man den Kaffee. Unter dem großen Kronleuchter stand das junge Ehepaar Logow und hielt eine Art Cour ab. Von allen Seiten wurden sie umdrängt. Um die Grotjans kümmerte man sich weniger. Ulla erschien jetzt, wo sie allmählich ihre Farbe zurückgewonnen hatte, wieder viel reizvoller. Sie strahlte in ihrer tannenschlanken, tiefdunklen, schwermütigen Schönheit. Ihr Mann wurde hinausgerufen und kam lachend, einen mächtigen Blumenstrauß in der Hand, zurück.

»Die Unteroffiziere meiner alten Kompanie lassen schönstens Glück wünschen!« sagte er. »Eben war eine Deputation mit dem Feldwebel an der Spitze da. Heute in aller Gottesfrühe ist schon mein verflossener Bursche im Hotelzimmer bei mir angetreten. Auch mit 'nem Bukettchen in der Faust, der biedere Kerl! ... Anhängliche Leute — nicht, Neugereuth?«

[S. 93]

»Ja — die Mannschaft hatte Sie furchtbar gern in der Kompanie ...« bestätigte sein ehemaliger Hauptmann. Eine Stimme rief: »Silentium!« Eine Depesche vom Sitz des Generalkommandos war, etwas verspätet, eingetroffen. Der Allgewaltige des Armeekorps sandte seine Glückwünsche zur Otterslebenschen Hochzeit, und Erich von Logow verbeugte sich beim Anhören leicht, mit einem ehrerbietigen Lächeln, als stände die Exzellenz selber vor ihm.

Und Maximiliane dachte sich in ihrer Ecke: ›Er ist doch schon so glücklich! Was braucht man es ihm noch aufzudrängen, um ihn herum zu wetteifern, vom Kommandierenden bis zum Musketier? Warum verwöhnen ihn alle Menschen so? Und warum nimmt er das so hin, als ob sich das von selbst verstände, und zertritt dabei gerade mich? Warum büße ich für alle, die hier fröhlich und zufrieden sind?‹

Sie wandte sich zur Seite, um ihr leeres Mokkatäßchen wegzustellen, und erblickte den Generalmajor von Glümke, der neben sie getreten war. Er schüttelte das Haupt, sah auf sie hinunter — er überragte sie trotz ihres hohen Wuchses noch um einen guten Kopf — und meinte halblaut: »Na ... Sie armes Aschenbrödel ...«

Es war, als wollte er sie absichtlich reizen. Ihr Stolz flackerte auf. Sie furchte die Stirne und blickte ihn feindselig an: »Herr von Glümke ... was heißt denn das? ... Warum seckieren Sie mich denn fortwährend? Ich hab's jetzt satt!«

Er wurde noch leidenschaftlicher als sie. Er zog die Augenbrauen hoch, eine Bewegung, auf die im Dienste ein furchtbares Donnerwetter folgte, schaute sich[S. 94] um, ob niemand in der Nähe sei, beugte sich ein wenig zu ihrem Ohr und versetzte mit unterdrücktem Grimm: »Ja ... ist's denn nicht wirklich toll? Die verkehrte Welt! Sie ... Sie ... Sie stehen da in der Ecke, und da drüben springen sie und tanzen ... Und alles hat nur Augen für Ihre Schwestern, statt daß man sich um Sie reißt? Ja, sind die Leute denn alle blind? ... Rein von Gott verlassen ist ja die ganze Gesellschaft ...«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Herr von Glümke ... jetzt hab' ich aber genug gehört ...«

Er stellte sich vor sie. Er, der abgebrühte alte Junggeselle und Damenheld, war plötzlich blaß geworden. Er drängte — er befahl förmlich: »Nee — bleiben Sie mal, Kind! Ich muß Ihnen einen Vorschlag machen! Etwas sehr Wichtiges!«

Dabei lachte er verwegen unter seinem kurzen, blonden, kaum merklich angegrauten Schnurrbart. Dieser Gesichtsausdruck war so recht Olaf, der Mann der tausend Streiche, den man trotz Rang und Würde außer Dienst nie ganz ernst nahm. Sie mußte unwillkürlich mitlachen.

»Das wird wieder was Rares sein, Herr General!«

Er machte eine geheimnisvolle und aufgeregte Miene. Er schien ihr mit einemmal verändert, obwohl er immer noch lächelte.

»Also, hören Sie mal, Fräulein Maxe ... Es liegt in Ihrer Hand, diese blinden Hessen hier alle zu strafen — die ganze Blase einfach niederzuschmettern ... Ein Trompetentusch ... ein Hallo ... Und der ganze Zauber da vor uns ist wie weggeblasen! ... Sie sprengen das[S. 95] alles in die Luft. Sie steigen — wie heißt das Fabelwesen doch gleich? — wie der Phönix aus der Asche! ... Sie sind mit einem Schlag der Mittelpunkt! Sie sind die Königin ...«

Sie schaute ihn mißtrauisch an. Hatte er doch am Ende ein Gläschen zu viel erwischt? Aber den Eindruck machte er eigentlich nicht. Er sah, trotz seiner Erregtheit und überhasteten Sprechweise, merkwürdig ernst aus. Sie erwiderte kühl: »Ich versteh' kein Wort, Herr General, was Sie da ...«

Olaf von Glümke ließ sie nicht weiterreden. Er hob die Rechte: »Nee — nee ich sag' Ihnen ja ... Es liegt in Ihrer Hand — weil ich Ihnen die Hand dazu biete ... Sie bitten möchte ...« Es war ein plötzliches werbendes Flackern in seinen blauen Augen, seine Stimme flüsterte eindringlich: »... weil ich Sie inständig bitten möchte ... Fräulein Maxe ... verstehen Sie mich? ... Ich kann nicht so viel Worte machen ... Es sind zu viel Leute hier im Saal ... Fräulein Maxe ... ich mache Sie zur ersten Dame hier im Saal ... in der ganzen Stadt ... der Divisionär ist ja Witwer — weit und breit sind Sie die Erste ... In 'nem Jahr sind Sie Exzellenz, wenn's unserem Herrgott und Seiner Majestät gefällt ...«

»Um Gottes willen — hören Sie auf, Herr von Glümke!«

»Nee ... ich fang' erst an! ... Denken Sie: so mit einem Schlag über Ihre Schwestern — Ihre Freundinnen — ganz oben! Denken Sie, wie sich Ihre Eltern freuen würden! ... Ach, was red' ich da! Was liegt an den ollen Herrschaften — an dem ganzen Klimbim[S. 96] hier? Auf Sie kommt's an ...« Er sprach leidenschaftlich und gedämpft. Beide standen mit leerem Lächeln, eine Maske vor dem Gesicht, um kein Aufsehen zu erregen. »Sie sind das Mädchen danach! Ich würd' es keiner anderen sagen. Aber Sie sind anders als die anderen. Das hab' ich Ihnen auch schon gesagt! Wissen Sie — damals im Wald! ... Das war die entscheidende Stunde. Seitdem hab' ich kein Auge von Ihnen gelassen, seitdem hab' ich immer mehr ... Kommen Sie, Fräulein Maxe ... Ich bitt' Sie ... Kommen Sie ...«

»Wohin?«

»Zu Ihren Eltern! ... Denken Sie: wenn wir auf einmal dastehen ... mitten im Saal ... und der Jubel losbricht ...«

Maximiliane antwortete nicht. Sie war völlig betäubt. In willenloser Angst folgten ihre Augen seinem Blick, der kriegerisch ihre Eltern suchte. Da war Mama. Sie kam gerade auf sie beide zu, wie durch ihn gerufen. Er lachte. Ein Schein von Triumph glitt über seine Züge. Nun war er des Erfolges seines Husarenritts schon halb sicher. Er raunte: »Darf ich reden, Maxe?«

»Nein ... nein ...«

»Aber warum noch warten ... es ist gerade der Moment ...«

»Sie müssen mir doch Zeit lassen ... Sie überrumpeln mich da auf einmal ... Ich bin ja wie aus den Wolken gefallen ... Ich weiß gar nicht, ob ich wache oder träume ... ob Ihnen das überhaupt ernst ist ...«

»Aber ... Maxe ...« Er sah sie vorwurfsvoll und zugleich aufmunternd an. Er nannte sie einfach beim Vornamen. Es fehlte wenig, so nannte er sie schon[S. 97] Du. Er betrachtete sie schon halb als sein Eigen. Wenn sie auch noch nicht ›ja‹ gesagt hatte, eines ›Nein‹ war sie nicht fähig. Das merkte er. Dazu war sie zu erschrocken. Oder geblendet von der Zukunft, deren Vorhang er mit einem Griff vor ihr weggerissen. Sie schwieg und zitterte. Über ihre Wangen jagte eine fliegende Röte und machte tiefer Blässe Platz. Frau von Ottersleben kam an sie heran.

»Ach ... verzeihen Sie einen Augenblick, Herr von Glümke! Du hör mal, Maxe ... die Dorle ist in allen Zuständen. Sie zieht sich eben oben im Hotel um, und nun fehlt die kleine goldene Brillantuhr, das Geschenk von Onkel Bruno. Zum Brautkleid hat sie sie natürlich nicht angehabt, und in dem Korb mit den Sachen aus der Wohnung ist sie nicht mitgekommen. Sie schwört, die Uhr müsse dort noch irgendwo liegen! ... Geh! ... Sei lieb und fahr rasch hin und hol sie!«

»Aber das kann doch auch einer von den jungen Leuten besorgen!« sagte der General. Er hatte einen roten Kopf bekommen und trat vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen.

»Ach, die finden doch nichts! ... Nein ... es ist schon besser ... Du bist ja in fünf Minuten wieder da, Kind ...«

Maximiliane ließ es sich nicht zweimal sagen. Sie lief förmlich davon. Sie dankte ihrem Schöpfer, daß sie Zeit gewonnen hatte. Sie schlüpfte atemlos in einen der geschlossenen Wagen draußen. Der rasselte mit ihr dahin. Sie saß aufrecht und still, die Hände zwischen den Knieen zusammengepreßt, den Rosenkranz auf dem blonden Scheitel. Ihr Herz hämmerte. Auf der Straße gingen die Leute. Die Läden waren[S. 98] offen. Die Kinder kamen aus der Schule. Es war ein Werktag wie sonst. Und in ihr eine Empfindung, als sollte die Welt untergehen. Sie war nahe daran, in ihrer Ratlosigkeit und Hilflosigkeit in Weinen auszubrechen. Sie fühlte sich so schwach. Gerade heute. Glümke hatte sich den Tag gut gewählt. Dann unterdrückte sie ihre Tränen. Sie nötigte sich zur Ruhe, zur Überlegung. Sie sagte sich immer wieder: Ich lasse mich nicht zwingen. Ich hab' mein Schicksal in der Hand ...

Die Droschke hielt vor dem Elternhaus. Sie stieg die Treppen hinauf und öffnete mit dem Drücker die totenstille Wohnung, in der alles in der Unordnung der Festvorbereitungen durcheinander stand und lag. Mitten auf dem Tisch natürlich Dorles Uhr. Sie steckte sie zu sich. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und versank in Sinnen. Es war kein Mensch in den Räumen. Niemand störte sie. Sie war mit sich allein ...

Eine fremde Stimme von irgendwoher frug sie: Wie lange willst du eigentlich allein bleiben? Doch nicht dein ganzes Leben hindurch? Die Eltern werden eines Tages von dir weggehen. Sie hinterlassen dir nicht einmal genug Geld. Du wirst in die Welt hinausgestoßen, um dir dein Brot zu verdienen als alte Jungfer — wegen eines Mannes, der von deinem Opfer nichts ahnt, dem du so gleichgültig bist, wie dir die Spatzen da vor dem Fenster. Nein. Lieben kannst du freilich nie mehr. Aber heiraten wirst du doch — rein aus Vernunft, gerade wie die Ulla ... Und auf wen anderen willst du dann noch warten? ... So etwas bietet einem das Schicksal nur einmal. Gerade er, der da drüben, denkt in seinen Jahren nicht mehr[S. 99] daran, daß du dich noch über die Ohren in ihn verlieben könntest. Dazu ist er viel zu erfahren. Er schlägt dir einen ehrlichen Handel vor. An ihm begehst du kein Unrecht ... im Gegenteil: du versündigst dich an dir und deiner Zukunft und deinen Eltern, wenn du diesen Antrag nicht annimmst ...

Schon aus Trotz! Schon aus einer Art Rache! Sie erhob sich. Jetzt wurde auch das in ihr lebendig. Dann glaubte kein Mensch mehr, daß sie je an einen Hauptmann von Logow gedacht — sie, die Generalin — über ihre Schwestern, ihre Freundinnen — über Mama selber. Man würde sie bewundern ... beneiden ... sie hatte ihre Netze gut ausgeworfen, in aller Stille ... Erich von Logow mußte sich dann selbst gestehen: sie hätte ihn nie genommen — auch wenn er je um sie geworben hätte ...

Das alles war kein Trost. Aber es erzeugte in ihr immer wieder dies dumpfe, nicht abzuschüttelnde Bewußtsein: Du mußt! Du mußt ›ja‹ sagen. Und dadurch kommst du wirklich und endgültig von jenem anderen los, von dem Mann deiner Schwester — wenn du selber einen Mann hast, der dich beschirmt und auf den du dich stützest ... Sie seufzte schwer auf. Es mußte sein. Was sie sich nicht hätte träumen lassen, das erfüllte sich: ehe die Sonne heute über den Dächern da gegenüber sank, war sie auch Braut ...

Sie sah auf die Uhr und erschrak. Fast eine halbe Stunde hatte sie hier gesessen und gesonnen. Sie mußte sich eilen und stieg doch langsam, mit gesenktem Haupt, in ihrem rauschenden Festkleid, die Treppe hinunter, wie zu einem schweren Gang, und fuhr in einer[S. 100] eigenen, eiskalten Ruhe, in der sie das Herz in sich tot und ihren Kopf klar und lebend fühlte, in das Hotel zurück.

Ihre Mutter empfing sie mit Vorwürfen, wo sie denn nur um Gottes willen gesteckt habe? Grotjans seien schon auf dem Bahnhof. Dabei gab sie die Uhr einem der Kadetten. Er solle rennen und sie ihnen noch an den Zug bringen. Maximiliane hatte kaum zugehört. Sie trat mit einem leeren, zerstreuten Lächeln auf den Lippen in den Saal. Da wurde jetzt getanzt. Die Regimentskapelle spielte. Die Paare flogen vorbei. Immer irgendeine Uniform und ein Flattern von Rosa oder Blau oder Weiß. Sie sah es geistesabwesend. Dann packte sie plötzlich jemand und walzte lachend mit ihr los. Es war ihr Bruder Otto, der schon einen kleinen Hieb hatte. Er wirbelte sie wie rasend einmal rundherum, bis sie sich von ihm befreien konnte. Sie blieb schweratmend stehen. Es drehte sich ihr alles vor den Augen. Und da — in diesem Nebel — war auf einmal der General von Glümke da und sagte zu ihr, mit einer Stimme, die wie aus weiter Ferne zu klingen schien: »Kommen Sie, Maxe ... Wir wollen ein bißchen da hinaus.«

Er nahm ihren Arm und führte sie in den Garten hinter dem Hotel, da, wo zuvor die Gruppenaufnahme stattgefunden hatte. Es war ganz still zwischen den grünen Büschen. Die Sonne schien heiß auf die Kieswege. Über ihnen blaute die Himmelswölbung. Er sprach gedämpft, herzlich, bittend ihren Arm an sich drückend: »Maxe ... liebe Maxe ... nun sagen Sie ›ja‹.«

Sie rang danach. Sie brachte es noch nicht heraus.[S. 101] Sie gingen die paar Schritte weiter bis zur rückwärtigen Gitterpforte, vor der eine leere Droschke hielt, und kehrten wieder um.

»Maxe ... nur das eine kleine Wort ...«

Sie wollte es aussprechen und blieb stehen. Es kam ihnen da jemand vom Hotel her auf dem Weg entgegen, nach dem Wagen zu. Ein Paar. Ihre Schwester Ulla, in grauem Reisekleid und Hut und Schleier, und neben ihr in Zivil ihr Mann. Sie wählten den Hinterausgang, um unauffällig zu verschwinden. Der General trat diskret seitlich, in einen umbuschten Rundpfad zurück.

Ulla von Logow küßte hastig ihre Schwester: »Herrgott — da sehen wir uns doch noch! Mama sagte vorhin, du seist in der Wohnung! Adieu, Schatz! Adieu! Adieu!«

Dann reichte ihr der Hauptmann von Logow heiter und eilig die Hand.

»Adieu, Maxe! ... Laß dir's gut gehen! Mach's bald nach, so wie die Ulla und 's Dorle! Und besuch uns recht oft in Berlin, wenn wir zurück sind ... hörst du? ...«

Sie hatte ihn noch nie anders als in Uniform erblickt. In dem lichten Sommeranzug, den weichen grauen Filzhut auf dem Kopf, sah er verändert aus. Und doch — das war er. Immer er. Er blieb, was er war. Für sie blieb er's ... Sie stand und schaute den beiden nach und nickte ihnen noch einmal mechanisch zu. Dann rasselte der Wagen um die Ecke, und in demselben Moment zog ihr eine blinde, alles verachtende, alles mit Füßen tretende, alles gleichgültig in die Ecke schleudernde Verzweiflung das Herz zusammen.

[S. 102]

Der General von Glümke hatte sich ihr genähert. Er murmelte: »Maxe ...«

Da schüttelte sie starr den Kopf, ohne ihn nach ihm zu wenden.

»Ich kann nicht.«

»Aber, um Gottes willen ... Maxe ...«

»Ich kann nicht!«

Er rang die Hände ineinander: »Was haben Sie denn gegen mich?«

»Nichts. Gar nichts, Herr von Glümke.«

»Warum wollen Sie denn dann sich und mir das Leid antun?«

Sie rang mit sich. Sie rang nach Luft.

»Ich möcht' ja gern! Ich tät' es ja gern! ... Aber ich kann nicht ...«

»Auch nicht, wenn Sie es sich noch einmal überlegen, Fräulein Maxe?«

»Ich hab's mir ja überlegt! Nein ... Auch dann nicht! ... Bitte, gehen Sie ... Quälen Sie mich nicht mehr ... Und seien Sie mir nicht böse ... Ich kann nicht ...«

Sie hatte es kaum mehr hörbar zwischen ihren blassen, zusammengepreßten Lippen gemurmelt. Er stand noch ein paar Sekunden und wartete. Dann, da sie schwieg, war es auch für ihn entschieden. Er machte eine leichte, höfliche Verbeugung, wandte sich auf dem Absatz um und trat in das Haus. Von dort tönte die Tanzmusik. Um sie wiegten sich leise die grünenden Knospen im Maiwind. Ein feiner, süßer Frühlingsduft stieg vom Hyazinthenbeet am Boden. Schmetterlingsgegaukel wiegte sich darüber im Sonnenschein. Sie stand still und schloß die Augen. Es war alles wie ein Traum ...

[S. 103]

5

Vom Königlichen Schlosse zu Berlin kommend, schritt der Oberst Bruno von Ottersleben über die Spreebrücke nach den Linden zu. Er war in großer Paradeuniform, mit Helm und Schärpe, eine glitzernde Ordensreihe auf der Brust, die der trotz der Februarkälte nur lose über die Epauletten geworfene hechtgraue Mantel freiließ. Er ging langsam, fast ein wenig schwerfällig, in seiner breitschultrigen, würdevollen Stattlichkeit. Sein kluges, derb geschnittenes Gesicht, mit den aufmerksamen Augen, trug einen wohlwollenden Ausdruck. Ein anderer älterer Militär mit silbergesticktem Kragen und Gardesternen kam ihm entgegen. Er winkte schon von weitem: »'Morgen, Ottersleben! ... Na — auch mal wieder in Berlin! Famos! ... Wie — nur auf vierundzwanzig Stunden? ... Ach nee ... machen Sie keine Späße ... Wo haben Sie denn Ihre Generalstabstreifen gelassen? Nicht mehr bei den Halbgöttern? — Was?«

»Augenblicklich nicht! Ich hab' ein Regiment gekriegt. Die Zweihundertvierundvierziger in Straßburg! Eben hab' ich mich bei Majestät gemeldet!«

»Gnädig?«

»Sehr.«

»Famos! ... So ... so ... Straßburg ... na —[S. 104] grüßen Sie dort die Müritzens von mir — und was ich sonst noch von der Blase kenne ... und bitte mich gehorsamst der Gattin zu Füßen zu legen ... Auf Wiedersehen!«

Oberst von Ottersleben setzte seinen Weg fort. Er stieß hier in Berlin, wo er viele Jahre in der Garde und im Generalstab gestanden, auf Schritt und Tritt auf Bekannte. Seine Mienen erhellten sich plötzlich. Zwei hochaufgeschossene junge Lichterfelder Kadetten schritten da eilig und gleichmäßig die Linden hinauf. Seine Söhne. Er hatte, in der Zeit gedrängt, gebeten, sie ihm auf eine Stunde nach Berlin hereinzuschicken, damit er sie wenigstens zu Gesicht bekäme. Vor dem historischen Eckfenster Unter den Linden trafen sie sich. Er freute sich über die Jungen und ging mit ihnen in die Habelsche Weinstube zu ihrer Linken frühstücken, wo er als junger Gardeleutnant schon vor Jahrzehnten gesessen, noch zur Zeit des großen Kaisers, und den Scherzen und Späßen der alten Flügeladjutanten und Generale an ihrem berühmten runden Stammtisch nebenan zugehört hatte, damals, als 1870 noch beinahe wie ein Traum von gestern war. Er fütterte seine Sprößlinge und schmunzelte, wie sie gleich jungen Wölfen einhieben. So hatte er es in seiner Kadettenzeit auch gehalten, wenn er, noch ein halbes Kind, am Sonntag zu Großpapa Exzellenz durfte, dem uralten, hoch in den Achtzigern stehenden Herrn, der noch Napoleon mit eigenen Augen gesehen und unter Blücher gefochten hatte und nach Tisch davon erzählte, wie sie, die Ostpreußen voran, am Abend des zweiten Tages der Völkerschlacht das Grimmasche Tor in Leipzig erstürmt[S. 105] hatten. Und wie der Oberst von Ottersleben daran zurückdachte, erschien ihm diese ganze Folge von Generationen als eine aus Erz geschmiedete Kette — endlos, sich immer wieder aus sich erneuernd, wie die Armee selbst, und er war nur ein einzelnes, zufälliges und hoffentlich ein nützliches Glied in dieser langen Reihe und wollte seine Söhne eben dazu erziehen.

»Ich hab' hier ein bißchen auf den Busch geklopft!« sagte er beim Aufbruch, nachdem ihm Günter und Busso immer abwechselnd das Frühstück hindurch, der eine kauend, der andere sprechend, alles Neue von ihrem Leben im Korps, den Erziehern, den Kameraden, den Zivillehrern, der Tanzstunde und dem Ball in voriger Woche erzählt hatten. »Es ist Aussicht, daß ihr beide seinerzeit in mein altes Regiment hier kommt, das ja euer Großvater auch schon geführt hat ... Aber nun haltet auch die Ohren steif und macht mir keine Dummheiten, sonst ist's Essig mit der Gardeinfanterie!«

Die beiden lachten. Sie wußten: Ihnen war die Garde sicher! Sie gingen rechts und links von ihrem Vater die Linden hinunter, lang und dünn wie die Heringe, neben seiner breiten, ordensbedeckten Brust. Es war ein Bild des Nachwuchses der Armee. Vorüberkommende sahen beifällig auf den Oberst und seine Söhne. Am Brandenburger Tor präsentierte der Posten das Gewehr vor ihm. Er winkte ab und verabschiedete sich von den jungen Kriegern. Die mußten zum Potsdamer Bahnhof und von da nach Großlichterfelde zurück. Er selber schlug den Weg zur Rechten nach dem Königsplatz ein.

[S. 106]

Alle Straßen trugen hier die Namen preußischer Siege, preußischer Feldherren. Die schweren Goldmassen der Viktoria schimmerten auf der vom Erz eroberter Geschütze umgürteten Siegessäule. In der trüben Luft ragten drüben die Denkmäler Moltkes und Roons. Gerade hinter der Statue des großen Kriegsministers erhob sich ein nüchternes, vielfenstriges Backsteingebäude: der Sitz des Generalstabs.

Der Oberst von Ottersleben war in diesen hellen, schmucklosen Korridoren, diesen Reihen von einfachen Schreibstuben, die ebensogut irgendeiner beliebigen preußischen Behörde hätten dienen können, seit langem zu Hause. Er wußte, wo er einen jeden fand, den er suchte. Er meldete sich bei einem der Oberquartiermeister, der seit langem sein Gönner war, er schaute zu alten Kameraden in den Nachrichtenabteilungen in die Stuben, er traf in der Eisenbahnabteilung einen dort über der Mobilmachung brütenden Oberleutnant seines neuen Regiments, der noch dessen Uniform trug, und ebenso ein paar Vettern in der trigonometrischen und der kartographischen Abteilung der Landesaufnahme. Und überall fand er dasselbe: straffe, schweigende, unermüdliche Arbeit ... Nun betrat er, mit den sonstigen Zwecken seines Kommens zu Ende, das Zimmer des Hauptmanns von Logow. Der drinnen war so in seine Tätigkeit vertieft, daß er das Klopfen und Öffnen der Tür überhörte. Er saß an einem großen, mit Papieren und Haufen von ausländischen Zeitungen bedeckten Tisch und schrieb. Beim Klang einer fremden Stimme schob er mechanisch vor allem das sekrete Schriftstück, das er unter den Händen hatte, zwischen[S. 107] zwei Löschblätter, um es vor unberufenen Augen zu verdecken. Dann erhob er sich.

»Ach — du bist's, Onkel Bruno,« sagte er lachend. »Na — da hätt' ich's nicht nötig gehabt! Du kennst ja den Zauber ... das ist ja nett ... komm ... setz dich!«

Der Oberst von Ottersleben war stehen geblieben.

»Ich werd' mich hüten und dir die Zeit stehlen. Du hast hier mehr zu tun! Ich wollt' nur im Vorübergehen fragen: wann trifft man dich denn zu Hause?«

»Abends immer!«

»Schön! Da komm' ich heute auf ein Butterbrot. Wie geht's denn deiner Frau?«

»Ausgezeichnet!«

»Und dir?«

»Mir dito! ... Warum?«

»Na — du schaust ein bißchen elend aus!«

Erich von Logow stand am Fenster, hell vom Grau des Wintermittags beschienen. Es lag noch die alte Festigkeit und Spannkraft auf seinen Zügen. Aber in seinen Augen war etwas, das seinem Oheim nicht gefiel. Sie blickten nicht mehr mit dem früheren, gleichgültigen, unerschütterlichen Selbstbewußtsein in die Welt. Eine leichte Unruhe oder Müde spiegelte sich darin. Der junge Hauptmann zuckte die Achseln und schob eine Nummer des ›Russischen Invaliden‹, die vor ihm lag, über die Tischplatte.

»Ja, Gott — was Nerven sind, das lernt doch fast jeder hier kennen, Onkel ... Ich bin doch nun — wart mal ... laß mich rechnen ... also 's sind nun auf den Kopf zwei Jahre, daß ich im Generalstab bin ...[S. 108] Man gewöhnt sich hinein ... schließlich ist das hier auch reines Training! Nee — nee — Onkel, mir geht's ganz ausgezeichnet ...«

»Na, um so besser!« sagte der Oberst. »Also auf Wiedersehen heute abend! Grüße Ulla!«

»Danke!« Sein Neffe geleitete ihn zur Tür und wiederholte dort hartnäckig und eigentlich ohne Not: »Ich steh' hier schon meinen Mann. Ich denke, man ist mit mir so weit zufrieden ...«

Als der Ältere wieder auf den Königsplatz hinaustrat, klang ihm im Ohr, was er heute in dem großen Haus da innen an verschiedenen Stellen über Erich von Logow gehört: Zufrieden? ... O ja — gewiß. Es ist nichts zu sagen. Eine außerordentliche Arbeitskraft. Ein kluger Kopf. Ein ernster, tadelloser Charakter. Nur eben ...

Ja — dies ›nur‹, in dem sie einig waren: nur — wir haben den Eindruck: er gibt nicht sein Bestes! Sein Letztes! Er lebt unter einem gewissen Druck. Was es ist, wissen wir nicht ...

Herr von Ottersleben schüttelte etwas sorgenvoll den Kopf, während er eine Droschke heranwinkte. In der Gegend der Hardenbergstraße in Charlottenburg stieg er aus und klopfte in einem der großen Miethäuser an eine Treppentür, an der außen die Visitenkarte: ›Otto von Ottersleben, Leutnant im Feldartillerieregiment Nummer 86, kommandiert zur militärtechnischen Akademie‹ angenagelt war. Sein Neffe war daheim. Bei ihm zwei Freunde, die mit ihm Zigaretten geraucht und Schnäpse getrunken hatten. Er stellte sie vor: den einen, den kleinen blauen Husaren mit dem[S. 109] Monokel, als Leutnant von Wrobel, den anderen, den glattrasierten Zivilisten in Trauerweidenhaltung und streng englischem Klubschnitt, als Baron Lohgrewe — auch früher aktiv bei den neunundzwanzigsten Ulanen. Und noch dort in Reserve, wie er schnell hinzusetzte. Denn er merkte, daß das nicht recht eine Erscheinung nach dem altpreußischen Herzen seines Onkels war, und der frug auch, kaum daß sich die beiden Herren empfohlen, unbehaglich: »Wer ist denn das? Was treibt er denn?«

»Gott ... er geht so in Berlin herum.«

»Hat er denn Geld genug dazu?«

»Es scheint doch.«

»Und der andere, der Husar?«

»Der kommt immer mal so aus seiner Garnison herüber!«

Oberst von Ottersleben schaute dem hübschen, dunkeläugigen Offizier scharf ins Gesicht und forschte gedämpft: »Junge — du bist doch nicht unter die Spieler geraten?«

Der andere lachte. »So dumm bin ich nicht, Onkel!«

»Aber warum verkehrst du nicht lieber mit deinen Kameraden?«

»Tu' ich auch. Aber die sitzen des Abends im Bräu. Das ist stumpfsinnig. Ich will unter Menschen. Leute wie der kleine Wrobel und Lohgrewe kennen ganz Berlin. Die haben mich überall eingeführt!«

Sein Oheim musterte eine mit Visitenkarten und Einladungen gefüllte Schale auf der Kommode. Es waren lauter bürgerliche Namen aus Berlin W. Er kannte keinen einzigen davon. Es schien sich um reiche Leute zu handeln. Man las häufig den Titel: Generalkonsul[S. 110] — Geheimer Kommerzienrat — Generaldirektor. Ganz zuoberst lag eine Karte: »Herr und Frau John Bannersen bitten Herrn Leutnant von Ottersleben auf Sonnabend, den 4. Februar, zum Ball.«

Sein Neffe erläuterte: »Da steckt ein klotziges Geld, Onkel Bruno! ... In Baumwolle zusammengeschuftet! Nun hat sich's der Alte in Berlin bequem gemacht. Eigentlich ist er Bremenser.«

»Sag mal: sind da auch Töchter im Haus?«

Der junge Ottersleben mußte über die Naivität dieser Frage beinahe lachen.

»Eine! Mehr haben sie nicht!«

»Ach so!«

Der Oberst setzte sich und fuhr fort: »Weißt du, ich an deiner Stelle würde den Verkehr in den Häusern dieser Millionäre aufstecken! Das ist nichts für uns, Otto — glaub es mir!«

»So? Und übers Jahr sitz' ich wieder in der Provinz!« sagte der junge Leutnant, nervös vor Ungeduld. »Dann ist's mit allem vorbei! ... Mir hat man überhaupt unrecht getan, Onkel! ... Du warst in der Garde. Den Günter und den Busso steckst du in die Garde. Papa war in der Garde. Meinen jüngeren Bruder, den Peter, hat er jetzt bei den dreizehnten Grenadieren untergebracht — dem bildschönen schlesischen Feudalregiment! Ich, der älteste, mußte seinerzeit da draußen in die Linienartillerie ... warum? Da hieß es: sparen ... sparen ... wir haben die drei Mädels auf dem Hals! Nun, wo zwei davon versorgt sind und nur noch die Maxe übrig ist, da ist's für mich zu spät. Und wenn ich mich dann aus eigener Kraft ein bißchen[S. 111] aufrappeln will und nicht gerade ein Unmensch bin, wenn sich mir hier in Berlin W. etwas bieten sollte, ist's auch nicht recht!«

Er brach ab und setzte dann trotzig, seine letzten Ziele verratend, hinzu: »Ich will doch nicht den Abschied nehmen und faulenzen! Ich will doch bloß zur Kavallerie ...«

Es war eine Pause. Dann hub der Oberst an: »Und was sagt denn dein Vater dazu?«

»Papa? ... Mit dem hab' ich darüber nicht gesprochen. Ich war schon ein halbes Jahr nicht mehr daheim. Ich muß wirklich mal nächstens hinüber. Unter uns: es geht Papa gar nicht gut mit der Gesundheit ...«

»Ja, leider. Ich hab's gehört!«

Der ältere Ottersleben schwieg. Ihm gefiel das alles nicht. Er zündete sich eine Zigarre seines Neffen an und meinte nach den ersten blauen Wolken beiläufig: »Kommst du oft zu Logows, Otto?«

»Nee!«

»Warum denn nicht?«

»Es ist zu langweilig! Entweder sie zanken sich, oder haben sich gerade gezankt, oder werden sich nächstens zanken! Dann hockt er finster da, und die Ulla mault. Und du machst als Gast ein geistreiches Gesicht. Nee — gemütlich ist's bei den Logows nicht! Das kannst du mir glauben, Onkel!«

»Hm — hm ... also du meinst wirklich, es ist da nicht alles, wie es sein sollte? Ich frage nicht bloß aus verwandtschaftlichem Interesse, mir liegt wirklich auch viel an Erichs Karriere!«

»Ja, Gott! Er hat eben bis über die Ohren zu tun,[S. 112] und sie mopst sich unterdessen, und wenn sie dann beisammen sind, haben sie sich nichts zu sagen.«

»Das ist aber recht traurig!«

»Ja, ich weiß auch nicht, was sich Logow von der Ulla eigentlich versprochen hat! Ich, als Bruder, hab' sie ja immer mordend langstielig gefunden, und die Kameraden auch! Sie sitzt eben da und ist schön. Viel mehr kann man mit ihr nicht anfangen. Sie gehört mitten in einen Ballsaal und hundert Menschen um sie 'rum! Dann ist sie in ihrem Element ... Ja — das kann er als Generalstäbler nicht, und sie haben's auch nicht dazu. Sie hat sich gedacht: Berlin — das ist so das große Leben! Aber in den kleinen Garnisonen amüsieren sich die Leute oft viel besser! Na: die Ulla ist apathisch von Natur. Die findet sich schließlich in alles! Es ist nicht so schlimm.«

»Hoffen wir's!« sagte der Oberst von Ottersleben sehr ernst und verabschiedete sich.

Als er einige Stunden später des Abends bei den Logows saß, war er eigentlich angenehm enttäuscht. Es machte alles einen ganz netten Eindruck. Seine Nichte und ihr Mann kamen nicht nur ihm freundlich entgegen, sie waren es auch untereinander, kein Ehepaar voll eines überströmenden Glücks, aber eines, das sich schließlich ineinander gefunden zu haben schien, wie tausend andere. Er beobachtete im stillen Ulla, während sie mit ihren ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen am Teekessel hantierte. Sie hatte in ihrer Erscheinung als Frau nicht ganz das gehalten, was sie als Mädchen versprach. Sie war auf jener Entwicklungsstufe eines schönen lebenden Bildes oder leblosen Bildes stehen[S. 113] geblieben, das er von früher her kannte. Die Reife der Durchgeistigung fehlte. Im Dunkel ihrer großen, mandelförmigen Augen lag zuweilen eine bleierne, leer in sich verträumte Teilnahmlosigkeit, namentlich wenn Erich von Logow sich einmal aus seiner gewohnten Schweigsamkeit aufraffte und jedesmal auch gleich vom Dienst sprach. Dann hörte sie sofort nicht zu und ließ, die Hände im Schoß, ihre Blicke müde durch das Zimmer schweifen. Er schien das schon gewohnt, und der Oberst sagte sich: So sitzen sie wahrscheinlich des Abends beisammen, wenn kein Gast da ist, und haben einander absolut nichts mehr mitzuteilen ... Er wollte diese Stimmung nicht aufkommen lassen und frug: »Na — und und was hört ihr von zu Hause, Kinder ... Euer guter Papa macht euch leider Sorgen — nicht wahr?«

Die junge Frau nickte und holte einen Brief ihrer Mutter hervor. Die Nachrichten waren schlimm. Papa hatte Schwindelanfälle. Neulich war er gerade auf der Treppe gestürzt. Es kostete ihn immer mehr Mühe, sich in den Sattel zu schwingen. Aber als der Bursche einmal den Gaul an einen Prellstein im Hofe geführt hatte, war er wütend geworden. Er sei noch kein Spitalbruder! Warum man ihm nicht lieber gleich eine Leiter brächte? Er verbäte sich diesen Unfug!

Es war eine sorgenvolle Pause. Dann forschte der Regimentskommandeur in seiner frischen unmittelbaren Art: »Na — und was macht denn eigentlich die Maxe? Seht ihr sie oft? Kommt sie mal zu euch 'rüber?«

»Wir sind jetzt fast zwei Jahre verheiratet!« sagte Logow. »Aber seit meinem Hochzeitstag hab' ich die Maxe nicht mehr gesehen!«

[S. 114]

»Nanu?«

»Jawohl! Die beiden Male, wo wir inzwischen drüben zu Besuch bei ihren Eltern waren, war sie jedesmal gerade in Thorn, bei Grotjans. Bei denen ist sie oft. Die liebt sie! Aber von uns will sie nichts wissen.«

»Komisch! Man sollte doch meinen, ein junges Mädel müßte froh sein, wenn sie Berlin so bequem vor der Nase hat. Übrigens: so ganz jung ist sie ja auch eigentlich nicht mehr ... Sie wird doch mit Gottes Hilfe dies Jahr fünfundzwanzig ... Hört mal: warum heiratet sie denn eigentlich nicht?«

Er wandte sich dabei an Ulla. Sie goß ihm Tee ein und erwiderte kühl: »Das frägst du mich auch zu viel, Onkel Bruno! Ich weiß es nicht!«

Sie mußte plötzlich husten. Es dauerte ziemliche Zeit. Ihr Mann sah sie dabei schweigend und eigentümlich besorgt an. Dann meinte sie, noch mit geröteten Wangen und feuchten Augen, zu ihrem Onkel: »Das ist nun mein üblicher Winterkatarrh. Den krieg' ich im Oktober und werde ihn vor Mai nicht los. Das war voriges Jahr gerade so. Du, Erich ...«

»Ja ...«

»Mir ist mit Papa so ein bißchen bang! Am liebsten führe ich morgen mal hinüber ...«

»Ja, tu das nur!« versetzte ihr Mann gleichgültig.

Der Oberst von Ottersleben merkte aus den paar Worten: Die beiden stritten sich nicht mehr, wie es sein Neffe, der Artillerist, von früher her behauptet. Sie waren aneinander müde geworden. Sie ließen einander gehen, wie sie wollten. Er wartete, bis die junge[S. 115] Frau das Zimmer verlassen hatte. Dann wandte er sich an Logow, der in seinem schweigenden Brüten, abgespannt von der Arbeit des Tages, dasaß: »Na, Erich — nun sind wir unter uns! Nun können wir vom Kommiß reden, ohne deine bessere Hälfte zu langweilen ... Nu sag mal: was machst du für Geschäfte in Berlin?«

Im Augenblick hatte Erich von Logow sich gesammelt und seine Nerven und seinen Willen in der Hand.

»Ich hab's dir ja heute mittag schon gesagt. Ich bin schon auf dem rechten Weg. Die Karre läuft schon, wie sie soll!«

»Es fehlt dir gar nichts?«

»Was sollte mir wohl fehlen?«

Der junge Hauptmann sprach es sehr kühl und fügte hinzu: »Sei nur unbesorgt! Es ist alles in schönster Ordnung!«

»Ich hab' ja auch nie das Gegenteil behauptet, mein Sohn!« versetzte der Oberst gelassen. »Nimm mir mein Interesse, als älterer Generalstäbler für einen jüngeren, nur nicht gleich übel!«

»Ich bin dir dankbar dafür, Onkel ... Nur ... ich spreche ungern viel von mir selber! ... Sag mal: ist dir das Teegesöff da nicht zu labberig? Möchtest du nicht lieber ein Glas Bier? ... Warte — ich hol's dir rasch ...«

Er stand auf. Draußen schrillte die Flurklingel.

»Nanu?« murmelte er. »Was ist denn das? Noch um neun Uhr abends?«

Fast zugleich klang im Korridor ein Aufschrei Ullas.

»Papa ... um Gottes willen ... Papa ...!«

[S. 116]

Und dann die völlig ruhige Stimme ihres Vaters, zugleich mit dem Klirren eines an den Haken gehängten Säbels.

»Nun ja, Mieze! ... Tu doch nicht so, als wär' es mein Geist! Ich bin's wirklich!«

Der Oberst Thilo von Ottersleben stand auf der Schwelle, im Interimsrock seines Infanterieregiments Burggraf Friedrich von Nürnberg. Er sah ganz wie gewöhnlich aus, höchstens daß die hellbraunen Augen etwas leidend blickten. Er war im letzten Jahr sehr gealtert. Er hatte noch mehr Fältchen auf den feinen und klugen, an einen Gelehrten erinnernden Zügen bekommen und mußte sich Mühe geben, um sich in den Schultern straff aufrecht zu halten. Er begrüßte Bruno und Schwiegersohn, als wäre gar nichts Besonderes geschehen, und setzte sich. Er war von dem kurzen Treppensteigen sehr außer Atem.

»Warum ich auf einmal hier bin, Kinder?« sagte er. »Na, das will ich euch verraten: also — es ging auf einmal nicht mehr! ... mitten auf dem Exerzierplatz ging mir heute morgen die Puste aus ... es war ein Schwindel ... schwarz vor den Augen ... ich hab' mich vor der Mannschaft geschämt, aber es half nichts ... ich mußte 'runter vom Pferd — sie haben mich fast gehoben — und mich auf den Arm vom Adjutanten stützen und nach Hause gehen ... Nun frag' ich euch: kann ich's in der Verfassung noch vor Seiner Majestät verantworten, ein Regiment zu kommandieren? ... Ich sage: nein! ... Du hast eben die Zweihundertvierundvierziger gekriegt, Bruno, und ich gebe die Hundertachtundachtziger ab! Das wird das Ende vom Lied sein!«

[S. 117]

»Ich will nicht warten, bis man höheren Orts meldet: Der Kerl kann nicht mehr kriechen!« fuhr er fort. »Unser guter Stabsarzt versteht vom Whistspielen mehr als von so 'nem inneren Knacks ...« Er lachte plötzlich leise und geheimnisvoll in sich hinein. Sein Antlitz zeigte eine geisterhafte Blässe. Er schien denen um ihn auf einmal verändert. »Ich bin nämlich schon seit heute mittag in Berlin, Kinder! Und um halb sechs bin ich zu 'ner Autorität in die Sprechstunde gestiefelt ... Wollte mal Gewißheit haben. Der berühmte Mann hat die längste Zeit an mir 'rumgeklopft und 'rumgehorcht. Und das Ergebnis: Du mußt mir nachher einen Bogen Papier geben, Erich! Ich schreibe heute noch mein Abschiedsgesuch.«

»Und du mußt mich für heute nacht hier aufnehmen, Mieze!« sagte er beinahe bittend, in dem tiefen allgemeinen Schweigen zu Ulla. »Ich hab' heute so einen merkwürdigen Widerwillen gegen ein Hotel. Ich weiß lieber jemand wie Erich in der Nähe! Der Professor wollt' es auch. Ich kann ja auch auf dem Kanapee da schlafen. Da stör' ich euch dann nicht!«

»Das fehlte noch, Papa!« Erich von Logow legte selbst mit Hand an und trug gemeinsam mit dem Burschen eines der schweren Betten aus dem Schlafzimmer hinüber in den Salon. Ulla und das Mädchen machten dem Hausherrn unterdessen an der leeren Stelle ein Notlager auf dem Boden zurecht. Ihr Vater saß in dem Getriebe still und freundlich, müde da, als ob es ihn eigentlich gar nichts anginge. Sein Bruder reichte ihm die Hand.

»Ich geh' jetzt, Thilo! ... Wir sehen uns noch morgen früh! Laß es dir gut gehen!«

[S. 118]

Der andere hatte sich erhoben. Die beiden Brüder und Regimentskommandeure standen einander gegenüber.

»Lasse du es dir gut gehen!« sprach er laut. »Bringe du unseren Namen weiter zu Ehren! Du bist der Mann dazu! Du kommst noch hoch hinauf in der Armee. Das wünscht dir niemand mehr von Herzen als ich! Gute Nacht, mein guter Bruno! Und nun komm einmal her, Erich! ... Ich habe mit dir unter vier Augen zu sprechen, solange deine Frau noch draußen herumkramt! Die Frauenzimmer brauchen nicht alles zu wissen, die machen nur ein unnützes Geschrei. Wir sind Männer. Also: der Professor heute hat mir reinen Wein eingeschenkt. Wer weiß, wielange ich noch leb' ...«

»Aber Papa ...«

»Pscht! ... Es ist ein Klaps am Herzen! ... Vom Ärger im Dienst stammt der nicht, seit der Glümke seit 'nem Jahr seine Division im Elsaß hat und mich schon vorher in Ruhe gelassen und auch nicht mehr zu uns ins Haus gekommen ist. Mit seinem Nachfolger hab' ich mich vorzüglich vertragen. Und Mama mit ihr auch. Alle Vorgesetzten haben mir das Leben leicht gemacht. Aber der Mensch wird eben alt, mein Sohn. Er nutzt sich ab. Nachtwächter kann man in der Armee nicht brauchen! Ob man hinterher noch ein bißchen länger oder kürzer in Berlin oder Wiesbaden spazieren kraucht — als alter Soldat muß man auf den Tod gefaßt sein. Nur schade, daß man in die Grube fährt, ohne einmal wirklich Pulver gerochen zu haben — nach siebenunddreißig Jahren Dienstzeit — das ist der lange Frieden. Wenn ich denke: drei Ottersleben sind allein[S. 119] bei Zorndorf gefallen — andere bei Hochkirch — einer schon bei Fehrbellin ...«

Seine Gedanken verloren sich eine Sekunde in die Weite. Über seinen Zügen, die das Lampenlicht hell beschien, war ein seltsamer, vergeistigter Schimmer. Dann war er wieder ganz der Alte, nahm einen Schluck Bier und fuhr fort: »Gott sei Dank, ich kann ja ohne Sorgen gehen! Mein Haus ist geordnet. Mama hat ihre Pension. Die Ulla ist bei dir gut aufgehoben, das Dorle bei ihrem Mann ebenso. Meine beiden Jungen tragen den bunten Rock. Alles ist schön ... Bis auf das eine ... Bis auf die Maxe! Und da hab' ich nun eine Bitte an dich, mein lieber Erich! Sieh: du bist nach meinem Tode quasi das Haupt der Familie, denn die andern ... der Otto ist ein Windhund, sein Bruder noch das reine Kind — der Grotjan ein guter Kerl, aber kein Kirchenlicht ... Also, da muß ich mich schon auf dich verlassen ...«

»Unbedingt, Papa — wenn je einmal der Fall ...«

»... und da binde ich dir die Maxe auf die Seele! Schau, daß noch was Vernünftiges aus dem Mädel wird. Nimm sie möglichst mal zu euch ins Haus. Und sorge, daß sie noch ein bißchen unter Menschen kommt und 'nen ordentlichen Mann kriegt. Es ist ja furchtbar schwer mit ihr, ich weiß. Sie ist ja verdreht. Diesen Winter wollte sie überhaupt kaum mehr ausgehen. Dabei hat sie es weiß Gott nicht nötig, die Flinte ins Korn zu werfen. Im Gegenteil: du wirst dich wundern, wie hübsch sie geworden ist. Sie hat sich merkwürdig herausgemacht in den letzten Jahren!«

»Ja, es ist nur das eine, Papa!« sagte der Hauptmann[S. 120] von Logow. »Ich hab' sie die ganze Zeit nicht gesehen. Sie besucht uns ja nie. Sie hat etwas gegen uns ...«

»Ach — höchstens gegen die Ulla!« meinte der Oberst treuherzig. »Das sind so Nücken. Das gibt sich von selber, wenn sie auf einmal kein Elternhaus mehr hat. Dann wird sie froh sein, wenn sich noch jemand um sie kümmert. Seid dann recht freundlich zu ihr! Versprich mir das!«

»Mein Wort, Papa! ... Aber gottlob hat es ja noch keine Not!«

Herr von Ottersleben hatte die Hand seines Schwiegersohns gedrückt und sich mühsam erhoben. Er gähnte leise und müde.

»Nun kann ich ruhig schlafen gehen,« sagte er. »Vorher schreib' ich noch das Gesuch. Oder schließlich: es hat ja noch bis morgen früh Zeit. Jetzt flimmert es mir so komisch vor den Augen. Da mach' ich heilig noch 'nen Fehler, und radieren darf man in so 'nem Dings doch nicht ...«

Er küßte seine Tochter, die in das Zimmer getreten war, und begab sich zur Ruhe. Das Ehepaar Logow sah sich, allein geblieben, stumm und besorgt an. Dann gab Ulla ihrer beider Gedanken Ausdruck und sagte: »Ein Glück, daß unter uns im Hause ein Arzt wohnt, falls Papa in der Nacht etwas brauchen sollte.«

Wirklich wurde der Doktor nach kaum einer Stunde heraufgeholt. Herr von Ottersleben war im Bett von einer schweren Ohnmacht befallen worden, die erst nach geraumer Zeit den belebenden Mitteln wich. Nun war er wieder bei sich und versicherte freundlich mit[S. 121] seiner stoischen Ruhe aus den Kissen: »Es ist nichts, Kinder, geht doch schlafen!« Aber der Arzt machte im Nebenzimmer eine bedenkliche Miene. Er meinte, als man ihn frug, es sei doch vielleicht angezeigt, die nächsten anderen Angehörigen bald zu benachrichtigen, und Erich von Logow sagte zu seiner Frau: »Ich fahre am besten jetzt gleich in die Französische Straße und telegraphiere an Mama und Maxe! Es ist jetzt dreiviertel elf. Da können sie noch den Nachtschnellzug benützen und sind morgen früh kurz vor sieben hier. Ich hole sie dann auf dem Bahnhof ab.«

Die Nacht, in der das Ehepaar Logow wenig Schlaf gefunden, und immer abwechselnd, auf den Fußspitzen schleichend, nach dem Vater gesehen hatte, verlief ohne Zwischenfälle. Das erste Morgengrauen dämmerte fahl über dem Häusermeer des Ostens, als der Hauptmann von Logow, den roten Kragen seines Mantels hochgeschlagen, in der bitteren Winterkälte harrend auf dem Bahnhof auf und ab ging, auf dem die farblosen Massen der mit den Vorortzügen kommenden Arbeiter seine leuchtende Uniform umströmten. Mißgünstig, mit Blicken finsterer Neugier, Menschen einer anderen Welt, schoben sie sich an dem Generalstabsoffizier vorbei. Er beachtete sie nicht. Er stand, die Hände in den Taschen, und schaute ungeduldig in das trübe Zwielicht hinein, in dem rot, grün und gelb, von fließenden Nebelkreisen umrahmt, die Hunderte von Lichtern des Bahnhofes funkelten. Und dann in der Ferne ein paar behutsam nähergleitende runde Feueraugen — eine Dampfwolke — der Zug hielt. Er erkannte an einem Fenster Frau von Otterslebens bleiches und übernächtiges Gesicht[S. 122] und half ihr heraus und hinter ihr Maximiliane, und selbst in diesem Augenblick der Aufregung und Sorge, während er, die eiskalte Hand seiner Schwägerin stützend in seiner behandschuhten Rechten hielt, und sie mit wirrem Haar, blaß von der Nachtfahrt, schweigend vom Trittbrett auf ihn niederschaute, selbst da mußte er an die Worte ihres Vaters denken, wie hübsch sie geworden sei. Das war nicht mehr der scheue unregelmäßige Reiz eines Mädchengesichts. Ihre Züge hatten sich ausgeglichen und veredelt. Sie ähnelte jetzt in ihrem hohen, schlanken Wuchs der klassischen Schönheit der Schwester — nur daß sie ein lebender Mensch war und nicht eine müde Statue.

Sie sprachen wenig, in ihrer Unruhe, bis sie die Wohnung erreichten. Dort kam ihnen Ulla leise auf dem Flur entgegen.

»Gottlob — es geht besser!« flüsterte sie.

»Schläft Papa noch?«

»Nein. Denkt euch nur: vorhin — ich glaubte, mich rührt der Schlag, kommt er in Uniform ins Zimmer, als ob gar nichts wäre! Er ist heimlich in aller Frühe aufgestanden und war auch nicht dazu zu bringen, sich wieder hinzulegen. Er habe jetzt zu tun, sagte er. Er hat sich aus Erichs Schublade Papier geholt. Er sitzt drüben und schreibt ...«

Vorsichtig näherten sie sich der Tür und öffneten sie, da auf ihr Klopfen kein ›Herein‹ erklang, und Ulla raunte: »Nun ist Papa glücklich wieder eingeschlafen! Ich dacht' es mir doch!«

Der Oberst von Ottersleben saß in voller Uniform in den Stuhl zurückgelehnt vor dem Tisch. Das Morgenlicht[S. 123] umspielte sein feines, müde nach vorn gesunkenes Haupt. Er rührte sich nicht, auch als sie in die Nähe kamen, ihn leise anriefen. Sie sahen sich erschrocken an. Der Arzt von unten war ihnen gefolgt. Er drängte sich an ihnen vorbei und beugte sich zu dem Schlummernden nieder. Eine bange Minute verstrich. Dann richtete er sich empor und sagte sehr ernst: »Seien Sie gefaßt: der Herr Oberst wacht nicht mehr auf!«

Es war ein tiefes Schweigen. Der Oberst von Ottersleben saß ruhig in seiner Uniform. Vor ihm, auf dem Tisch, lag das fertige Abschiedsgesuch an seinen Kriegsherrn.

[S. 124]

6

Zwei lange Trauerflore wehten im Wind. Von dem trüben, noch ganz winterlichen Märzhimmel Berlins sanken vereinzelte Schneeflocken auf sie nieder, umspielten die beiden schwarzgekleideten Frauengestalten, übersilberten den etwas eingesunkenen, mit vergilbten Kränzen überhäuften, vorläufigen Grabhügel. Frau von Ottersleben hielt ihr Tuch vor dem Gesicht und weinte leise. Maximiliane stand neben ihr. Auch sie hatte feuchte Augen. Stumm schaute sie während des Schluchzens der Mutter vor sich hin — auf die kahlen Bäume, die bereisten Leichensteine, die aufgeweichten Kieswege. Drei Wochen waren nun schon vergangen, seit man Papa hier zur Ruhe gebettet. Ringsumher war alles voll gewesen von Uniformen — das halbe Offizierkorps der Hundertachtundachtziger — Generalstäbler, Grenadier-, Artillerie- und Pionieradjutanten mit Kränzen, aus den Truppenteilen der Söhne und des Schwiegersohns — die Husaren des Schwagers — Lichterfelder Kadetten — draußen die Bataillone der Leichenparade — Massen von Neugierigen — nun war das alles schon verweht und halb vergessen, die Welt ging ihren Gang — vor den Gittern des Friedhofs hörte man den dumpf brausenden, millionenfachen Atem von Berlin. Fern in der Provinzstadt[S. 125] führte ein anderer das Infanterieregiment Burggraf Friedrich von Nürnberg. Die Witwe seufzte und schob sich den vom Wind zerzausten Schleier zurecht.

»Wir wollen gehen, Maxe!« sagte sie. »Es zieht hier furchtbar. Da hat sich auch Ulla die Erkältung geholt, neulich ...«

Ulla von Logow hatte sich am Tage nach dem Begräbnis ihres Vaters mit einer schweren Grippe legen müssen. Jetzt war keine Besorgnis mehr. Aber sie hustete immer noch, und der Arzt ließ sie nicht aus dem Zimmer. Die beiden Damen, Mutter und Tochter, gingen lange schweigend durch die freudlosen Straßen des Berliner Nordens in der Richtung nach der Spree. Frau von Ottersleben verschluckte wieder Tränen.

»Ach, Kind ... Mir ist's immer noch wie ein Traum ... Wie wir jetzt wieder daheim waren in der leeren Wohnung, wenn sich was rührte, lag es mir auf den Lippen, zu rufen: ›Thilo ...‹ Ich dachte, es müßte Papa sein! ... Sonst sieht man doch ein Unglück kommen. Man hat Zeit, sich vorzubereiten. Aber so auf einmal, über Nacht ... Papa hat mir kaum ordentlich adieu gesagt, wie er nach Berlin fuhr. Und es war das letzte Mal ...«

Ihre Augen waren naß. Sie nickte trübe.

»Ich bin froh, daß wir nun drüben in der Garnison mit allem fertig sind und nie wieder hinkommen. Ich hab' es gestern kaum mehr erwarten können bis zur Abfahrt. Mir war die Wohnung schrecklich, ohne Papa ... mit all den Erinnerungen ...«

»Es war immerhin ein Glück, Mama, daß wir die Wohnung haben gleich an den neuen Oberst weiter[S. 126] vermieten können und die Pferde gut verkaufen und alles ...«

»Ja. Das schon!« sagte die Witwe, während sie beide die weite, windüberpfiffene, unwirtliche Fläche vor dem Lehrter Bahnhof durchquerten. »Aber was nun? ... Jetzt sitzen wir hier in Berlin wie Schiffbrüchige auf einer Insel. Ewig können wir in dem Charlottenburger Hospiz nicht bleiben. Es ist auch zu teuer, Kind!«

»Ja, Mama — da mußt du dich nun entscheiden!«

Frau von Ottersleben schüttelte mutlos den Kopf.

»Ach ... ich kann nichts entscheiden, Maxe! Quält mich nicht. Immer hat dein guter Papa für uns vorgesorgt. Ich muß mich erst daran gewöhnen, daß ich auf einmal allein stehe und mir selber sagen muß: ›Tu das und tu jenes!‹ Ich glaub', ich ziehe schließlich doch nach Darmstadt! Was meinst du?«

»Mir ist alles recht, Mama!«

»Aber jetzt noch nicht, Maxe! ... Ich muß erst zu mir kommen. Der Gedanke an einen Umzug mit Möbeln, Wohnungmieten, fremde Gesichter — das ist mir jetzt schrecklich. Ich brauche vor allem Ruhe und Pflege und ein bißchen Liebe. Ich möchte am liebsten vorläufig zu den Grotjans nach Thorn. Dorle und ihr Mann schreiben mir immer so nett und herzlich ...«

»Und ich, Mama? Für mich haben sie nicht auch noch Platz.«

»Ich dachte mir, du bleibst inzwischen hier, bei den Logows, bis wir uns endgültig zu etwas entschlossen haben. Da hast du doch auch ein bißchen Ablenkung in Berlin und ...«

[S. 127]

»Nein!«

Es klang so schroff, daß Frau von Ottersleben ihre Tochter verwundert ansah.

Die wiederholte: »Nein, Mama!«

Sie hatten die Alsenbrücke überschritten. Hinter ihnen ragte das Generalstabsgebäude. Die Witwe meinte: »Gerade wo er den ganzen Tag da über seinen Schreibereien sitzt und sie bis Mittag im Bett liegen muß, kannst du dich auch im Haushalt ein wenig nützlich machen, Kind!«

»Ich will nicht, Mama!«

»Ja ... ›ich will nicht‹ ... das ist leicht gesagt. Vergiß nur nicht: du bist Waise, und ich bin Witwe. Es ist nicht mehr wie früher, Maxe! Wir müssen uns nach der Decke strecken. Wir haben gerade knapp zu leben. Wir werden jeden Groschen umdrehen müssen. Was hast du denn gegen die Logows?«

»Gar nichts!«

»Nun also!«

Die beiden Damen schwiegen eine Weile, im Gehen. Dann versetzte Frau von Ottersleben aus ihren Gedanken heraus: »Du hättest heiraten sollen, Kind!«

»Das hast du mir schon oft erzählt, Mama!«

»Du hättest heiraten sollen, eh' dein guter Papa abberufen wurde. Da hätt' es sich leicht gemacht, gerade wie bei deinen Schwestern — besonders, wo du in den letzten Jahren so auffallend hübsch geworden bist. Nun ist's viel schwerer.«

»Ich will auch gar nicht!«

»Ja, worauf wartest du denn nur? ... Wenn ich so denke ...: es waren doch wirklich in den beiden[S. 128] letzten Jahren so nette Leute da — du hast dich rein an dir versündigt, Maxe! ... Noch diesen Herbst ... der Hauptmann von den Jägern ... So ein frischer, flotter Mensch! ... Der schöne alte Name! Da könntest du jetzt schon Majorin sein!«

Maximiliane von Ottersleben erwiderte nichts. Sie dachte sich: ›Wenn ich das gewollt hätte, dann wär' ich heute schon Exzellenz — aktive Exzellenz — hochgebietend und umschwärmt, da unten in Lothringen, wo der Generalleutnant von Glümke seine fünfundvierzigste Division führt, statt daß ich hier trübe in Schnee und Nebel gehe und mich schließlich noch nach einer Stellung als Gesellschafterin oder Reisebegleiterin umschau'!‹ In einer plötzlichen Aufwallung, einem Nachzittern dieser unfreiwilligen Opfertat, sagte sie unvermittelt und heftig: »Also ich geh' nicht zu den Logows, Mama!«

Sie waren vor deren Haus im Hansaviertel stehen geblieben. Frau von Ottersleben zuckte hoffnungslos die Achseln. Sie kannte den Dickkopf der Tochter.

»Schau wenigstens einmal auf einen Sprung hinauf, wie's steht!« bat sie. »Mir sind die drei Treppen zu viel! Ich bin so matt. Da fällt mir die Ulla so auf die Nerven. Ich geh' unterdessen voraus ins Hospiz! Auf Wiedersehen!«

Maximiliane von Ottersleben stieg leichtfüßig die vielen Stufen empor und trat in das Zimmer der Schwester. Die bleiche, brünette junge Frau lag auf einem Diwan, trotz der Hitze der Warmwasserheizung noch in ein Plaid gewickelt, ein weißes Kissen unter dem Kopf.

[S. 129]

»Gott, Maxe!« sagte sie, ohne ein Zeichen von Freud oder Leid und reichte ihr im Liegen die Rechte. »Seid ihr wieder zurück nach Berlin?«

Das junge Mädchen nahm Platz.

»Ist's dir auch recht, daß ich da bin?«

»Gewiß!«

»Oder soll ich lieber gehen?«

»Wie du willst!«

»Ulla — sei doch nicht so stumpfsinnig! Und was du für kalte Hände hast ...«

»Ich friere! Ich frier' immer, wenn ich mich langweile! ... Ich langweil' mich gräßlich!«

Die Jüngere zog ihr Jäckchen aus und hängte es über den Stuhl.

»Ein Hundewetter ist draußen!« sagte sie dabei.

»Das ist recht. Es soll nur tüchtig regnen. Ich bin auch nicht vergnügt!«

»Ulla, du bist wirklich in einer greulichen Verfassung!«

»Lieg du mal so den ganzen Tag! Und schau dir die Stuckdecke da oben an. Ich ärgere mich schon seit heute früh über das dumme Füllhorn in der Mitte!«

Maxe beugte sich vor und legte ihr die schmale Mädchenhand auf die Schulter.

»Nimm dich doch zusammen, alte Heulsuse! Schäm dich! Nächste Woche gehst du doch wieder aus und bist gesund! Da würd' ich mich doch freuen, an deiner Stelle!«

Aber Ulla blieb eigensinnig.

»Ach — es ist ja ganz gleich,« sagte sie müde, »ob ich auf oder im Bett bin!«

[S. 130]

Die Tür hatte sich geöffnet. Ihr Mann war, vom Dienst kommend, eingetreten. Er nickte Frau und Schwägerin zu, während er seine Aktenmappe mit Geheimdokumenten, die kein anderes Auge als das eines deutschen Offiziers sehen durfte, vor sich auf den Tisch legte. Das Antlitz Ullas belebte sich bei seinem Anblick nicht. Es war blutleer, von der Krankheit angegriffen. Tiefe blaue Schatten, die sie viel älter erscheinen ließen, unter den dunklen Augen. Und doch ging von ihrem Lager ein Hauch von Frische, von kalter Luft und Gesundheit aus. Maxe Ottersleben hatte ihn mitgebracht. Er haftete noch an ihren Kleidern, an ihrem Blondhaar, wie sie jung und elastisch, mit vom Gehen leichtgeröteten Wangen vor ihrer Schwester stand, die ihr altes Klagelied weiter spann, ohne sich viel um die Anwesenheit des Hausherrn zu kümmern.

»Es ist ja ganz gleich, ob ich gesund oder krank bin. Und ob ich so bin oder so. Es ist überhaupt alles gleich! Mir wenigstens!«

»Na, du bist ja wieder in einer netten Laune!« versetzte ihr Mann. »Siehst du, Maxe, so wird man nun empfangen, wenn man kaput vom Dienst heimkommt!«

Ulla achtete nicht darauf. »Das beste ist, wenn man schläft!« sagte sie zu ihrer Schwester. »Ich wollt', ich könnte den ganzen Tag schlafen. Und die Nacht auch!«

»Ach, du Faultier!«

»Es ist nicht Faulheit. Es ist nur, wenn man so gar nicht weiß, was man anfangen soll. Rat mir doch! Mir fällt nichts mehr ein!«

[S. 131]

»Gräßlich!« sagte der Hauptmann und ging in das Nebenzimmer, um seine Papiere zu verschließen. Maxe gab ihrer Schwester die Hand.

»Na, Kopf hoch, Ullchen! ... Ich muß jetzt zu Mama. Adieu!«

Als sie sich im Flur vor dem Spiegel den Schleier umband, stand plötzlich Erich von Logow neben ihr, zog seinen Mantel an und sagte: »Ich bring' dich hinüber zum Hospiz, Maxe! Es wird bald schummerig. Da darfst du nicht allein durch den Tiergarten!«

Rasch kam in ihre Augen ein feindseliger Glanz.

»Ach, mich wird schon keiner stehlen!«

»Ich geh' aber doch lieber mit.«

»Es ist wirklich nicht nötig!«

Er wurde nervös.

»Gönn mir doch das bißchen frische Luft! Es ist ja nicht zum Aushalten da drinnen, mit dem ewigen Gejammer! ... Ich weiß nicht, was du eigentlich immer gegen mich hast, Maxe! ... Ich beiß' dich doch nicht!«

Sie schwieg. Sie hatte Angst, irgend etwas zu verraten, wenn sie noch weiter widersprach. Als sie miteinander die Treppen hinabstiegen, versetzte sie: »Du mußt Ulla nicht unrecht tun! Sie ist krank. Sie hat vor drei Wochen ihren Vater verloren ... Sie ist doch nicht immer so wie jetzt.«

»Ungefähr doch!« sagte er, und machte eine sonderbare Bewegung mit Kopf und Schultern, als wollte er sich eine unsichtbare Last von der Seele schütteln. Dann wechselten sie nur gleichgültige Worte im Gehen. Er blickte sie von der Seite an. Er sah die schlanke Neigung ihres Nackens im Kampf gegen den Wind,[S. 132] das Gekräusel der blonden Strähnen unter dem Schatten des dunklen Hutes, den herben Jugendreiz ihres Profils mit dem eigenwilligen Kinn hinter dem Trauerflor. Es fiel ihm ein, was ihm sein Schwiegervater wenige Stunden vor seinem Tod von ihr gesagt: Sie war wirklich ein schönes Mädchen. In Erinnerung an dies Gespräch hub er an: »Ich möchte mal ein vernünftiges Wort mit dir reden, Maxe ... Ich komm' ja sonst nie dazu! Du bist ja nicht festzukriegen. Also hör mal: Was sind denn nun so eigentlich deine Zukunftspläne?«

»Gar keine!«

»Du mußt dir aber doch irgendeine Vorstellung gemacht haben, was ...«

»Ach, sorg dich nur nicht um mich! Ich bin nicht wie die Ulla, daß ich mich hinsetz' und heule. Ich schlag' mich schon durch!«

»Aber etwas Bestimmtes hast du nicht im Sinn?«

»Nein!«

»Nun — dann, liebe Schwägerin — da du doch irgendwo bleiben mußt, bitte ich dich dringend und lade dich ein: komm vorläufig zu uns! Es ist ja nicht sehr amüsant. Aber doch besser als nichts!«

Sie warf gereizt den Kopf in den Nacken.

»Aha! Du hast wohl mit Mama gesprochen?«

Erich von Logow verneinte erstaunt.

»Ich habe mit deiner Mutter keine Silbe darüber gewechselt, Maxe! Sei so gut und lächle nicht so ungläubig. Ich bitte, daß man mein Wort respektiert, wie ich das deines Vaters. Denn darum handelt es sich. Seine letzte Bitte an mich war: daß wir, Ulla[S. 133] und ich, dir zur Seite stehen möchten. Das hab' ich ihm in die Hand versprochen!«

Sie schwieg.

Er fuhr fort: »Ich dränge mich dir nicht auf, Maxe ... Aber sag selbst: was willst du denn in irgendeinem Nest in der Provinz verkümmern? Hier bist du doch wenigstens unter Menschen, in Berlin, kannst dein Leben genießen, und bist bei uns willkommen! ... Herzlich willkommen! Ich mache keine Redensarten!«

»Ich auch nicht! Ich danke schön! Ich will euch nicht stören!«

»Von Stören ist gar keine Rede! Im Gegenteil: du würdest mir damit eine wahre Wohltat erweisen, Maxe!«

Sie sah ihn betroffen an.

Er nickte mit umwölkten Zügen und wiederholte: »Eine Wohltat, Maxe ...«

»Ja, aber wieso denn?«

Sie gingen weiter. Er versetzte: »Wenn ich dir anbiete, mein Haus mit uns zu teilen, muß ich auch offenherzig sein. Du würdest es auch bald selber merken. Es ist in dem Hause nicht alles so, wie es sein sollte. Es ist da ein Geist des Unmuts — der Leere — ich weiß nicht ... ich hab' ja nie recht ein Elternhaus gekannt. Aber ich habe euer Familienleben gesehen. Ich habe gehofft, ich würde es einmal gerade so haben. Ja, und nun? ... Da liegt die Ulla! ... Du warst ja eben bei ihr ... es muß da etwas geschehen! So geht das nicht weiter ... Das hält kein Mensch auf die Dauer aus. Sie nicht und ich nicht!«

»Ich bin sechzehn Stunden täglich im Dienst!« hub[S. 134] er nach einer Weile wieder an. »Ich kann mich nicht immer um sie kümmern. Und sie selber macht nichts aus sich. Es ist ihr nicht gegeben! Und komm' ich dann heim, ja, du lieber Gott ... Wenn ich nur an diese stumpfsinnigen, schweigsamen Mahlzeiten denke ...«

»Ja, warum redet ihr denn nichts zusammen?«

»Über was denn?«

»Zum Beispiel über deinen Dienst! Papa tat's doch auch oft mit Mama!«

Er lachte erbittert auf. Er brach los. Sie merkte ihm an, daß er, der sich sonst nie gehen ließ, jetzt seiner Bewegung nicht mehr Herr werden konnte.

»Ja, liebe Maxe: wenn das der Ulla nicht so völlig wurst wäre! Wann hat sie je ein bißchen Verständnis für mich — Rücksicht für mich — ich möchte sagen, in dem Punkte Liebe für mich? Sie denkt nur an sich. Ich verlange ja eigentlich gar nichts für mich als Menschen, nur für den Königsplatz da drüben, der mir Zeit und Nerven nimmt. Dafür bin ich Offizier. Sie ist doch selbst Offizierstochter. Sie weiß, was ein Generalstäbler zu tun hat. Sie hat mich schon vor dem Generalstab jahrelang gekannt. Sie hat gesehen, daß ich ein ernster Mensch bin und kein Salonfatzke — keiner von der Sorte, mit der sie sich so und so viel Ballwinter um die Ohren geschlagen hat — ein Mensch, der sich nicht leicht anschmiegen kann, der streng gegen sich ist und von sich und anderen viel verlangt — so war ich doch — nicht wahr?«

»Ja.«

»Nun schön! Du siehst's! Jeder sieht's: ihr ist's ganz egal.« Er redete sich in steigende Heftigkeit hinein.[S. 135] Er sprach schneller und schneller. »Ihr wär's lieber, ich wäre der dümmste Kerl und wir liefen jeden Abend irgendwohin, um uns zu amüsieren, statt daß ich jetzt bis nach Mitternacht in meinem Arbeitszimmer sitz'. Und wenn sie mich mal dort aufsucht, so geschieht's nur, um mich zu stören. Dann werd' ich heftig und sie übler Laune, und so wird das schlimmer Tag für Tag. Meine Laufbahn geht dabei noch vor die Hunde. Ich hab' eine wahre Angst. Maxe — komm doch zu uns — nur kurze Zeit ... Du siehst, es tut not, daß jemand da ist ...«

Er bat jetzt förmlich.

»Maxe ... zu dir hab' ich so Zutrauen! ... Du mußt ihr andere Anschauungen über mich und über ihre Pflicht und über das Leben beibringen. Du bist ein vernünftiger Mensch! Du nimmst das Leben nicht leicht. Man sieht's dir an. Du wirst solch einen guten Einfluß auf sie haben! Es mildert sich von selbst alles durch die Gegenwart eines Dritten! Traurig, wenn man das von einer Ehe sagen muß. Ich hab's auch so unverhohlen noch niemandem gesagt wie dir! ... Ich kann's auch nur einer Schwester meiner Frau sagen. Denn zu meiner Schwiegermutter hab' ich kein Zutrauen. Und die Dorle ist doch ein Schaf! Die kommt nicht in Frage. So fällt's eben auf dich ...«

»Ich danke dir für dein Vertrauen!« sagte Maximiliane von Ottersleben. »Aber ich fürchte, wenn ich auch wollte, ich fände Ullas Vertrauen nicht. Wir sind zwei zu verschiedene Menschen. Wir haben uns schon als Mädchen nie sehr nahe gestanden. Ich bin die Jüngere. Ich bin unverheiratet. Ich hab' von jeher[S. 136] eine Nebenrolle neben ihr gespielt. Sie wird von mir nichts annehmen. Das weiß ich von vornherein!«

Er biß sich auf die Lippen.

»Maxe, du darfst mich jetzt nicht so abspeisen, nachdem ich dir das alles gesagt hab'! Du ahnst nicht, wie mir zumut ist. Was glaubst du, was mich das kostet, jemanden um so etwas zu bitten, weil ich keinen anderen Ausweg sehe? Du mußt mir doch als meine Schwägerin zum mindesten deinen guten Willen zeigen, mir zu helfen! Sprich doch wenigstens einmal mit ihr!«

Sie zögerte.

Er murmelte finster: »Glaub mir, ich bin schon halb entzwei durch die Geschichte! ... Ich bin nicht mehr der Alte! ... Ich fürchte, andere merken's auch schon! ... Die Vorgesetzten machen manchmal so Gesichter. Es muß anders werden!«

Seine Stimme zitterte. Auf seinem Gesicht lag, soweit sie es in der Dämmerung noch erkennen konnte, eine Angst, die es ganz fremdartig erscheinen ließ. Sie kämpfte mit sich. Dann sagte sie mit Überwindung: »In Gottes Namen: ich will's probieren und mit ihr reden ... Aber nun möcht' ich nach Hause. Mama wartet!«

Ein paar Tage darauf war heller Frühling über Berlin gekommen. Ulla von Logow saß zum erstenmal seit ihrer Erkältung in ihrem Heim am offenen Fenster, am Nachmittagsteetisch, ihrer Schwester gegenüber, in der wohltuenden Müdigkeit der Genesenden. Die frische Luft belebte sie. Der feine Duft der von Maxe mitgebrachten Veilchen erfüllte das Zimmer.

»Ach ja — meine alte Maxe ...« sagte sie zu der[S. 137] blonden Jüngeren, zog sie zu sich heran und küßte sie. Sie war heute besonders zärtlich zu ihr, schwesterlich weich. Dann ruhte sie still, die Hände verschlungen, und schaute hinaus in den Sonnenschein. Sie seufzte und strich sich die Haare aus der Stirn. »Gott ja ... Maxe ...« wiederholte sie träumerisch. Ein leises Husten kam über ihre Lippen.

»Ullchen, du wirst dir wieder was holen in dem Zugwind am offenen Fenster!«

»Ach — laß schon!«

»Warte nur, was Erich dazu sagen wird. Wann kommt er denn?«

Sofort flog ein Schatten über die blassen Züge der anderen. Die wurden plötzlich wieder starr. Sie hob die schmalen, abfallenden Schultern.

»Weiß ich's? Da mußt du am Königsplatz fragen! Dort wohnt er doch! Hier erscheint er doch nur zum Essen und Schlafen!«

»Ulla — sei doch nicht so bitter!«

»Ich bin ja schon wieder still!« sagte die junge Frau und hob das dunkle Haupt gegen eine laue Luftwelle, die der Märzwind durch das Fenster trieb. »Ach ... der Frühling ... himmlisch ... nicht? ... Aber was hat man davon hier in Berlin? ... Was hat man überhaupt ...?«

Sie schaute die Schwester an. Ein sonderbares, leidvolles Lächeln verzog ihre Mundwinkel.

»Du hast schon das beste Teil erwählt, Maxe ... möchtest du noch Tee, Schatz? ... Nein? ... Du warst schon die Klügere! ... Das heißt: du wirst ja freilich auch heiraten. Natürlich. Man muß. Was soll man[S. 138] sonst? Ich wünsch' dir Glück! Es ist reine Glückssache — weißt du! ... Man tappt mit verbundenen Augen hinein, und dann wird's mal so, mal so!«

»Man kann doch auch etwas dazu tun.«

»Was denn?«

Maxe Ottersleben rückte sich zurecht.

»Ja — ich red' ja von der Ehe wie der Blinde von der Farbe ... Ich meine nur ... Im allgemeinen: die Männer — wenigstens in unseren Kreisen, und unter ihnen gerade die Männer, die uns gefallen — die haben doch alle was Hartes, Steifnackiges — die können sich nicht leicht anpassen ...«

»Untereinander passen sie sich schon an, wenn einer der Vorgesetzte ist!« sagte die junge Frau phlegmatisch.

»Ja eben! Das sind doch alles Offiziere! Sie haben nicht nur eine Frau, sondern auch einen Beruf. Dein Mann weiß ja manchmal wirklich nicht mehr, wo ihm der Kopf steht vor Arbeit ...«

»Ja ... und?«

»Und ... soll ich weiterreden, Ulla?«

»Sprich nur ungeniert!«

»Und ... wenn er nun nach Hause kommt ... er braucht doch Rücksicht ... Er braucht doch Entgegenkommen ... Ulla ... du als Frau mußt das doch besser wissen ... fühlt man nicht in sich die Pflicht, einen Mann, wenn man ihn schon genommen hat, auch glücklich zu machen, so weit man kann?«

»Ja — wenn ich's nur könnte ...« sagte Ulla von Logow und schob ihre Tasse weit von sich über den Tisch.

Plötzlich begann sie zu schluchzen. Sie weinte hellauf in den Armen der Schwester.

[S. 139]

»Wenn ich's nur könnte, Maxe! ... Aber ich kann's nicht! Ich bin doch nicht böse! Ich bin doch ein Mensch wie andere. Ich bin, wie ich bin! Ich kann mich nicht anders machen. Ich möcht' mich ja gern anders machen. Ich weiß nur nicht, wie. Man soll es mir nur sagen. Aber er sagt es mir nicht!«

Die Tränen erstickten ihre Stimme. Sie stammelte in einem halb kindischen Weinen: »Er steht da und schaut mich an und erwartet Wunder was von mir! Ich bin doch kein Wundertier. Ich kann nicht hexen. Da wird man ganz irr. So mutlos. So müde. Und wenn ich mir auch Mühe gebe — man macht ihm ja nie etwas zu Dank! Immer hat er sich's anders vorgestellt, als es dann wird. Da läßt man lieber schon alles, wie's ist!«

Dann hob sie heftig das Haupt: »Ich langweile ihn! Was ich rede, ist unter seiner Würde! Er geht weg und läßt mich allein. Daß ich nicht so bin wie er, begreift er nicht! Glaubst du, der hohe Herr gibt sich je die Mühe, in meine Welt hinunterzusteigen? Er denkt nicht dran! ... Ich sitz' ihm hier lange gut und blase Trübsal! Er hat doch gewußt, daß ich nicht zu solch einer Hausmutter erzogen worden bin. Immer wurd' ich daheim auf Bälle geschleppt und ausgestellt! Ich war das Prunkstück der Familie. Der Mittelpunkt ... das ist doch wahr — nicht?«

»Ja, gewiß, Ulla!«

»Ja — und nun? ... Da hock' ich! Manchmal kommt 'ne Woche lang kein Mensch! Ihn stört's nicht! Er hat ja bis über die Ohren zu tun! Und ich? Pah — was kommt's denn auf mich an? Ich kann ja hier[S. 140] gähnen! ... Und ich hab' doch auch Ansprüche ans Leben, Maxe — so gut wie er ...!«

»Das freilich!«

»Aber das übersieht er eben ganz. Da ist man nun in Berlin! Man ist jung. Man ist hübsch. Man möchte sich ein bißchen amüsieren. Um einen sind die Masse Menschen, Geselligkeit — Feste — Theater — Konzerte — Basare — Tees — was weiß ich ... man kann's mit Händen greifen ... ich hab' gedacht: da komm' ich nun als Frau mitten hinein! — und alle Türen stehen einem ja auch wirklich offen — aber ich kann doch nicht immer allein hin ... Und er geht eben nicht mit! Ein anderer hätte doch den Ehrgeiz, eine Frau wie mich zu zeigen! Er wäre stolz auf mich! Ihm ist's gleich. Er kennt nur seinen Ehrgeiz im Dienst! Ich bin ihm gerade gut genug, daß die Suppe warm ist, wenn er heimkommt. Weiter nichts! ... Ich möchte nur wissen, warum er mich eigentlich geheiratet hat ...«

Sie knirschte es zwischen den zusammengebissenen Zähnen. Sie war atemlos vom langen Sprechen. Ihre Tränen waren versiegt. Das junge Mädchen, das neben ihr kniete, strich ihr stumm, beruhigend mit der schmalen Hand über den Scheitel. In ihr gab etwas der Schwester recht. Aber sie sprach es nicht aus. Sie wollte nicht noch Öl ins Feuer gießen. Sie stand auf.

»Ulla! So schroff mußt du nicht sein! Er liebt dich doch! ... Sonst hätt' er dich doch nicht haben wollen! Schau: du mußt sein Leben mit ihm teilen — nicht er deines mit dir. So mußt du das auffassen! ... Jetzt mache ich aber das Fenster zu ... Es wird kalt!«

Ulla hustete.

[S. 141]

»Ich kann doch nicht mit ihm in den Generalstab gehen!« sagte sie erbittert. »Alle seine Mobilmachungen und Akten und Pläne sind mir ein Greuel, weil er sich denen widmet und nicht mir! Mit mir kann er sich nicht unterhalten! Mit seinen Kameraden bis tief in die Nacht! Da schieben sie ihre Bleiklötzchen auf den Landkarten hin und her. Der große Eßtisch drinnen wird immer abgeräumt, für das Kriegsspiel. Da wird er nicht müde! ...«

Maximiliane von Ottersleben wurde wider Willen eifrig: »Du mußt dich eben auch für diese Dinge interessieren, Ulla! Für alles, was ihn freut! ... Du mußt versuchen, auf seine Höhe zu kommen. Er hilft dir gern! Und wenn man nur erst den Schlüssel zu ihm hat, dann kann er einem doch gewiß so viel geben!«

»Ja, singe du nur sein Lob!«

»Ich sage nur, was alle sagen: Er ist doch ein bedeutender Mensch. Als solcher hat er natürlich auch seine Fehler. Aber er gleicht sie durch große Eigenschaften wieder aus. Vielleicht kommt er noch einmal in die höchsten Stellungen in der Armee — Papa meinte es immer. Da muß es dann doch ein glücklichmachendes Gefühl sein, ihn auf solch einem Weg begleitet zu haben. Darauf kann man dann stolz sein! Dem Gedanken muß man Opfer bringen, Ulla!«

Das junge Mädchen hatte sich in Eifer geredet. Da fing sie einen ganz veränderten mißtrauischen Blick ihrer Schwester auf, ein Lächeln: »Du legst dich ja kolossal für meinen Mann ins Zeug!«

»Ich rede nur, wie ich's meine!«

»Du ... Maxe ...«

[S. 142]

»Ja ...«

»Schau mich mal an ... so ... ins Gesicht ...«

»Warum?«

»Sag mal: du hast wohl immer noch was für ihn übrig?«

»Ulla!«

»Von damals her, mein' ich ... Aber was hast du denn? Warum nimmst du denn deine Jacke? ... Warum willst du denn auf einmal weg?«

Maxe Ottersleben stand blaß, sich zur Ruhe zwingend, vor ihr.

»Natürlich muß ich gehen! ... nachdem du mir das gesagt hast!«

»Aber Maxe ... liebe Maxe ... Du weißt doch, wie ich bin! ... Ich bin so nervös! ... so gereizt! ... so ganz auseinander! Maxe ... sei nicht böse!«

»Nein! Nur traurig! Adieu!«

»Bitte — bleib! ... Maxchen ... es war doch nur ein Scherz!«

»Mit so was spaßt man nicht, Ulla!« Das junge Mädchen knöpfte sich mit zitternden Fingern die Jacke zu. »Ich weiß nicht, ob es dir bekannt ist: Dein Mann hat mir dringend angeboten, ich möchte auf eine Zeit zu euch ziehen ...«

Ulla hob flehend die Hände.

»Ach ja ... bitte ... bitte ... tu das! Ich wär' so froh! Ich danke meinem Schöpfer, wenn ich jemand Lieben um mich hab'!«

»Ich hab' gleich nein gesagt! Wie recht ich hatte, das seh' ich erst jetzt! ... Also — weiter gute Besserung, Ulla!«

[S. 143]

Sie eilte aus dem Zimmer. Die junge Frau blieb hilflos sitzen und brach nach einer Weile von neuem in Tränen aus. Sie weinte noch, als der Hauptmann von Logow eintrat und, durch die Gewohnheit schon abgestumpft, nur mit einem schweren Seufzer frug: »Na — ist die Wassermühle wieder in Gang? ... Was hat's denn gegeben?«

Da schluchzte sie auf: »Siehst du — nun hab' ich auch wieder die Maxe vor den Kopf gestoßen! Sie ist ganz gekränkt weggerannt — das arme Schaf! Und dabei war sie so gut und lieb zu mir! Ich bin wirklich eine unglückselige Person ...«

Den ganzen Abend war sie müde und angegriffen. In der Nacht bekam sie starkes Fieber. Der aus dem Bett herbeigeholte Arzt machte ein bedenkliches Gesicht. Er wollte wissen, ob sie irgendeine Unvorsichtigkeit begangen habe, und erfuhr, daß sie bis in den Abend hinein am offenen Fenster gesessen.

»Ja — davon haben wir nun glücklich den Rückfall!« sagte er. »Mit unserer feuchten Märzluft ist nicht zu spaßen! Wir müssen nun abwarten, was daraus wird.«

Gegen Ende der Woche saß Maximiliane allein in dem düsteren Hofzimmer des Hospizes, in dem sie mit ihrer Mutter in Charlottenburg wohnte. Der Abend dämmerte. Draußen war das Kommen und Gehen einer Pension. Türenschlagen. Stimmen. Es war viel Landadel im Hause, Pastoren, ältere Junggesellen. In jedem Zimmer lag eine Bibel. An der Wand hing ein frommer Spruch. Sie buchstabierte mechanisch: »Volk! Volk! Höre des Herren Wort!« Da klopfte es. Ein Offiziersbursche stand auf der Schwelle. Er[S. 144] brachte einen Brief, machte linksum kehrt und verschwand. Sie hielt das Schreiben in der Hand. Sie erkannte die Schrift Erich von Logows. Sie trat ans Fenster, öffnete und las:


»Liebe gute Schwägerin Maxe!

»Du weißt schon von dem neuen Pech! Ulla liegt! Wie lange, wissen die Götter! Sie ist unglücklich, und ich quäle mich mit bei ihren Klagen, sie sei von früh bis spät mutterseelenallein und fühle sich verlassen, einer bezahlten Pflegerin anvertraut, und niemand sonst kümmere sich um sie! ...

»Wer soll da kommen und helfen? Mama ist selbst viel zu angegriffen und bedarf der Ruhe und Erholung. Hier brauchen wir jemand Resoluten, der den Kopf oben behält! ... Maxe, kannst Du's denn wirklich verantworten, uns da im Stich zu lassen? Ist es nicht Deine Menschen- und Schwesterpflicht, unserer Bitte zu folgen?

»Ulla macht sich Vorwürfe, Du hättest ihr ein unbedachtes Wort übel genommen. Was es war, will sie mir ums Totschlagen nicht eingestehen! Es wird schon eine Dummheit gewesen sein. Aber Du kennst sie doch. Du hast neulich selbst gemeint, sie sei krank und man dürfe ihr Gerede nicht auf die Goldwage legen. Ich finde, daß schon Deine kurze Unterhaltung mit ihr neulich sie zu ihrem Vorteil verändert hat. Sie ist, trotz ihrer Schwäche, seitdem viel geduldiger und liebevoller gegen mich. Du könntest solch guten Einfluß auf sie ausüben, mit der Ruhe und Ausgeglichenheit Deines Wesens, die über Deine Jahre hinausgeht ...

[S. 145]

»Setz Dich in meine Lage! ... Heute nacht muß ich wieder abwechselnd ein Geheimdokument abschreiben, den Eisbeutel füllen und auf dem Gaskocher Tee machen. Denn die Diakonissin muß doch auch einmal schlafen! ... An irgendeiner der drei Stellen begeh' ich sicher eine Dummheit. Und Du hast doch gar nichts vor. Bist ganz frei. Ich bitte Dich inständig: Hilf mir! ... Komm! Nur auf ein paar Wochen, bis das Gröbste vorbei ist! ... Ich wäre Dir so dankbar! Ich drücke Dir schon im voraus von Herzen die Hand als Dein getreuer und ohne Dich ganz ratloser Schwager

Erich.«


Maximiliane zerdrückte langsam das Blatt in der Hand. Ihre erste Regung war: Nein! — Nein ... Es geht über meine Kraft. Es schmerzt zu sehr.

Sie erhob sich. Sie kämpfte mit sich. Sie schritt auf und nieder. Sie setzte sich wieder hin, vor ihre Briefmappe, und sann: Welchen Vorwand kann ich nur finden, um ›nein‹ zu sagen? Es fiel ihr nichts ein. Und allmählich änderte sich ihre Stimmung. Sie wurde weich. Sie sah ihn im Geist in seinen Sorgen am Bett der kranken Frau, erschöpft von Tagesarbeit und Nachtwachen. Er hatte es wirklich nicht leicht im Leben. Man mußte es ihm nicht noch schwerer machen. Man mußte nicht an sich denken, sondern an ihn.

Sie kam, wie sie da still mit verschlungenen Händen in der Dämmerung kauerte, in eine Barmherzige-Schwester-Schwermut hinein, voll Opferwilligkeit und Entsagung. Voll Schmerz und Lächeln. Voll Losgelöstsein von sich selber. Voll Erkenntnis, daß es auch[S. 146] eine Lust im Leiden gibt. Sie erschien sich rein. Sie fand einen Trost darin, unglücklich zu sein, aber hilfreich und gut. Zu schweigen und zu dienen. Und die beiden nicht entgelten zu lassen, was sie ihr getan ...

Sie war entschlossen, den Dornenweg zu gehen. Und fand doch immer noch nicht die Kraft dazu. Sie stand mitten im Zimmer und träumte und schrak zusammen. Ihre Mutter trat aufgeregt, vom Krankenbesuch bei Ulla kommend, ein.

»Das sind dort unmögliche Zustände, Maxe ...!« versetzte sie, noch atemlos vom Treppensteigen. »Alles geht drunter und drüber. Die reine polnische Wirtschaft. Und du legst hier die Hände in den Schoß. Papa hätte dich schon lange hinspediert!«

»Ich glaube, Papa hätte das meinem eigenen Pflichtgefühl überlassen, Mama!«

»Und was sagt dir das?«

Maximiliane zögerte eine Sekunde. Dann versetzte sie ruhig: »Natürlich muß ich hin! Ich seh's ja ein!«

Ihre Mutter küßte sie. Sie ließ es stumm geschehen. Sie hörte, wie Frau von Ottersleben dann draußen telephonierte und ihre Ankunft meldete. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie sagte sich: Ich lieb' ihn — ich lieb' ihn wirklich — aus ganzer Seele und aus reinem Gemüt, sonst würde ich nicht das eine wünschen, daß er nur glücklich ist — auch ohne mich — aber durch mich — mit ihr. Ich will mich zum Opfer bringen. Ich will auf Ulla einwirken. Ich will versuchen, ihn glücklich zu machen mit seiner Frau und durch seine Frau, so gut ich's vermag ...

[S. 147]

7

Der Leutnant Otto von Ottersleben benutzte den Sonntagvormittag zu einem Spazierritt in den Tiergarten. Er trabte schweigend zwischen seinen Freunden, dem in seiner blauen Attila weithin leuchtenden Leutnant von Wrobel und dem Baron Lohgrewe. Hinter ihren Hufen klatschten die Kotbrocken auf den morastigen Weg. Die Sonne schien schon warm. Es war Anfang April. Sie kamen am Zoologischen Garten vorbei zum Hippodrom, galoppierten über die Hindernisse und zurück zum Wasserturm, alles in stummem Ernst. Dann verfielen sie in Schritt. Der Baron warf seiner Stute die Zügel über den Hals und wollte sich oben im Sattel eine Zigarre anzünden. Da fuhren die beiden Offiziere und er mit zusammen wie beim unvermuteten Anblick eines Vorgesetzten. Und doch war weit und breit auf der Tiergartenstraße keine Uniform zu sehen. Nur eine Familie kam ihnen da entgegen, Vater, Mutter und Tochter, die beiden Damen mit schwarzen kleinen Gesangbüchern in den Händen, auf dem Rückweg vom Gottesdienst im Dom nach ihrer Villa am Kurfürstendamm. Kirchlichkeit war vornehm in Berlin, hieß Respektabilität, und Herr Bannersen, der ein Vierteljahrhundert sich über See der Baumwollbranche gewidmet hatte, und Frau Bannersen,[S. 148] Deutsch-Amerikanerin von Herkunft, waren kirchlich. Ihre Tochter war ein niedliches, kaum mittelgroßes, dunkelblondes Persönchen. Sie zeigte freundlich lächelnd den drei Reitern die weißen Zähne, und ihr Vater, ein stämmiger, bebrillter Herr, rief wohlwollend dem viel bei ihm verkehrenden Kleeblatt in seinem hanseatischen Tonfall nach: »Nun — ein S—pazierritt, meine Herren? Viel Vergnügen!«

Ja. Das war nun Bannersen. John Bannersen. Der Millionen-Bannersen. Der Mann mit der einzigen Tochter. Die drei jungen Leute ritten so tiefsinnig weiter, als hätten sie das Welträtsel zu lösen. Sie sprachen nicht. Sie waren jetzt wie drei Füchse, die gemeinsam jagten, aber sich dabei nicht über den Weg trauten. Besonders Otto von Ottersleben waren die beiden anderen ein Dorn im Auge. Der kleine Wrobel bestach von vornherein im Bannersenschen Hause durch seine Husarenpracht. Lohgrewe hatte sich dort noch kürzlich im roten Frack und der schwarzen Samtkappe auf dem Weg zur Parforcejagd in Döberitz gezeigt. Er, der Feldartillerist, konnte dagegen nur seine schlichte dunkle Linienuniform ins Treffen führen. Und das Schlimmste: die Familientrauer, in der er sich befand, hinderte ihn, sich in Gesellschaft zu zeigen. So kam er kaum mehr zu den Bannersens, die ein großes Haus machten und, wenn sie fünfzehn Leute zum Diner bei sich sahen, sicher hinterher noch fünfzig zum Tanz eingeladen hatten. Höchstens am Jour, des Nachmittags, trank er da eine Tasse Tee, eingekeilt zwischen alten Damen. Und dabei rückte die Zeit mit Riesenschritten vor. Im Lauf des Mai verließen die Bannersens für[S. 149] den ganzen Sommer Berlin. Dann hieß es alle Hoffnungen bis auf den Herbst vertagen, wenn es bis dahin nicht schon zu spät war ...

Da, wo der Reitweg am Platz vor dem Brandenburger Tor endete, standen harrend die Burschen mit den Decken für die Pferde und den Mänteln für ihre Herren. Der Baron prüfte, nachdem er abgestiegen, die Beine der Gäule, für die er im Tattersal die Pension zahlte, ohne daß man eigentlich wußte, ob sie ihm oder wem sonst gehörten. Unterdessen stand Otto von Ottersleben mit dem Husaren seitwärts und frug gedämpft: »Sagen Sie mal, Wrobel ... glauben Sie, daß Lohgrewe schon einmal energisch vorgegangen ist — da drüben ...?«

Er winkte dabei mit dem hübschen dunklen Kopf nach Südwesten, nach der Richtung, wo fern die Bannersensche Villa lag.

Der andere war ein bißchen erstaunt, daß man dies zarte Thema überhaupt zwischen ihnen berührte. Er erwiderte diplomatisch: »Keine Ahnung! ... Gott ... der hat Zeit ... der ist frei ... der kann im Sommer überall hin, wo die sind, aber unsereiner mit dem ollen Dienst ... na ... morgen!«

Er schritt sporenklirrend davon. Der Leutnant und der Baron entfernten sich nach der anderen Seite. Herr von Lohgrewe war mit allen Hunden gehetzt. Er hatte immer die Hand in Roßhändeln und auf Rennpferden auf Halbpart. Man konnte durch ihn sich an englischen und französischen Turfwetten beteiligen und bei Gelegenheit neue Automobile mit Preisnachlaß direkt von der Fabrik beziehen. Er vermittelte, rein aus Gefälligkeit,[S. 150] den Abschuß von Sechserböcken auf schlesischen Gütern und die Aufnahme in Berliner Klubs. Eigentlich ein langweiliger Mensch, mit einem länglichen, nüchternen Gesicht. Sie sprachen über einen irischen Hunter, den er zu verkaufen hatte. Als sie sich trennten, meinte er: »Nee — nee — der kleine Wrobel wird schon mit dem Schinder fertig! Springen tut das Aas ja tadellos! Ich denke, er nimmt ihn! Er braucht ihn doch in Hannover!«

»In Hannover?«

»Er ist doch zur Reitschule kommandiert! Mitten im Kursus. Zum Ersatz. Es sind ein paar dankend zurückgeschickt worden! — Doppelter Turkel, was?«

»Doppelt? Wieso?«

»Na — von Hannover bis Bremen ist doch nur ein Katzensprung, und den ganzen Sommer über ist doch der alte Bannersen in Bremen. Oder wenigstens in der Nähe. Auf seiner Besitzung!«

»Ach so!«

Der Leutnant von Ottersleben betrat in sehr gedrückter Stimmung sein möbliertes Zimmer in Charlottenburg. Er war nervös geworden. Die beiden Kerle gewannen entschieden einen Vorsprung vor ihm. Er endete schließlich noch im geschlagenen Felde. Er stand am Fenster und nagte unschlüssig an der Unterlippe. Schließlich: mehr wie abblitzen konnte man nicht! Einmal mußte man das Risiko laufen, und wenn die anderen ihm nicht gute Chancen zutrauten, wären sie doch schon längst selber zum Angriff vorgegangen! Eine fiebernde Angst ergriff ihn, hinterher der Dumme gewesen zu sein — als Gast an der Hochzeitstafel zu sitzen,[S. 151] statt als Bräutigam! Es wurde ihm plötzlich rücksichtslos durchgängerisch zumute. Er hatte das Gefühl: Jetzt oder nie! Er sah auf die Uhr. Es war eins. Die richtige Besuchsstunde. Er nahm blindlings den Helm und eilte den kurzen Weg hinüber nach dem Kurfürstendamm. Er wollte wenigstens dort einmal den Kopf hineinstecken. Dann konnte man ja sehen, was einem der Augenblick eingab.

Aber die Familie Bannersen war gerade bei Tisch. Der Lakai lispelte es diskret. Natürlich ... in Berlin war man immer bei Tisch, von halb eins bis halb sieben — die eine Hälfte der Leute aß, die andere war unterwegs, um sie darin zu stören. Der Artillerist war schon im Vorgarten, da hörte er hinter sich Schritte, der Diener holte ihn atemlos ein. Die Herrschaften ließen doch bitten!

Und Frau Bannersen streckte ihm bei seinem Eintritt in das reiche Speisezimmer, in dem sonst nur noch ihr Mann und ihre Tochter waren, verbindlich die Hand zum Kuß entgegen.

»Man sieht Sie jetzt in Ihrer Trauer so selten, lieber Herr von Ottersleben ... Man muß die Gelegenheit wahrnehmen! Haben Sie schon gefrühstückt? Nein! Nun — das trifft sich ja gut!«

So liebenswürdig war sie noch nie gewesen. Auch ihr Mann schob freigebig dem Gast die Kiebitzeier über den Tisch zu und goß ihm Sherry ein.

»Wir haben uns ja heute schon im Tiergarten gesehen!« meinte er dabei wohlwollend. »Sie steigen wohl leidenschaftlich zu Pferde, Herr Leutnant!«

»Ja. Die Ottersleben standen früher immer bei[S. 152] der Kavallerie. Meist bei den Kürassieren, bis wir in der Franzosenzeit unsere Güter verloren. Hätten wir die noch, so könnte ich jetzt noch jeden Augenblick übertreten. Man nähme mich gleich ...«

»Oh!« sagte Fräulein Bannersen mit sichtlichem Interesse.

Er betonte: »Meine Mutter stammt doch auch aus der Kavallerie. Mein Onkel Koninck ist Husar.«

»Wohl auch eine sehr alte Familie?« erkundigte sich Frau Bannersen.

»Rheinisch-niederländischer Uradel, gnädige Frau! Schon auf dem Turnier zu Mainz unter Barbarossa!«

Es war ein Augenblick Schweigen bei diesem Blitzlicht in die Jahrhunderte zurück. Otto von Ottersleben hatte das sonderbare Gefühl, als sei er hier erwartet worden. In ihm wuchs der Wagemut. Sein Puls schlug unruhig. Er nahm seinen Vorteil wahr. Er lief Sturm mit dem Gothaer Almanach.

»Wir Ottersleben waren natürlich auch vor den Hohenzollern in der Mark,« sagte er in einem Ton, als sei bei jedem besseren Menschen dieser Vorzug selbstverständlich. »Nun sind wir ja klein geworden. Das heißt: an Zahl nicht! Wir sind augenblicklich einundzwanzig in der Armee!«

»Und die kennen sich alle untereinander?«

»Wir haben jedes Jahr hier in Berlin Familientag, gnädiges Fräulein, da kommen immer eine Masse. Die Damen benutzen die Gelegenheit und lassen sich bei Hofe vorstellen.«

»Darf denn jede Ottersleben zum Kaiser?«

»Jede.«

[S. 153]

In dem niedlichen Puppengesicht des jungen Mädchens vor ihm belebten sich die Augen eine Sekunde in träumerischem Glanz. Während man nach Tisch im Palmengarten Kaffee trank, tauschten sie und die Mutter einen Blick. Der Vater unterdrückte ein Gähnen. Er war ein kurzes Mittagschläfchen gewohnt. Er zog sich geräuschlos zurück. Und der sonderbare Zufall wollte es: Frau Bannersen mußte draußen einen Besuch empfangen. Nur auf einen Sprung. Dieser Gast war gar nicht vorhanden. Statt dessen trat sie zu ihrem Gatten in das Rauchkabinett. Sie brauchte ihn nicht zu wecken. Er fand heute, trotz seines Phlegmas, keinen Schlummer, sondern ging, mit den Händen in den Hosentaschen, im Zimmer herum.

»Sie sind allein drüben im Wintergarten!« sagte sie aufgeregt. John Bannersen nickte nur. Und vertiefte sich in die wählerische Untersuchung einer Havannakiste. Sie schwiegen beide. Was sollte man sich noch viel erzählen? Die Sache war in der Familie ja schon lange spruchreif. Wohl eine Viertelstunde saßen sie stumm beisammen. Dann hörte man drüben vom anderen Ende der Zimmerflucht Stimmen. Rasch sich nähernde Mädchenschritte. Die Portiere flog zurück.

»Papa ... Mama ... bitte, seid mir nicht böse: ich hab' mich eben verlobt! Da ist Otto!«

Die Mutter schloß die Kleine weinend in die Arme. Der Alte erhob sich, legte seine Upmann weg und dachte sich philosophisch: Nun soll ich auch noch so tun, als ob ich mich wunderte! Vor ihm stand der Leutnant von Ottersleben, hochrot im Gesicht, ganz verwirrt, und stammelte: »Verlobt darf ich es wohl noch nicht[S. 154] nennen ... Ich mochte nur ganz gehorsamst um die Hand Ihres Fräulein Tochter ...«

»Kommen Sie mal bitte da herein, Herr von Ottersleben!« sagte John Bannersen mit geschäftlicher Gelassenheit und führte ihn in ein Seitenkabinett. Sie blieben darin eine geraume Zeit, in einem Gespräch unter Männern. Als sie wieder herauskamen und der junge Ottersleben stürmisch in die Arme seiner Braut flog, sagte sein künftiger Schwiegervater gedämpft und mit hochgezogenen Brauen zu seiner Frau: »Ein merkwürdiger junger Mensch! Er hat keine Schulden! Er hat mir sein Ehrenwort darauf gegeben.«

»Das ist ja reizend, Johny!«

Aber der alte Bannersen war klüger als seine Frau. Er schüttelte bedächtig das graue Kaufmannshaupt und meinte: »Ein Leutnant ohne Schulden! ... Der wird mich ein schönes S—tück Geld kosten!«

Es war schon gegen acht Uhr abends, als Otto von Ottersleben das Haus seiner Braut verließ. Er hatte den ganzen Tag dort zugebracht. Man hatte alles besprochen: die Verlobung sollte jetzt gleich bekannt gegeben, die Hochzeit nach dem Manöver gefeiert werden. Er lief wie berauscht durch die dämmernden, frühlingswarmen Straßen dahin, er glaubte noch kaum an sein Glück. Er hätte jeden Vorübergehenden umarmen mögen. Er mußte unter Menschen. Zu seinen Nächsten. Er rannte durch den Tiergarten in das Hansaviertel, zu den Schwestern und dem Schwager.

Die saßen gerade beim Abendbrot. Ulla in der Mitte, in einem Lehnstuhl, ein Kissen hinter sich, noch schwach von der überstandenen Krankheit, aber mit[S. 155] einem sanften und freundlichen Ausdruck auf den klassischen Zügen. Neben ihr Maxes lachende, blauäugige Jugend. Und zwischen dem blonden und dem schwarzen Kopf der Schwestern Erich von Logows streng geschnittenes, aber jetzt auch lächelndes Profil mit dem kurzen dunklen Schnurrbart. Die Lampe goß von oben ihr gedämpftes Licht über die gemütliche kleine Tafelrunde.

»Hurra, Kinder ... ich hab' mich verlobt!«

Es platzte wie eine Bombe in diesen Frieden von Tee und kaltem Aufschnitt. Es war ein Aufspringen, ein Gedränge, ein Gefrage. Der junge Leutnant schüttelte Hände, lachte, sah triumphierend um sich, setzte sich, aß, trank, erzählte in einem Atem, sich an seinen eigenen Worten begeisternd.

»Na — wie steh' ich jetzt da? Großartige Geschichte — nicht? ... Also ... wißt ihr ... die Adda ist überhaupt süß! Das wird 'ne famose kleine Frau! Sie läßt euch grüßen. Sie läßt dir, Ulla, und der Maxe sagen, sie hätt' euch jetzt schon so lieb. Na — wenn ihr sie nun erst kennen lernt ... Mir ist ganz schwindlig zumut! Das ging heut wie Ziethen aus dem Busch! Drauf und hat ihm schon!«

»Ja — wie ist denn das so rasch gekommen?«

Der Leutnant lächelte geringschätzig.

»Na also ... Die Adda und ich ... wir lieben uns ... Wir lieben uns also einfach ... das ist die ganze Chose ... das heißt: wir lieben uns kolossal ... eigentlich ist's natürlich von Haus aus 'ne reine Herzenssache! Maxe, sei so gut und lach nicht so dumm ... Hast du dich schon mal verlobt? Nee — also! Da sei[S. 156] du mal still! ... Gib mir lieber den Schinken ... Ich hab' seit heute früh nichts mehr gegessen vor Aufregung ... Danke ... Ja, die Adda mag mich, und das Schwiegermamachen leckt sich alle zehn Finger nach mir ... Und mit dem beau-père läßt sich's brillant reden! ... Der alte Herr hat so vernünftige Vorstellungen vom Leben! Wißt ihr — was er uns für den Anfang gibt? — Na — ihr erratet's ja doch nicht — dreißig Mille ... Da möcht' man vom Stuhl fallen ... nicht?«

»Ach, du lieber Gott! Nicht mehr?«

»Was?«

»Da kannst du ja noch gar nicht heiraten! Das ist ja noch nicht die Hälfte vom Kommißvermögen!«

Otto von Ottersleben legte seiner Schwester beinahe feierlich die Hand auf den blonden Scheitel.

»Gott erhalte dir deine Einfachheit, Maxe!« sprach er. »Wie kann man nur so hübsch sein wie du und dabei so dumm! Die Dreißigtausend sind doch die Zulage jährlich ... die Zu—la—ge! Der alte Bannersen ist ein merkwürdiger Mensch! Mir gefällt er! Und die Adda ist ein süßes Deubelchen! Du bist feierlich zu uns eingeladen, Maxe, wenn wir mal verheiratet sind! Du wirst dich wundern, mein Kind!«

Seine schlanke blonde Schwester lachte, und goß den deutschen Sekt in die Gläser. Sie hatte ihn selbst aus dem Keller geholt. Sie war ein wenig atemlos, ihre Wangen rot vom Treppenlaufen. Die Hängelampe vergoldete ihr blondes Haar, während sie dastand und behutsam, mit ernsthaft zusammengepreßten Lippen den weißen Schaum in die Kelche fließen ließ.[S. 157] Ihr Bruder Otto fand sie in seiner rosigen Stimmung in diesem Augenblick wirklich reizend. Ihm schien, die anderen auch. Er fiel ihr um den Hals und gab ihr einen stürmischen Kuß.

»Na — du alter Pascha!« meinte er, nachdem man angestoßen und sich wieder gesetzt hatte, vergnüglich zu seinem Schwager. »Wie fühlst du dich denn so zwischen den beiden Schönheiten? Das ist doch was anderes, als so 'n klateriger Junggeselle sein! Zu nett ist's hier! Es hat mir hier noch nie so gefallen wie heute.«

Wieder ließ er den Blick durch die Räume schweifen. Eigentlich hatte sich nichts verändert, und doch war alles anheimelnder geworden. Frühlingsblüten und Palmkätzchen standen umher, Blumentöpfe am Fenster. Den Tisch deckte ein gestickter Läufer. Kleine, mattgelbe Seidenhüllen milderten das grelle elektrische Licht. Es gab nette Zutaten zum Essen. Drollige Kissen waren bequem für Ulla auf dem Diwan aufgestapelt. Nebenan, im Rauchzimmer, waren die Möbel ein wenig gerückt, so daß der Stuhl für den Hausherrn bequemer stand. Die Abendzeitung lag davor. Auf dem Tischchen brannte die Kerze zum Anzünden der Verdauungszigarre. Es war überall mollig. Der Leutnant von Ottersleben nickte befriedigt seiner älteren Schwester zu.

»Na — Ullimaus — wie geht's? Drei Wochen war der Frosch sehr krank — jetzt lacht er wieder, Gott sei Dank! ... Fabelhaft hast du dich 'rausgemausert, seit ich das letztemal hier war.«

»Sie pflegen mich ja auch so gut!« sagte die blasse junge Frau. Ein freundlicher Blick streifte dabei ihren[S. 158] Mann. Der erwiderte ihn. Sie lächelten sich in stillem Einverständnis zu. Der Leutnant traute seinen Augen nicht.

»Kinder — das ist ja zu nett, wie ihr euch da so anplinkert ... ich will meine Frau auch immer riesig gern haben! ... Kann sie verlangen! ... Na ... Prost, ihr lieben Leute! ... Und auf deinen unbekannten Zukünftigen auch, Maxe! ... Weißt du übrigens, Erich, daß du auch viel besser aussiehst, gegen früher? ... So noch vor vier Wochen konnte man wirklich in Angst um deine Gesundheit sein. Nun ist wohl die tollste Arbeit im Generalstab vorüber?«

»Ach wo — rasend hat er zu tun!« rief Maxe eifrig über den Tisch.

»Bei den Eisenbahnleuten stoppt's jetzt vielleicht!« sagte Logow. »In meiner Abteilung ist die Tretmühle immer gleich. Aber die Nerven gewöhnen sich allmählich daran. Besonders, wenn man sonst seine Ruhe hat ...«

Maxe kam eben geschäftig aus dem Nebenzimmer.

»Du, Erich: ich hab' deine Schreibereien doch lieber in die Schublade getan. Eure Minna versteht zwar nicht Russisch, aber immerhin ... Vorhin hat auch eine Ordonnanz etwas gebracht. Es liegt unter deinem Briefbeschwerer rechts. Ich hab' hineingeschaut. Es ist wegen der Generalstabsreise ...«

»Danke schön!« sagte Erich von Logow in einem Ton, der verriet, daß er an diese kleinen Hilfeleistungen schon gewöhnt war.

Als er wieder allein mit seinem Schwager bei der Zigarre zusammen saß, meinte der erstaunt: »Also dafür[S. 159] interessiert sich die Maxe bei euch auch? Komisch: zu Hause hat sie doch nie viel getan!«

»Hier macht sie einfach alles!« sagte Erich von Logow, »sie ist unermüdlich! Ich weiß nicht, wie ich ihr danken soll für das, was sie in diesen Wochen geleistet hat. Sie war uns wirklich ein treuer Kamerad in der schweren Zeit ...«

Sein Schwager bejahte.

»Ich will dir's ehrlich gestehen: früher war's bei euch ungemütlich. So etwas Kaltes. Woran es lag, weiß der Kuckuck. Aber man fühlte so: es hatte niemand so rechte Freude daran ...« er erhob sich und rief ins Nebenzimmer: »Du, Maxe ... klingen dir nicht die Ohren? ... Hier wird eben auf dich geschimpft ... nach Noten ...«

»Stör' mich jetzt nicht ...« Maximilianes helle Stimme antwortete es von drinnen. »Ich muß Ulla ihre Tropfen geben!«

Sie beugte sich über die andere und flößte ihr vorsichtig mit einem Teelöffel die Arznei ein, nicht wie eine wirkliche, sondern wie eine barmherzige Schwester. Von nebenan sah ihr Erich von Logow zu. Dann wandte er sich zu seinem Schwager.

»Das Pflichtbewußtsein hätt' ich der Maxe allenfalls zugetraut. Aber daß man dabei merkt: sie tut's freiwillig! ... gern! ... Nie sieht man bei ihr eine saure Miene — auch wenn Ulla einmal unausstehlich ist — was übrigens bei ihr kaum mehr vorkommt! ... Die Maxe ist wirklich ein ganzer Kerl! Wer die mal kriegt, kann sich gratulieren!«

»Aber Zeit wär's nachgerade!« meinte der Leutnant[S. 160] nachdenklich und rüstete sich zum Gehen. »Wißt ihr eigentlich, warum sie ums Totschlagen nicht heiratet?«

»Nein. Von sich spricht sie nie. Sie ist darin merkwürdig verschlossen, trotz ihrer Heiterkeit. Na, gute Nacht, Otto!«

»Gute Nacht! ... Ja ... mein alter Erich, nun tret' ich in deine Fußtapfen ...«, Otto von Ottersleben küßte galant Ulla die Hand, »... und hoffentlich mit demselben Glück! Und dich, Maxe, bringen wir jetzt auch unter die Haube! Wart nur, Schwesterchen! Ist ja schade um dich! Adieu!«

Sein Schwager geleitete ihn selbst hinunter, um ihm die Haustür aufzuschließen. Als er zurückkam, fand er Ulla allein im Zimmer. Maximiliane war drüben beschäftigt, den Tisch abzudecken und das Geschirr fortzustellen. Denn das Mädchen hatte heute, am Sonntag, Ausgang, und der Bursche zerschlug ihr zu viel. Erich von Logow schaute sich behaglich in seinen vier Wänden um. Die paar Gläser Sekt hatten ihn, der oft die ganze Zeit hindurch keinen Alkohol trank, angenehm angeregt. Er war gesprächiger als sonst. Er ging, die Zigarre in der Hand, auf und ab und plauderte mit seiner Frau. Zuerst natürlich von der Verlobung. Im Grunde seines Herzens billigte er ja diese für einen Offizier zu reiche Partie nicht, aber schließlich: der Otto war großjährig. Der mußte selber wissen, was er tat.

»Jedenfalls hat's mich gefreut, daß er heut hier alles so nett gefunden hat!« meinte er. »Gut, wenn man's auch mal aus anderem Munde hört! Ich hab'[S. 161] mir schon manchmal gedacht, es ist bei mir bloß Einbildung, wenn ich mich jetzt daheim so pudelwohl fühle, bei euch ... die ganze verfluchte Mietwohnung hat ein anderes Ansehen! ... Und wenn's zehnmal alles nur Kleinigkeiten sind — Herrgott ... aus denen setzt sich das Leben zusammen. Die großen Tage sind rar!«

»Ja! die Maxe versteht's ...« sagte Ulla. Sie blickte mit einem eigenen, träumerischen, aber ganz freundlichen Lächeln in das verschleierte Lampenlicht, in dessen Dämmerung ihr schöner Kopf matt wie Marmor schimmerte. Er beugte sich zu ihr nieder und gab ihr einen Kuß.

»Du verstehst's auch, Schatz!« versetzte er.

»Ich? ... Was kann denn ich tun? ... Ich bin ja krank ... Ich sitz' nur da und lege die Hände in den Schoß ...«

»Aber innerlich hast du dich ganz umgekrempelt!«

Er blickte ihr ermutigend in die schwermütigen Augen. »Fühlst du das nicht selber, wie dich die Maxe mit ihrem Gewirtschafte und Gesinge und ihrem Frohsinn allmählich angesteckt hat? Komisch, wie so was unbewußt in einem vor sich geht! ... Du bist ja wie ausgetauscht, Herz!«

»Merkst du das wirklich?«

Sie sprach das leise und hob langsam die dunkeln Wimpern zu ihm empor. Er ließ seine Rechte auf ihrer Schulter ruhen. Er bejahte eifrig und freundlich

»Na — du lachst doch seitdem wieder! ... Du schaust einen mal lieb an! Du hast ein gutes Wort für mich ... Kind ... Dafür ist man doch so dankbar ... das vermißt man doch so ... Was hat man denn sonst vom[S. 162] Leben, außer der ewigen Schinderei im Dienst? ... Ich seh's doch sogar daran, wie du dir die Frisur machst ... und wie du dich anziehst, daß du wieder ein bißchen Freude an dir hast und mir durch dich Freude machen willst! In Worte läßt sich das nicht so fassen ... es ist so etwas Unbestimmtes ... So wie es eben sein soll und leider Gottes zwischen uns nicht mehr war.«

Er setzte sich neben sie und faßte ihre Hände.

»Große Worte wie eben kann man ja nicht immer machen! ... Aber die hundert alltäglichen kleinen Geschichten, die reden auch ihre Sprache. Die sind wie ein Gleichnis dafür, daß man sich gern hat. Glaub mir: man ist dafür empfänglich, auch wenn man es nicht sagt, es kaum zu bemerken scheint!«

»Ach — du bemerkst es wohl. Alles, was sich die Maxe so ausdenkt! ... Sie ist ja auch kolossal erfinderisch darin, es dir bequem zu machen ...«

Die junge Frau lächelte müde. Er sah sie befremdet, etwas ernüchtert und aus seiner gehobenen Stimmung gerissen, an und sagte dann nachdrücklich: »Ich rede jetzt gar nicht von mir! Bei dir bemerke ich die segensreiche Veränderung! ... Die kann ich nicht mir zuschreiben, sondern deiner Schwester. Wir alten Eheleute können wirklich von ihr lernen, wie man das Leben von der rechten Seite nimmt! Sie gibt uns das gute Beispiel, weil sie den guten Willen hat! Darauf kommt schließlich alles an, Ulla!«

»Ja. Lob sie nur ...«

»Aber Ulla — was ist denn das für eine Empfindlichkeit?«

»Sie ist eben gesund, und ich bin krank!«

[S. 163]

»Und ich danke meinem Schöpfer, daß ich sie, wie du krank warst, gebeten hab', zu kommen und dich wieder gesund zu machen. Sie wird auch einmal wieder gehen. Aber wir wollen für uns die Lehren aus der Zeit ziehen, liebste Ulla ...«

Sie erwiderte nichts, sondern blickte still und leer, mit einem Anflug ihrer früheren Teilnahmlosigkeit vor sich hin. Er erhob sich achselzuckend und nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf. In der Ferne hörte man durch die geschlossenen Türen Tellergeklapper und Maxes leichte, geschäftige Schritte im Flur. Ihre Schwester wandte einen Moment aufhorchend, unruhig den Kopf und ließ ihn dann müde wieder sinken.

»Lehren aus der Zeit?« wiederholte sie, halb geistesabwesend. »Wie soll ich denn das machen?«

Er unterdrückte eine Ungeduld, daß er gerade jetzt, in dieser seltenen Feiertagstunde zwischen ihnen, wieder an ihrem Ohr vorbeisprach. Sie verstand auch nie, den rechten Augenblick bei ihm wahrzunehmen. Er trat näher zu ihr heran.

»Einfach dir sagen: was die Maxe gekonnt hat ...«

»Du machst mich schon ganz nervös mit der ewigen Maxe ...«

»Bitte, laß mich ausreden: was die Maxe gekonnt hat, das kann ich auch! In Zukunft hier im Hause frisch und frei und fröhlich sein, dich auch ein bißchen um meinen Beruf kümmern — meine dienstlichen Interessen teilen, wie es die Maxe tut — ein gemeinsames Leben mit mir führen!«

»Das Leben ist so schwer!«

[S. 164]

»Aber wir haben uns nun einmal gelobt, es Hand in Hand zu gehen! Schau, Ulla: du hast in diesen letzten Wochen so einen guten Anfang gemacht, zum erstenmal in unserer Ehe — ich hab' wohl gefühlt, wie du dich manchmal, trotz deiner Schwäche, zusammengenommen hast ... Ich bitte dich, bleib so ... bleib auf dem Weg, auf den dich schließlich eben doch die Maxe gebracht hat — bleib nicht wieder stehen, wenn sie uns mal verläßt ... Mir ist schrecklich zumut bei dem Gedanken, daß dann das alte Elend wieder anfangen könnte ...«

Sie sagte langsam, mit einem forschenden Blick von unten: »Möchtest du denn, daß sie fort wäre?«

»Einmal wird sie's natürlich tun! Je länger sie bleibt, desto lieber ist mir's ...«

»Das glaub' ich ...« Sie murmelte es vor sich hin.

Er überhörte es. Er fuhr fort: »Denn desto mehr befestigt sich der gute Geist, der durch sie in unser Haus gekommen ist! ... Paß nur mal auf, Ulli — nun wird alles gut!«

Er zog ihre Hand an die Lippen und drückte einen Kuß darauf. Sie ließ es geschehen. Sie stak mit der Hartnäckigkeit der Kranken in ihren eigenen Gedanken fest.

»Ich hoff' es ja auch, Erich! Aber wenn du mit mir zufrieden bist — warum du mir da eigentlich immer und immer wieder die Maxe als Vorbild vor Augen stellst ...«

»Ich spreche gar nicht von der Maxe! Du fängst immer an!«

»Nein. Du!«

[S. 165]

Er beherrschte seinen Unmut.

»Von Vorbild ist gar nicht die Rede! Ich meine nur: wenn sie das hier spielend, im Handumdrehen fertig bringt — das ist doch ein Beweis, daß du als meine Frau in unseren vier Pfählen erst recht Sonnenschein verbreiten kannst, wenn du nur willst. Ich hab' mir schon manchmal gedacht: es fehlt dir nur an Mut! Du traust dir nicht so viel zu! Aber du kannst mir so unendlich viel sein! Ich muß es dir in dieser Stunde sagen. Es gibt Stunden — in denen muß man reden!«

»Nun — hauptsächlich redest du ja von der Maxe.«

»Aber ... Ulla ...«

»Sie kann wirklich stolz darauf sein, wie du sie bewunderst!«

Er zog unmutig die Brauen hoch.

»Ich begreife dich nicht! Ich hab' ihr selber nie ein Wort darüber gesagt! Du auch nicht! Aber wenn wir hier unter uns sind, müssen wir es uns doch eingestehen: mit solchem Pflichtgefühl wie sie hat man doch vollen Anspruch auf unsern Dank!«

»Schau mal her!«

»Wieso?«

»Ach — laß mal! ...«

»Was soll denn das nun wieder heißen, Ulla?«

»Nichts!«

»Du bist wirklich komisch!«

»Du auch!« sagte die junge Frau mit einem gepreßten Seufzer. Und nach einer Weile seltsamen Schweigens setzte sie hinzu: »Jedenfalls hab' ich jetzt genug von der Maxe und ihrem Pflichtgefühl gehört.«

[S. 166]

»Warum betonst du denn das Wort ›Pflichtgefühl‹ so ironisch?«

»Gott — ich denk' mir mein Teil!«

»Findest du denn nicht, daß sie ihre Pflicht in vollem Umfang tut?«

»Oh — noch viel mehr als das!«

»Nun also! Das muß man doch auch anerkennen.«

»Mir tut sie leid ...« Ulla lächelte sonderbar vor sich auf den Boden nieder.

»Das braucht sie gar nicht! Sie fühlt sich ganz wohl in ihrer Haut. Ich hab' alle Hochachtung vor dem Mädel! Ulla ... verzeih ... aber du hast wirklich auf einmal einen Gesichtsausdruck an dir ... Ich weiß nicht, wie ich den deuten soll.«

Es zuckte fiebrig um ihre Mundwinkel. Die bewahrten dabei immer noch das rätselhafte Lächeln.

»Ach, komm, wir wollen schlafen gehen!« sagte sie aufstehend und unterdrückte ein Gähnen. »Ich bin müde. Und du bist ein blinder Hesse ... Also gut!«

Sie schritt nach der Tür. Er stellte sich mit gerunzelter Stirn vor sie hin. Seine Stimme klang unangenehm fest.

»Nee — bitte gehorsamst ... Mit diesen undeutlichen Anspielungen sagen wir uns nicht gute Nacht! Nun gefälligst heraus mit der Sprache! Was meinst du eigentlich?«

Da warf sie den Kopf zurück und lachte gereizt auf.

»Bildest du dir wirklich ein, die Maxe drängte sich überall so zur Hilfeleistung wie hier? Ach, du lieber Gott! Ich kenne sie doch! Länger als du! Besser als du! Sie ist so wenig ein Engel wie wir andern![S. 167] Sie ist auch nur ein Mensch! Sie weiß schon, warum sie sich dir so aufopfert! Und ich weiß es auch!«

Er trat einen Schritt zurück.

»Ulla — um Gottes willen ... Überlege, was du da sagst.«

Sie erwiderte nichts. Sie nagte nervös an der Unterlippe, als bereute sie schon ihre im Zorn herausgestoßenen Worte.

»Ulla — ich weiß nicht, ob ich dich recht verstehe? Was meinst du damit?«

»Nichts! Gar nichts! Ich hätt' überhaupt still sein sollen! Es wäre besser gewesen! Ich hab' auch gar nichts gegen die Maxe! Sie ist ja wirklich so gut und nett. Aber du ärgerst mich nun schon seit einer geschlagenen Stunde mit ihr ...«

»Bitte, jetzt keine Umschweife! Was war der Sinn deiner Antwort vorhin?«

»Gott ... ich hab' es dir ja schon seinerzeit einmal gesagt — gleich am Tag nach unserer Verlobung — sie hätte was für dich übrig!«

»Ja, damals hast du diesen Unsinn behauptet!«

»Und sie hat's noch! Sehr sogar! Mehr als mir lieb ist!«

»Ulla!«

»Wenn ich in so was bösartig wär', hätt' ich längst Lärm geschlagen. Aber ich bin nicht so ...«

»Ulla ... wenn du das dir einbildetest, hättest du es mir beizeiten sagen müssen!«

»Habt ihr mich denn gefragt? Ich war ja krank, wie sie kam!«

Weicher, die Hände bittend gefaltet, setzte sie hinzu:[S. 168] »Und ich kenn' dich doch: Erich! Ich weiß ja: ich kann ruhig sein! ... Schau mich nur nicht so an! Gott ... hätt' ich doch nicht geredet!«

Die Tür ging auf. Eine helle Mädchenstimme rief: »Du, Erich ... da ist noch viel Bier in der Flasche! Willst du's nicht austrinken?«

Maxe stand auf der Schwelle. Sie hatte sich die Tür mit dem Ellbogen aufgeklinkt. In den Händen hielt sie ein Tablett. Ihr fröhliches Gesicht veränderte sich. Sie sah die beiden, wartete umsonst auf Antwort, merkte, daß man von ihr gesprochen. Sie verfärbte sich langsam. Er gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen.

»Danke schön!« sagte er mit ruhiger Stimme und goß sich ein. Während er trank, schaute er über das Glas hinweg auf sie. Ihre Blicke trafen sich und irrten blitzschnell auseinander. Es war ein Schweigen ...

[S. 169]

8

Der Hauptmann von Logow hatte länger als gewöhnlich im Dienst zu tun gehabt. Die Uhr zeigte Mitternacht, als er sein Haus im Hansaviertel betrat. Oben im Flur war es totenstill. Alles schlief schon. Auf den Fußspitzen, um niemanden zu wecken, durchmaß er den dämmerigen Salon, in den von nebenan, aus seinem Arbeitszimmer ein Lichtschimmer fiel. Denn auf seinem Tisch brannte ein für allemal jeden Abend in Erwartung seiner Rückkehr die Lampe und harrte seiner das Schreibwerk in der großen, festverschlossenen ledernen Mappe.

Aber heute war der Stuhl davor nicht leer. Auf der Schwelle stehend, sah er über dessen Lehne einen blonden Mädchenkopf, der sich emsig über ein Blatt Papier auf der Tischplatte beugte. Ein Aktenstück war davor, schräg gegen die Lampe gestellt. Sie schrieb es ab, ruhig, gleichmäßig, ohne einmal anderswohin als nach dem militärischen Dokument vor ihr aufzublicken. Unter der grünen Glocke her umwob das elektrische Licht ihr Haupt mit einem goldenen Schimmer, in dem einzelne verirrte Haarsträhnchen durchsichtig wie gesponnene Seide schimmerten. Ihr schmales, hübsches Gesicht, von dem er nur das Halbprofil sah, trug einen aufmerksamen Ausdruck. Sie war mit[S. 170] tiefem Ernst bei der Sache, um nichts zu verfehlen. Zuweilen wiederholten ihre Lippen murmelnd ein schwieriges Wort und prägten es sich so besser für das Abschreiben ein. Ihre weiße Hand glitt regelmäßig auf dem schimmernden Blatt hin und her. Das leise Knirschen der Feder war der einzige Laut in der Stille der Mitternacht, in der sie dasaß und für ihn wachte und für ihn tätig war.

Und wie er so stand und sie schweigend, unbemerkt betrachtete, da zog sich ihm das Herz plötzlich in einem wilden Weh zusammen. Er hätte auflachen können über sich, über das Schicksal, über Gott und die Welt. Nein. Nein. Über sich nur. Er allein war schuld. Er hörte ein leises Blättern. Maxe Ottersleben schlug eine Seite um und fing, immer mit derselben Pflichttreue, die nächste an. Es war bei ihr keine Spielerei einer müßigen Stunde. Sie war offenbar entschlossen, das Schriftstück heute nacht noch zu Ende zu bringen. Der hinter ihr, am Eingang, legte die Hände ineinander. Seine Züge waren düster. Er sagte sich: Dich hätte ich haben können! Du hast auf mich gewartet! Denn du hast gewußt, daß du die Rechte für mich warst, für einen Mann wie mich. Du hättest mich verstanden. Du hättest meine Arbeit geteilt, wie du sie jetzt freiwillig teilst. Du wärst mein Kamerad geworden. Alles wäre anders geworden in meinem Leben durch dich ...

Das junge Mädchen war so in ihre Tätigkeit versunken, daß sie sein schweres Atmen, das leise Klirren eines Sporns bei einer unwillkürlichen Bewegung nicht hörte. Sie schrieb unermüdlich, und sein Auge hing an ihr, in hoffnungsloser Bitternis und Reue: Ich wär'[S. 171] ein anderer Mensch geworden, der, der ich zu werden hoffte. Stark und in mir einig und geschlossen, tüchtig zum Leben und zum Dienst. Was mir fehlte, hättest du in mir ergänzt. Ich aber war blind. Und bin an dir vorbeigegangen und habe das Geheimnis deiner scheuen blauen Augen nicht begriffen. Hätte ich damals gewußt, was ich jetzt weiß ...

Maxe Ottersleben schüttelte, ihm den Rücken zudrehend, den Kopf, um eine zudringlich summende Fliege zu verscheuchen. Es war wie eine Abwehr == eine Bewegung des Entsagens: Zu spät! Zu spät! Nebenan schläft deine Frau. Sie weiß nichts von dir. Sie weiß nichts von deinem Dienst. Sie gähnt, wenn du nur davon sprichst. Sie ahnt nichts von deinem Wesen und Streben, über sie hinaus. Es erschreckt sie nur — macht sie mutlos — müde — krank. Aber es ist deine Frau. Du hast sie gewählt. Du bist an sie gebunden auf Lebenszeit ...

Er preßte die Hände ineinander, um einen Anfall von Verzweiflung beim Gedanken an die Zukunft zu bemeistern. Seit jener Aussprache vor vierzehn Tagen, in der ihm Ulla das Geheimnis ihrer Schwester verraten, war sie wieder ganz in sich zusammengesunken, stumpf geworden. Sie gab sich keine Mühe mehr. Es ging alles seinen alten Gang. Und da drüben am Tisch saß ein junger, lebensstarker, tatenfroher Mensch, dürstend danach, zu helfen, zu dienen, zu lieben, und verblühte ... Erich von Logow schaute sie an und sagte sich wieder: Du bist Geist von meinem Geist. In dir erkenn' ich mich! Du hättest mich ergänzt. Und ... deine Schwester war schön ... aber du bist es auch ...

[S. 172]

Vorsichtig, als müsse dies blonde lebende Bild vor ihm am Tisch bei seinem Nahen wie ein Traum der Nacht zergehen, trat er heran. Sie drehte sich um und fuhr hastig empor. Sie legte die Linke ans Herz, während die Rechte noch die Feder hielt.

»Herrgott ... hast du mich erschreckt ...«

Das schöne, in seinem Reiz immer noch ein wenig unregelmäßige Mädchengesicht vor ihm war wirklich blaß geworden. Sie war nervös durch die stundenlange, anstrengende Arbeit, mit der sie, wie ihm ein Blick auf die angefangene Seite zeigte, beinahe zu Ende war. Er gab ihr die Hand und frug gedämpft — seltsam, wie die Stimme in der Stille des Hauses, der Ruhe des nächtlichen Berlins vor den Fenstern, widerhallte: »Maxe — was machst du denn da?«

Sie warf bei seinen fast strafend klingenden Worten trotzig den Kopf zurück, mit jener Bewegung verschlossenen Willens, die ihr von jeher eigen war. Seitdem sie neulich in das Zimmer getreten war und das Ehepaar in dem Gespräch über sie getroffen hatte, war sie gegen ihn herbe und scheu, manchmal beinahe feindselig, so als ahnte sie, daß er etwas wußte ...

»Friß mich nur nicht gleich!« sagte sie schroff zu ihrem Schwager. »Du hast doch heute mittag geklagt, daß du zu der vielen Eisenbahnarbeit, die sie dir in Vertretung aufgehalst haben, noch diese rückständige Abschrift auf der Seele hättest. Na — da hab' ich mich eben flugs hingesetzt! Das ist doch weiter kein Verbrechen!«

»Doch! Es ist eigentlich verboten!« Er hielt die Blätter in der Hand und ließ sie durch die Finger[S. 173] gleiten. »Da darfst du als Zivilist von Rechts wegen nicht die Nase hineinstecken!«

Das junge Mädchen zuckte die Achseln und lächelte zu ihm in befangenem Spott: »So? Na — da nimm dich nur in acht: ich steck's morgen noch der französischen Regierung! Ich hab' schon meine Verbindungen in Paris ... Schad' nur, daß ich die Geschichte nicht ganz kapiere ...«

Dann wurde sie plötzlich ernst und heftig.

»Du sollst jetzt schlafen, Erich! Du brauchst deine Nerven besser als für so 'ne Tretmühle von Abschrift! Da bin ich gut genug dazu!«

»Und deine eigene Nachtruhe?«

»Was kommt's denn auf mich an? Ich kann morgen bis zehn in den Federn bleiben, wenn ich mag! Ich hab' ja auf Gottes weiter Welt nichts zu tun. Ich will mich doch ein wenig nützlich machen, wo ich euch nun schon einmal im Hause das Brot wegess'! ... Und nun störe mich bitte nicht! Sonst verschreibe ich mich gerade noch zu guter Letzt!«

Sie setzte sich und vollendete die Schlußseite. Er stand schweigend daneben und sah ihr zu. Nach kurzem erhob sie sich mit einem Seufzer der Erleichterung und dehnte sich in den schmächtigen Schultern.

»Da!« sagte sie wenig liebenswürdig, ihm die Arbeit hinschiebend. »Gute Nacht! Du mußt mir versprechen, daß du auch schlafen gehst!«

»Erst muß ich noch die Abschrift vergleichen! Sie muß morgen früh weg!«

»Ich wußt's doch! ...«

Maxe Ottersleben machte eine ungeduldige Bewegung[S. 174] und meinte dann nach einer Pause: »Ich hab' auf alle Fälle Kaffee warm gestellt ... Du kannst ja nicht mehr aus den Augen schauen ... Wart, ... ich bringe dir ...«

Sie lief davon und kam nach kurzem mit der dampfenden Kanne und zwei Tassen zurück. Sie goß ihm im Stehen ein. Ihre Hände berührten sich, als er den Schalenrand ergriff, und zuckten so rasch auseinander, daß der Löffel klirrte. Auch ihre Blicke mieden sich. Sie waren wie zwei gute Freunde, die Angst voreinander hatten, ohne einander zu verraten, warum. Und um sie das feierliche, fast geheimnisvolle Schweigen. Man hörte förmlich die Stille in diesen Stunden zwischen Mitternacht und Morgen.

Er setzte sich in einen Lehnstuhl, zog die Brauen hoch und begann, Maximilianes Werk nachzuprüfen.

Sie stand am Tisch. Sie meinte gleichgültig, geschäftsmäßig: »Du — gib mir unterdessen doch ein paar von den Tabellen ...«

»Jetzt noch? Bist du verrückt? Nee — Kind: jetzt heißt's marsch in die Baba!«

Aber sie beharrte: »Ich muß erst wissen, ob die Abschrift ordentlich geworden ist! Inzwischen kann ich schon noch Kästchen machen!«

Und mit einem halben, nicht ganz freien Lachen fügte sie hinzu: »Ich krieg' doch von dir zehn Pfennig für jede Seite. Zusammen ist das für mich 'ne Masse! Ich spar' schon auf einen Sommerhut in 'nem Laden in der Potsdamer Straße. Den hab' ich mir dann ums Vaterland verdient!«

Er tat ihr den Willen und reichte ihr die Bogen.[S. 175] Sie nickte verständnisvoll und saß neben ihm wie sein Adjutant und begann, was sie ›Kästchenmachen‹ nannte: sie umrahmte mit geübter Hand gewisse Vierecke in den Listen einer Mobilmachungsänderung. Er hatte sich in den umfangreichen Bericht vertieft. Beide waren stumm. Zwischen ihnen braute der Kaffeedampf. Die Uhr tickte. Fern verkündeten Schläge von einem Turm schwer dröhnend die zweite Stunde. Alles schlief. Nur sie — der Mann und das Mädchen — wachten, für die Sicherheit des Reiches ...

Endlich sprang er auf, klappte den Aktendeckel zu und verschloß alles im Schreibtisch.

»Gut so!« sagte er laut und befriedigt. »Du machst das wirklich wie ein Alter! Da ist mir wirklich eine Last von der Seele! ... Mir hat vor dieser Büffelei geradezu gegraut! Ich danke dir!«

Er drückte ihr die Hand.

»Gute Nacht!« sagte er hastig. »Gute Nacht, liebe Maxe!«

Er vermied es dabei, ihrem Blick zu begegnen. Er wandte sich so rasch ab, daß er ihr leises ›Gute Nacht‹ kaum mehr hörte, und ging mit langen Schritten aus dem Zimmer und im Dunkeln auf den Fußspitzen weiter über den Flur. Sie stand und schaute ihm nach. Ein banges Frösteln überlief ihre schlanke Gestalt. Sie atmete schwer auf. Dann löschte sie das Licht, das er in seiner Eile, seiner förmlichen Flucht, auszudrehen vergessen, und schritt langsam, mit gesenktem Haupt hinüber in ihre Stube.

Am übernächsten Mittag kam Peter Ottersleben, ihr jüngster Bruder, von den dreizehnten schlesischen[S. 176] Grenadieren, der für ein paar Tage in Berlin auf Urlaub war, zu Tisch. Er erzählte als neugebackener Leutnant eifrig von seiner Garnison und seinem Regiment. In dem waren zwei Herren, die der Hauptmann von Logow von früher, vom gleichen Cötus in der Kriegsakademie her, kannte. Sie ließen ihn grüßen. Erich von Logow fuhr aus seinen Gedanken auf und sagte hastig: »Ja ... ja ... natürlich ... da hast du recht!«

Der junge Schwager lachte.

»Du hast ja gar nicht zugehört!«

»Ja ... verzeih ...«

»Du bist überhaupt so geistesabwesend diesmal! Was hast du denn im Kopf?«

»Er ist müde!« sagte Maxe. »Laß ihn doch!«

Fast zugleich versetzte Ulla, die die ganze Zeit über wie gewöhnlich geschwiegen, über ihren Suppenlöffel hinweg: »Ja — verteidige du ihn nur immer ...«

Es waren an sich belanglose Worte. Nur eine sonderbare kalte Betonung. Einen Augenblick flog ein Engel durch das Zimmer. Der kleine Leutnant merkte nichts. Er meinte harmlos: »Du, Erich! Was machst du nur, wenn die Maxe mal weggeht?«

Logow zog die Augenbrauen hoch und goß ihm Wein ein.

»Wieso?« frug er dabei schroff.

»Na — du bist doch so an sie gewöhnt! Sie ist doch deine rechte Hand ...«

»Wer behauptet denn das?«

»Ja. Das merkt man doch! ... Vorhin hättest du sehen sollen, wie sie auf deinem Schreibtisch abgestaubt[S. 177] hat, so behutsam, als ob jedes Blättchen von Gold wäre! ... Ich weiß nicht, Maxe — früher warst du doch nicht so furchtbar ordentlich ... Ist das erst so, seit du im Großen Generalstab bist?«

Seine blonde Schwester fuhr ihm mit der Hand über den Kopf wie einem Kind.

»Ich denk' immer, du spielst noch mit Bleisoldaten, Peterchen ... Und dabei macht der kleine Mann schon Witze! Na — sie sind auch danach! Sei lieber still!«

Sie redeten von anderen Dingen. Aber beim Kaffee fing der junge Bruder wieder an: »Gestern war ich bei Ottos Schwiegereltern! Du, Maxe — bei denen hast du den Vogel abgeschossen! Die finden dich reizend! Besonders der Alte! Der meinte, sie hätten dich zu gern mal bei sich in Bremen auf Besuch. Aber ich hab' gleich gesagt: Nee! Die darf nicht! Die hat mein Schwager zu nötig. Die gibt er nicht her!«

Er lachte unbefangen und fuhr dann verblüfft zurück und setzte sich aufrecht. Der Hauptmann von Logow hatte auf den Tisch geschlagen, daß die Tassen klirrten.

»Zum Donnerwetter, Peter ... was ist denn das für eine dumme Art? Sei so gut und hör jetzt mal auf!«

Solch ein Zornausbruch war bei seiner eisernen Selbstbeherrschung etwas ganz Unerhörtes. Ulla und Maxe schauten schweigend vor sich hin. Der Kleine saß still wie ein begossener Pudel. Erst als sein Schwager zu einer Ordonnanz in den Flur gerufen war, forschte er kleinlaut: »Was ist denn nur mit dem Erich? So kenn' ich ihn ja gar nicht ...«

Ulla stand auf und ging in das Nebenzimmer. Maxe,[S. 178] die sitzen geblieben war, versetzte ruhig: »Warum ärgerst du ihn aber auch unnütz, Peterchen?«

»Ich mein' es doch nicht bös! ... Wenn ich ein paar harmlose Späße darüber mach', daß ihr so ein Herz und eine Seele seid — wie's alle tun ...«

»Wieso — wie's alle tun?«

»Herrgott ... du erschrickst einen ja, Maxe! Sieh einen doch nicht so an!«

»Du hast eben gesagt: ›Wie's alle tun!‹ ... Also hast du's auch von anderen gehört?«

»Vielleicht mal ... Aber da ist doch nichts weiter dabei!«

»Nein! Ich wollt' es auch nur wissen!« sagte Maximiliane von Ottersleben. Sie hatte schon wieder ganz ihre gelassene und hier im Hause immer dienstwillige Art. Sie wandte den hübschen Kopf zur Tür. »Gut, daß du kommst, Erich! Der arme Peter sitzt da und hat keinen Kognak und hat nichts zu rauchen!«

Es war wieder eine Woche später, da trat sie eines Abends gegen zehn Uhr in das Arbeitszimmer ihres Schwagers. Sie wußte nicht, ob er darin war. Niemand hatte auf ihr zögerndes Klopfen geantwortet. Innen blieb sie mit großen, bangen Augen stehen. Erich von Logow saß an seinem Tisch, im hellen Schein der Lampe. Aber er schrieb nicht. Er hatte die Arme auf die grünüberspannte Platte gelegt und die Stirne, mit vornübergesunkenem Haupt, darauf gepreßt. Es war, als ob er schlafe ... oder Schmerzen habe ... oder irgendwie mit sich ringe ... Bei ihrem Eintritt drehte er sich um und stand langsam auf. Sein dunkles Haar war verwildert, sein Blick unstet.

[S. 179]

»Was willst du denn?« frug er kurz und rauh.

»Erich,« sagte sie leise. »Warum bist du denn so unwirsch mit mir?«

»Verzeih!« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, wie um da etwas zu verscheuchen, und ging auf sie zu. Nun sah sie deutlich die Verwüstung auf seinen Zügen. Er lächelte. Er zwang sich zur Freundlichkeit. »Was möchtest du denn gern, Maxe?«

»Dir helfen — wie gewöhnlich ...«

»Heute gerade ist nichts zu tun, Kind ...«

»Aber dein ganzer Tisch liegt ja voll ...«

»Das sind leider alles Sachen, an die sogar du nicht heran darfst! Ich allein! ... Ich dank' dir schön ... Gute Nacht!«

Er gab ihr die Hand. Ihre Finger legten sich ineinander. Die seinen waren eiskalt. Sie glaubte zu fühlen, wie sie zitterten. Sie ging nicht. Sie machte noch einen letzten Versuch.

»Es ist aber schon seit einer Woche nichts mehr für mich zu tun, Erich!«

»Ja. Die gröbste Arbeit ist jetzt Gott sei Dank vorbei!«

»Ach wo! Du warst gestern nacht wieder bis um drei Uhr auf. Ich hör' dich doch! ... Ich schlaf' ja oft die halbe Nacht nicht ...«

Er erwiderte nichts.

Sie fügte hinzu: »... und ich könnte so gut in den Stunden, wenn alles so hübsch still ist, sitzen und für dich schreiben. Ich hatte so Freude daran. Ich war so stolz darauf. Du kränkst mich, wenn du mir das entziehst ...«

[S. 180]

»Es ist besser, wir lassen's!«

Er sprach es kurz. Sie wandte sich um. Beide schwiegen. Sie hörte aus seinen Worten das nachklingen, was er eigentlich meinte: ›die Leute reden schon darüber. Die Unbefangenheit zwischen uns ist weg! ...‹ Sie stand, von ihm abgekehrt, und spielte mechanisch mit der Quaste des Kanapees neben ihr. Sie fühlte: jetzt schaut er mich wieder von der Seite an — lange — seltsam — nicht so, wie ein Mann die Schwester seiner Frau ansehen sollte — nein — das ist mehr — das ist das andere ...! Eine unermeßliche, grenzenlose Angst hob sich in ihr, hob sie selbst über sich hier empor, immer höher — bis zur Betäubung, daß sie wie in einem Schwindel schwebte, alle Dinge unter sich, in Rausch und Todesangst vor dem Sturze in die Tiefen. Ein Schauer überlief sie. Unwillkürlich schloß sie die Augen. Dann vernahm sie hinter sich eine leise Bewegung. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie wandte sich um. Das Zimmer war leer. Er hatte es schweigend verlassen. Aber in der Stille der Luft lag es noch wie ein unheimliches Zittern ... Und sie stand da, das Haupt gesenkt, die Hände gefaltet, mit starren Augen und halboffenen Lippen, ein Entsetzen vor dem Wunder ...

Als bald darauf ihr Bruder Otto bei ihnen war, frug sie: »Du, sag mal: ich hatte dich doch gebeten ... hast du nicht auch einmal an Mama geschrieben, was nun eigentlich mit ihr wird? Sie soll sich doch einmal über ihre Zukunftspläne entscheiden! Ich krieg' nichts aus ihr heraus ...«

Der hübsche Artillerist bejahte. Die Mutter erachtete[S. 181] sich vorläufig noch in Thorn, wo man bei Grotjans Familienzuwachs erwartete, für unentbehrlich. Sie wollte bis in den Herbst hinein dort bleiben und dann weiter sehen. Er las den Schluß ihres Briefes vor:

»Maxe ist ja in Berlin so gut aufgehoben, daß ich mich wegen ihr nicht zu beunruhigen brauche. Sie hat sich wohl jetzt dort ganz eingelebt, und ich gönne ihr von Herzen die vielen Anregungen und Zerstreuungen. Sie wird gar keine so große Lust haben, die glänzende Reichshauptstadt zu verlassen, und nach Ablauf des Trauerjahres mit mir in irgendein stilles Pensionopolis zu ziehen, wie etwa, woran ich immer mehr denke: Darmstadt. Was meint Ihr Kinder dazu? Herzliche Grüße an Euch alle! Eure alte Mutter.«

Maxe senkte den Kopf. Die Hoffnung, anderswo als hier ein Heim zu finden, war wieder weit hinausgerückt. Ihr Bruder lachte. Er war in rosiger Laune, wie jetzt immer als Bräutigam. Er wollte jedem etwas Angenehmes sagen. Erst machte er Ulla Komplimente über ihr Aussehen. Dann wandte er sich an die jüngere Schwester: »Du, Maxe — weißt du, daß du anfängst, in Berlin aufzufallen? Ich bin schon ein paarmal gefragt worden: wer ist denn die reizende junge Dame in Trauer, die man jetzt immer mit den Logows sieht?«

»Ach, kümmere du dich um deine Braut.«

Er befühlte den schwarzen Stoff ihres Kleides.

»Ist das das berühmte Kostüm, Maxe?« neckte er.

»Ich weiß nicht, welches du meinst!«

»Erich erzählte mir neulich, wie ich ihn vom Generalstab abholte, ein Langes und Breites, du hättest eine Toilette — in der sähst du ganz besonders gut aus ...«

[S. 182]

»Erich fand ein halsfreies Kleid bei Maxe so nett!« versetzte Ulla. »Seitdem trägt sie alles halsfrei. Heute auch!«

Maximiliane von Ottersleben saß ein paar Sekunden in dem allgemeinen Schweigen hilflos still. Dann überfiel sie ein Zittern. Sie wurde plötzlich blutrot. »Das ist nicht wahr!« sagte sie hart und gepreßt, stand auf und verließ das Zimmer.

Eine Stunde später, nachdem Otto gegangen, suchte sie ihre Schwester auf. Sie fand sie allein.

»Ich muß mit dir sprechen, Ulla!« begann sie ohne

Einleitung. »Was habt ihr gegen mich? Ihr seid verändert — in letzter Zeit. Und täglich mehr. Immer unfreundlicher. Es ist eine Unruhe im Haus. Ich kann nichts dafür. Und doch ist es für mich wie ein Vorwurf. Fortwährend. Seit heute kommt nun die offene Kränkung! Von dir aus! ... Und deine Ungerechtigkeit dazu: ich bin nicht kokett. Das weißt du. Und am wenigsten gegenüber deinem Mann! Aber was heißt das, jemanden so verletzen, der auf euren Schutz angewiesen ist und unter eurem Dach wohnt? Ihr braucht mir nur ein Wort zu sagen, so geh' ich. Wenn ich auch noch nicht weiß, wohin. Ich werd' schon ein Plätzchen finden! Ich will euch wirklich nicht zur Last fallen, Ulla!«

Die bleiche junge Frau ihr gegenüber war schon wieder dem Weinen nahe. Sie hatte einen trostlosen Ausdruck in den großen dunklen Augen. Sie streckte flehend im Sitzen beide Hände nach dem jungen Mädchen aus und zog sie zu sich heran.

»Es war ja nur wieder eine unbedachte Redensart von mir, Schatz! Verzeih!«

[S. 183]

Ihre Schwester blieb vor ihr stehen und schaute ernst auf sie nieder.

»Ich will hier nicht anklagen und nicht verzeihen! Ich will nur wissen, wie du auf so was kommst ... Du mußt doch einen Grund haben, mich kränken zu wollen ...«

Ulla von Logow brach plötzlich in verzweifelte Tränen aus. Sie ballte die Fäuste, warf sich in den Sessel zurück, zerwühlte, von einem Weinkrampf geschüttelt, in den Kissen ihr Haar, stieß leidenschaftlich mit den Füßen gegen den Teppich. Ihre Lippen zitterten, ihr Leib bebte. Maxe konnte ihr Stöhnen kaum verstehen.

»Ach ... ich ... ich ...«

»Was denn, Ulla?«

»Ich war so dumm! ... So wahnsinnig dumm ...«

»Was heißt das?«

»So dumm kann nur ich sein ... Jetzt büß' ich's ... es geschieht mir recht ...«

»Ich begreife dich nicht ...«

»Das fehlte auch noch! ... Ach ... Ich Unglücksmensch bin an allem schuld! Immer mach' ich's falsch ...«

»Was hast du denn falsch gemacht?«

Ulla hörte sie nicht.

»Ach ... hätt' ich nur damals geschwiegen!« murmelte sie verstört vor sich hin, die Hände ineinandergepreßt. Sie wagte nicht, die Schwester anzusehen, die sich, die Hand auf ihrer Schulter, forschend, mit schreckensbangen Augen über sie beugte. Und plötzlich wurde es Maxe klar: Das war es, wovon sie neulich über mich mit ihrem Mann gesprochen hat! ... Sie[S. 184] hat in ihrer Eifersucht mein Letztes und Heiligstes preisgegeben ... Da stieß sie einen halb unterdrückten Laut des Schmerzes aus. Sie hörte nicht, was ihr Ulla nachrief. Sie floh aus dem Gemach.

In ihrem Zimmer verriegelte sie die Tür hinter sich, warf sich erschöpft auf einen Stuhl, stützte den Kopf auf die Hand und sann. Und was sie auch an Möglichkeiten der Reihe nach an ihrem Geist vorüberziehen ließ: es blieb schließlich immer nur die eine übrig, die sie in letzter Zeit schon oft bei sich erwogen. Sie kümmerte sich nicht darum, daß es bei ihr außen klopfte. Sie erkannte Ullas Stimme. Sie bat, man möge sie in Ruhe lassen. Als die Schritte im Flur wieder verhallt waren, faßte sie ihre Kraft zusammen. Sie rückte ihren Sessel nach dem Ecktisch herum, nahm entschlossen die Feder zur Hand und schrieb zuerst, militärisch genau als Soldatentochter, die Adresse auf dem Umschlag.

»An den Königlichen Oberst und Kommandeur des 9. Unterelsässischen Infanterieregiments Nr. 244, Ritter hoher Orden,

Herrn von Ottersleben

Hochwohlgeboren

Straßburg i. Elsaß.«

Dann den Brief selbst — so, wie ihn Onkel Bruno in seiner nüchternen, klaren und bestimmten Generalstabsart liebte, ohne viel Umschweife. Gleich zur Sache.


»Lieber Onkel!

Seit Papas Tod habe ich kein Heim, sondern muß vorläufig bei den Verwandten hospitieren. Erichs hier[S. 185] sind sehr lieb gegen mich. Aber ich war nun lange genug hier. Ich möchte einmal anderswohin. Darf ich Euch ein bißchen in Straßburg zur Last fallen? Bitte, sag es mir offen, wenn ich Euch zu viel bin. Ich scheue keine Tätigkeit, vom Staubwischen bis zum Abschreiben für den Großen Generalstab. Nicht wahr, Du gibst mir bald Bescheid? Mit herzlichen Grüßen an Dich und Tante

Deine getreue Nichte

Maxe.«


Sie ging die beiden nächsten Tage wenig aus ihrem Zimmer. Bei Tisch saß sie still und aß nichts. Des Abends, wenn man beisammen war, sprach sie kein Wort. Und da Erich von Logow von Natur einsilbig war und seine Frau sich in die schweigende Teilnahmlosigkeit ihrer Ehe hineingewöhnt und hineingedämmert hatte, so merkte man jetzt recht, wie sehr dies stumme Haus bisher durch Maxes gute Laune und Arbeitsfrische belebt worden war. Die waren nun dahin. Beide, Schwager wie Schwester, bemühten sich, sie wieder zu erwecken. Sie waren freundlich zu Maxe, voll einer beinahe ängstlichen Rücksichtnahme, sie lächelten ihr zu, schlugen ihr Vergnügungen vor, aber sie wich ihnen scheu aus. Sie war nicht mehr zu fassen. Sie war froh, wenn sie wieder allein war, und atmete auf, als sie endlich die postwendend pünktliche Antwort des Onkels in Händen hielt:


»Meine liebe Maxe!

Das war ja eine überraschende und erfreuliche Neuigkeit! Wenn Du wirklich dem Sündenbabel an[S. 186] der Spree den Rücken kehren willst und Dich vor uns zwei gesetzten Leuten und der Straßburger Hitze und den Rheinschnaken nicht fürchtest, wir hängen Dir ein Schild an die Tür: ›Herzlich willkommen!‹ Seit meine beiden Jungen im Korps sind, ist unser Haus leer. Wir freuen uns auf ein bißchen Jugend darin und ernennen Dich feierlich zu unserer Vizetochter! Zu nett von Dir! Wir danken Dir dafür! Komm bald!

Dein Dich liebender Onkel.«


Und darunter in kräftiger Damenhandschrift: »Und dito Tante!«


Maximiliane von Ottersleben verschloß den Brief sorgfältig und ging hinüber zum zweiten Frühstück. Das war ein zeitlich schwankendes Ereignis, je nachdem ihr Schwager vom Dienst kam oder zum Dienst mußte. Meist wartete man lange auf ihn. Auch heute erschien er abgearbeitet, schon die Mappe für den Nachmittag in der Hand, und aß zerstreut und hastig, alle paar Minuten nach der Uhr sehend. Am Schluß der schweigsamen und ungemütlichen Mahlzeit sagte das junge Mädchen plötzlich: »Bitte — versprecht mir, daß ihr jetzt keine Geschichten macht. Ich dank' euch herzlich für eure Gastfreundschaft. Aber alles auf der Welt muß ja leider einmal ein Ende haben ...«

»Wieso denn?«

Die Wanduhr schlug dreiviertel Zwei. Erich von Logow sprang mit dem letzten Bissen im Munde auf und griff nach seinen Akten.

»Wieso denn?« wiederholte er, halb schon im Geiste beim Dienst. »Was ist denn geschehen?«

[S. 187]

»Nichts! Ich fahre nur heute nachmittag nach Straßburg zu Onkel Bruno. Ich packe jetzt gleich meine Sachen. Geld hab' ich.«

Ulla saß sprachlos da. Ihr Mann riß seine dunklen Augen auf, in maßloser Verblüffung und Ungeduld zugleich. Er mußte zum Dienst! Er kam zu spät! Konnte diese Bombe nicht zu einer anderen Zeit platzen? Und dabei war es doch nur ein Schreckschuß! Er nahm ihn nicht ernst! So aus heiler Haut reiste man doch nicht plötzlich in die Weite! Das war nur, um ihm dies alles hier noch schwerer zu machen! Er runzelte die Stirne.

»Na — darüber reden wir noch!« sagte er, seinen Überrock zuknöpfend und den Säbel umschnallend. »Das ist ja heller, lichter Unsinn! Das weißt du ja selbst!«

»Da gibt's nicht mehr viel zu reden, Erich!«

»So? ... Na — heute abend wasch' ich dir den Kopf! Aber gehörig — Jesus nein ... ist das eine Idee ...«

»Heute abend bin ich nicht mehr hier!«

»Natürlich bist du's!« Er raffte Mappe, Mütze, Handschuhe zusammen. »Herrgott ... ich versäum' den Vortrag! Der General ...« Plötzlich wurde er zornig und fuhr seine Frau an. »Und du sitzt natürlich wieder da und döst, als ginge dich das gar nichts an! Wann wirst du mir je im Leben ein bißchen helfen! ... Schau, daß sie keine Dummheiten macht, bis ich heimkomm'! Auf Wiedersehen, Maxe! Bitte ... werde unterdessen vernünftig! Ich muß jetzt fort!«

Er stürzte davon. Er kürzte heute seine Arbeit am Königsplatz möglichst ab. Aber es wurde doch Abend, bis das Nötigste erledigt war. Er hatte, obwohl er sich selbst über seine grundlose Unruhe ärgerte, doch ein[S. 188] sonderbares Gefühl der Beklemmung, als er seine Wohnung wieder betrat. Die lag im Dämmern des Frühlingsabends. Seine Frau saß allein am Fenster, die Hände im Schoß, den Blick ins Leere. Er trat auf sie zu.

»Wo ist Maxe?«

»Abgereist!«

Sie sagte es müde, ohne ihre Stellung zu verändern. Er glaubte es im ersten Moment nicht. Er fuhr vor Schrecken zurück.

»Und du hast sie fortgelassen?«

»Wie kann man einen erwachsenen Menschen halten, wenn er gehen will?«

Nun kam der Zorn über ihn. Eine heiße Blutwelle färbte sein scharfgeschnittenes Gesicht.

»Als ob man so da durchs Fenster wegflöge! Man muß doch 'ne Droschke holen, Koffer 'runterschleppen — was weiß ich! ... In der Zeit hättest du mir doch zehnmal telephonieren können, oder den Burschen mit einem Zettel schicken! ... Dann wär' ich gekommen und hätt' es verhindert ...«

Die junge Frau rührte sich immer noch nicht. Ihr blasses Gesicht war steinern. Sie sagte langsam und dumpf: »Vielleicht war es besser so!«

Er biß sich auf die Lippen und schwieg. Es war eine Stille.

Dann setzte sie hinzu: »Du wirft sie freilich sehr vermissen ... Zu sehr ...«

Er wandte sich ab. Er gab ihr keine Antwort. In dem schweren Schweigen zwischen den beiden Gatten klang plötzlich als einziger Laut ihr leises, helles, verzweifeltes Weinen.

[S. 189]

9

Die bleierne Schwüle der Hundstage brütete über der Rheinebene. Die Sonne stand schon tief am Horizont, jenseits des fernen, blauflimmernden Walls der Vogesen, hinter dem Frankreich lag — Frankreich und ihm gegenüber, hier, als des Reiches Trutzwehr, das letzte der mächtigen, waffenstarrenden Bollwerke am deutschen Strom von Holland bis zur Schweizer Grenze, turmüberragt, das alte Straßburg. Der Himmel im Westen war flammend rot, wie vom Widerschein des vielen Blutes, das seit Jahrhunderten Deutsche und Welsche um die Vorherrschaft am Rheinufer vergossen. Von drüben, aus dem hochgiebeligen Häusermeer der einstigen Reichsstadt, klangen die Abendglocken. Da, wo früher die inneren, nun niedergelegten Wälle die engen Gassen und Laubengänge umschlossen hatten, stand jetzt, auf dem freien Platze, wuchtig, massig gebietend, die Kaiserpfalz als Sinnbild der neuen Zeit.

Die beiden jungen Mädchen schritten daran vorbei, der Stadt zu. Sie hielten die Schirme schief nach rechts gegen die schräg stehende Sonne, die lange Schatten über den Staub der Stadt warf. Der hob sich zuweilen und tanzte in kleinen Wirbeln, von einer Brise hochgefegt. Man atmete bei dem schwachen Luftzug auf. Jetzt, im Hochsommer, kühlte es sich sogar in den[S. 190] Nächten nicht ab, aber man mußte doch hinaus, ins Freie. Innen, in den Wohnungen der Altstadt, war es noch heißer.

»Ja — daran mußt du dich gewöhnen, Maxe!« sagte Fräulein von Müritz. »Ich kenn's! Das geht so bis in den September hinein!«

Sie war die Nichte eines Majors bei den Zweihundertvierundvierzigern, auch eines Herrn von Müritz, eines alten Junggesellen, dem sie, eine Doppelwaise, die Wirtschaft führte. Maximiliane von Ottersleben hatte sich ihr, bald nach ihrer Ankunft in Straßburg, angeschlossen. Sie verkehrten nun schon seit einem Vierteljahr freundschaftlich miteinander, obwohl jene ein gutes Stück älter war. Aber Maximiliane kam sich selber auch älter vor als ihre Jahre. Sie fand sich nicht mehr in das Gekicher und Geflirte der Regimentstöchter. Und zudem war sie immer noch in Trauer um den Vater.

Die beiden schlenderten langsam die Straßen entlang. Um sie war der Lärm der großen, unter der neuen Herrschaft mächtig aufgeblühten Stadt. Es wimmelte von Uniformen. Von deutschen Beamten, Studenten, Damen. Wer noch Französisch hören wollte, mußte in die Vororte gehen. Hier klang umher nur noch Elsässerdütsch und scharfes Preußisch, zuweilen gemütliches Schwäbisch und Bayerisch der süddeutschen Besatzungstruppenteile. Die Inschrift auf allen Läden war deutsch. Vor manchen blieben die beiden Damen stehen und musterten die Auslagen. Thekla von Müritz wies auf ein Diamantenkreuz in einem Juweliergeschäft und meinte im Spaß: »Das kannst[S. 191] du mir zum Geburtstag schenken, Maxe! Nächsten Monat ...«

Sie gingen des Wegs. Die andere frug: »Du — wie alt wirst du da eigentlich?«

»Fünfunddreißig! ... Aber sag's nicht weiter ...«

Dann nach einer Weile: »Oder sag's doch! ... Es ist ja ganz egal ...«

Dabei beschleunigte das späte Mädchen seine Schritte.

»Ich muß nach Hause! ... Sonst schimpft der Onkel. Er meint's nicht bös. Aber er ist gräßlich knurrig!«

»Du bist schon lange bei ihm?«

»Seit meine Eltern tot sind ... seit neun Jahren ...«

»Und wenn er mal stirbt ... Hat er denn was? Hinterläßt er dir was?«

»Keinen Groschen!«

»Aber was machst du denn dann mal nach seinem Tod?«

»Ich weiß nicht. Ich denk' nicht darüber nach. Es hilft ja doch nichts.«

Eine stumpfe Ergebung war in ihren Worten. An der Straßenecke blieb sie stehen, gab der Freundin die Hand und sagte: »Ja, so ist das Leben an einem vorbeigegangen! Heirate du nur, solange du noch so jung und hübsch bist! Na ... Adieu, Maxchen ... Schöne Grüße zu Hause ...«

Maximiliane setzte allein ihren Weg fort. Sie neigte mechanisch auf die Grüße begegnender Offiziere den blonden Kopf. Ein tiefer Ernst lag auf ihren schönen, jugendlich strengen Zügen. Immer wieder mußte sie an die Freundin denken: Ja, so ist das Leben an einem vorbeigegangen ... es klang so rätselhaft. So schrecklich.[S. 192] Alles vorüber mit fünfunddreißig Jahren ... Es war unwahrscheinlich und doch wahr. Was hatte Thekla Müritz noch vom Dasein zu erwarten? Essen, Trinken, Schlafen! Das freilich noch ein Menschenalter oder länger. Aber war solch Sein der Mühe wert? Lohnte es die Enttäuschungen?

Fünfunddreißig ... Maxe Ottersleben sagte sich: wie alt bin ich selber? Fünfundzwanzig. In zehn Jahren bin ich gerade so weit. Plötzlich schien ihr diese Zeit unheimlich nahe gerückt. Sie stand wie ein Schreckgespenst vor ihr, als wachte man im Handumdrehen eines schönen Morgens als alte Jungfer auf. Du lieber Gott: zehn Jahre waren rasch verseufzt und verträumt und vergähnt. Und dann? Sie sah förmlich in der heißen Augustluft die weißen Fäden des Altweibersommers fliegen. Ein Grauen vor dem fernen Herbst überlief sie. Sie schritt mit gesenktem Kopfe weiter. Sie sagte sich, heute, in der allmählich gewonnenen Straßburger Ruhe, zum erstenmal ganz klar und deutlich: So geht das nicht mit mir in alle Ewigkeit! ... Ich verhunze mir ja mutwillig selbst mein bißchen Leben ... Von Glück will ich schon gar nicht reden. Aber ich muß doch irgend etwas aus mir machen. Ich darf nicht so hindämmern. Ich muß mich frei machen. Innerlich frei von ihm ... Wenn ich nur könnte ...

Sie hatte den Broglieplatz erreicht. Das war der Mittelpunkt der Stadt. Rechts war ein Kommen und Gehen von Infanterieuniformen am Eingang der großen Offizierspeiseanstalt, dahinter bildeten die Leute im Abenddämmer schon Kette am Theater, wo eine französische Operettentruppe gastierte. Auf einmal blinkte[S. 193] da, mitten im Deutschtum, ein Stück französische Unterwelt auf — Knebelbärte — westlich-lebhafte Augen und Hände, das schnelle Pariserisch eingeborener Notabeln. Links waren die beiden Kaffeehäuser mit ihren Stühlen im Freien unter schattigen Bäumen — das eine für die Elsässer, das andere für die Altdeutschen.

An einem der Tischchen saß ein straffer, jugendlich schlanker General vor seinem Glase Bock. Sein blonder Schnurrbart war aufgedreht, sein helles Haar kaum merklich angegraut. Wer vorbeikam, war erstaunt, wenn er die feierlich leuchtenden scharlachroten Klappen des Überrocks und auf dessen goldenen Achselstücken den Stern, das Zeichen der Exzellenz, sah. Man kannte den Würdenträger hier nicht. Er mußte von auswärts gekommen sein. Er rauchte seine Zigarre, hatte ein Bein über das andere geschlagen und legte unaufhörlich, bald verbindlich die ganze rechte Hand, bald nachlässig den Zeigefinger an den Mützenrand, je nachdem es Offiziere oder Mannschaften waren, die grüßend an ihm vorübergingen. Dann hob er das gebräunte, von fast unmerklichen feinen Fältchen durchzogene Antlitz, auf dem trotz der dienstlichen Strenge eine jugendliche Verwegenheit schlief. Seine feurigen blauen Augen hatten drüben, auf dem Bürgersteig, etwas entdeckt. Noch ganz hinten. Er sah scharf wie ein Luchs. Er stand langsam, unauffällig auf, zahlte, ging über den Platz und schlenderte die Häuser entlang. Nach etwa hundert Schritten blieb er scheinbar nachsinnend vor der ihm begegnenden jungen Dame stehen.

»Ist's denn die Möglichkeit! Guten Abend, Fräulein von Ottersleben!«

[S. 194]

Maximiliane hatte, in ihren Gedanken versunken, auf nichts geachtet. Sie schrak zusammen. Die Stimme kannte sie, dies übermütige Lächeln. Der General von Glümke hatte sich in den zwei Jahren nicht im geringsten verändert. Er war aus zähem Holz geschnitzt. Er blieb, wie er war. Er tat, als sei nie etwas zwischen ihnen vorgefallen. Er reichte ihr die Hand. Sie nahm sie und sagte stockend, blaß geworden: »Guten Abend, Exzellenz!«

Sie fühlte seinen prüfenden Blick auf sich ruhen. Sie dachte sich mit Herzklopfen: Was braucht er mich nur um Gottes willen anzusprechen, statt mir aus dem Weg zu gehen, wie es jeder sonst täte? Aber er macht ja immer alles anders als andere Leute. Dann hörte sie seine gleichmütigen Worte: »Na ... sehen Sie, Fräulein von Ottersleben: die Welt ist klein! ... Nu hat uns der liebe Gott glücklich beide in die Reichslande verschlagen. Sie nach Straßburg und mich nach Metz. Ich hab' nämlich dort 'ne Division. Die fünfundvierzigste.«

»Ja. Ich weiß, Exzellenz!«

»Da bin ich heute mal auf einen Sprung herübergerutscht. Dienstliche Geschichten ...« Er brach ab und wartete, ob sie auch etwas sagen würde. Aber sie schwieg. So fuhr er fort. Er wurde schon lebhafter. Sein Naturell brach durch: »Na — wie gefällt's Ihnen denn hier unten bei den Wackes, gnädiges Fräulein?«

»O, ganz gut, Exzellenz!«

Sie antwortete einsilbig. Sie war beklommen. Sie hatte förmlich Angst vor Olaf von Glümke. Es[S. 195] war ihr so sonderbar, daß dieser Mann plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand.

Er lächelte. »Und wie geht's dem Onkel Bruno? Zieht er seinen Zweihundertvierundvierzigern tüchtig die Hammelbeine lang? Tut not. Unter uns: Sein Vorgänger war ein bißchen 'n Susemiehl! ... Drum haben sie ihm gerade das Regiment gegeben! Tantchen auch wohl — ja?«

Woher wußte er nur, daß sie hier bei ihren Verwandten war? So wichtig war das doch nicht, daß man bis nach Metz hin davon sprach! Sie dachte sich: Wenn er mich nur schon gehen ließe! Aber von sich aus konnte sie, ein junges Mädchen, einen Würdenträger wie den Generalleutnant von Glümke nicht auf der Straße stehen lassen. Sie mußte warten, bis er sich selbst von ihr verabschiedete.

Er schien ihre Ungeduld zu merken. Er schüttelte ihr wieder unbefangen die Rechte: »Na — hat mich sehr gefreut! ... Wir sind doch zwei alte Freunde, Fräulein von Ottersleben — nicht wahr?«

Sie zögerte. Aber was sollte sie denn machen? Sie antwortete scheu: »Jawohl, Exzellenz!«

»... Also schöne Grüße daheim! ... Und auf Wiedersehen!«

Auch noch auf Wiedersehen ... das quälte sie auf dem kurzen Weg bis zu ihrer Wohnung am »Eisernen Mann«. Sie hatte den General von Glümke doch damals derart vor den Kopf gestoßen ... Ein anderer würde es ihr nie verziehen haben ... Er stellte sich jetzt an, als wäre das nur ein Spaß zwischen ihnen gewesen. Vielleicht hatte er es nachträglich[S. 196] auch so aufgefaßt. Er war ja unberechenbar ...

Aber dann wußte sie doch: Es hätte sie damals nur ein Wort gekostet und alles war entschieden ... Sie dachte sich in einer wilden Bitterkeit, die sie plötzlich überfiel: Ich hätte ihn haben können — eine Partie, um die mich jede in der Provinz beneidet hätte! Oder es brauchte gar nicht ein General, ein großes Tier zu sein. Nur irgendeiner. Ein Mann, der mich liebt und ich ihn! Und ich wäre jetzt eine glückliche Frau und nicht ein einsames, verwaistes, in der Welt herumgestoßenes Mädchen, das nicht weiß, was es mit sich und seinen Tagen beginnen soll. Ich wäre so zufrieden wie tausend andere, wenn er mir nicht in den Weg gekommen wäre! Immer er! Er hat mich an allem gehindert! Er steht ewig zwischen mir und dem Sein ...

Sie machte halt, in einer hilflosen, verzweifelten Erbitterung gegen den Hauptmann Erich von Logow, der um die gleiche Zeit, fern von hier, im Generalstabsgebäude zu Berlin vor seinen Akten saß und schrieb und schrieb. Neben ihr, auf dem Platz in Straßburg, schimmerte das Himmelblau bayerischer Uniformen von der Hauptwache. Der Marschall Kleber sah von seinem Sockel hernieder auf verwehte ›gloire‹ und wiedererstandene deutsche Kraft. Hinten hob sich das Rote Haus, noch von den Blutschatten der großen Revolution umweht. Maximiliane Ottersleben sah erstaunt um sich. Sie war in ihrer Geistesabwesenheit einen falschen Weg gegangen und drehte jetzt um, und in ihr brannte etwas, während sie zurückschritt — schwelte unheimlich wie unterirdisches Feuer: Er war dein Schicksal. Aber[S. 197] seit er es weiß, bist du auch seines geworden. Hast dieselbe geheimnisvolle Macht über ihn gewonnen wie er seit Jahren über dich. Es hat sich an ihm gerächt, ohne dein Wissen und Wollen ...

Zu Hause saß ihre Tante, Frau von Ottersleben. Sie war zu Anfang der Vierzig, groß, blond, stark — mit rosigen vollen Wangen, wirtschaftlichem Blick, arbeitsfrohen, großen weißen Händen, die Haare schlicht in der Mitte gescheitelt, glich sie mehr einer pommerschen Pastorenfrau als einer Kommandeuse. Das junge Mädchen setzte sich still zu ihr. Eine Weile häkelte die eine und stickte die andere. Dann hob Maxe Ottersleben den Kopf und versetzte unvermittelt: »Du, Tante ... ich bin nun mit Gottes Hilfe fünfundzwanzig ...«

»Na ja ... Maxe ... das weiß ich ...«

»Es wird doch Zeit ... Es muß einmal etwas mit mir geschehen ... Ich muß mich irgendwie im Leben nützlich machen!«

»Mach du dich nur deinem Mann nützlich! Das ist vollauf genug!«

Das junge Mädchen mußte lachen: »Ich hab' doch keinen ...«

»Sollst aber einen kriegen! ...«

»Ich mag gar keinen ...«

»So hab' ich auch geredet!« sagte die Kommandeuse gleichmütig. »Das macht auf mich gar keinen Eindruck. Laß du mich nur sorgen! ... Wenn erst dein Trauerjahr vorbei ist ...«

»Du denkst doch nicht, daß ich euch hier auf Jahr und Tag zur Last fallen will ...«

[S. 198]

»Na natürlich gehst du bei uns hier aus, wo wir ohnehin ein Haus machen müssen ... Das hätt' ich mir nicht träumen lassen, daß ich, mit meinen zwei Jungens, noch mal auf meine alten Tage Ballmutter würde! ...«

»Ich mag aber nicht wieder auf dem Heiratsmarkt ausgestellt werden, Tante! Es hat keinen Zweck, ich heirate doch nicht!«

»Was willst du denn sonst?«

»Diakonissin werden!« sagte Maximiliane Ottersleben kurz und trotzig. Sie hatte sich das schon seit einiger Zeit überlegt. Aber es prallte an Frau von Otterslebens Ruhe ziemlich ab. Die schlug nur gutmütig die starken Hände ineinander.

»Maxe ... du und Diakonissin! Das gäbe 'ne schöne Bescherung! ... Du verdrehst ja allen Doktoren den Kopf und machst die Patienten dazu rappelig! Ich glaube manchmal wirklich, du weißt selber nicht, wie hübsch du bist! Nein, Kind: Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder. Bei dir steht er noch vor der Tür. Da verlaß dich auf mich. Und nun nimm mal den Kopf hoch ... so ... da kommt der Onkel! Der kann's nicht leiden, daß man ihn daheim mit 'ner Leichenbittermiene empfängt. Er nimmt sich auch zusammen, wenn er Ärger im Dienst gehabt hat ...«

An solchem Verdruß fehlte es dem Oberst Bruno von Ottersleben nicht. Er widmete sich seinem Regiment mit dem Feuereifer des Generalstäblers und der Freude am praktischen Dienst nach der Stubenhockerei. Aber er bewahrte dabei seinen vollen Gleichmut. Er hatte gute Nerven. Es lag ein stetes ruhiges Wohlwollen[S. 199] auf seinen klugen, etwas grobgeschnittenen Zügen. Groß, breitschultrig, bedächtigen Ganges trat er ein, begrüßte seine Frau, mit der er, wie er selbst sagte, in einer lächerlich glücklichen Ehe lebte, klopfte der hübschen Nichte auf die Schulter und sagte, sich setzend, behaglich: »Wißt ihr, wer mir eben über den Weg gelaufen ist? Olaf selbst! Der Glümke! Bummelt hier in Straßburg herum! Merkwürdig, wie stürmisch er mich begrüßt hat!«

»Kennt er dich denn, Onkel Bruno?«

»Ich war mal, wie er Major war, vor vielen Jahren ganz kurze Zeit mit ihm im selben Regiment!« sagte der Oberst, der als Springer des Generalstabs viele Truppenteile kennen gelernt hatte. »Sehr schmeichelhaft, daß er sich meiner noch erinnert! ... Er scheint übrigens nicht mehr ganz so toll wie früher. Er kriegt allmählich etwas Gesetztes! ... Na ... Zeit wird's!«

Er lachte und ging auf andere Dinge über. Er hatte immer viel mit seiner Frau zu bereden. Er nahm seine Stellung als Regimentskommandeur auch außerdienstlich ernst. Er wollte erzieherisch wirken. Er haßte jeden Luxus. Er verachtete ihn als eine Verweichlichung. Die altpreußische Einfachheit war bei ihm kein leerer Wahn. Es gab wirklich noch des Abends ein Glas Bier und ein Butterbrot für seine Gäste und ernste Worte an die Leutnants dazu: »Mit der Sektflasche ist unsere Armee nicht großgezogen worden. Von Scharnhorst bis Roon ...! Nein — wahrhaftig nicht, meine Herren! — Ich erinnere mich noch an die Zeit, wo wir als junge Leute in der Garde mit zehn Talern monatlich auskamen!« Man hörte ihm respektvoll zu. Mancher[S. 200] jugendliche Offizier fühlte wirklich den Hauch Kaiser Wilhelms des Ersten und seiner Paladine, der von den Worten seines Obersten ausging. Andere machten dienstlich stumme Gesichter und blickten dabei verstohlen nach der hübschen Nichte des Hauses. Das war immer vergeblich. Die tiefe Gleichgültigkeit, mit der Maxe von Ottersleben jedem sich ihr nahenden Leutnant oder Hauptmann begegnete, entwaffnete von vornherein. Es machte sie ungeduldig, daß die Tante immer wieder geräuschlos wie im Vorpostenkrieg bald diesen, bald jenen Freier in ihren Gesichtskreis vorschob und wieder verschwinden ließ und durch einen neuen ersetzte, immer in der Hoffnung: Einmal kommt doch der Rechte! Das war eine fortwährende Unruhe, eine Abwehr wie vor den lästigen Stechfliegen, die einem bei Tag und Nacht um die Ohren summten und immer blutdürstiger und zahlreicher wurden, je mehr der Sommer sich seinem Ende zuneigte und die Zeit der Manöver nahte. Nun warf die schon ihre Schatten voraus: Die dritte Garnitur Reserveleutnants hatte sich zum Dienst gemeldet, auf dem Schreibtisch des Obersten lagen Karten und Pläne der Westgrenze mit rot eingezeichneten Hieroglyphen, er selbst war noch öfter als sonst im Stall, kniete in der Streu neben seinen Schlachtgäulen nieder, hob die Hufe, um den Strahl zu sehen, und fuhr auf der Suche nach Gallen prüfend mit Daumen und Zeigefinger die Sehnen der Hinterbeine hinab zu den Fesseln. Dann nickte er zufrieden. Seine Pferde waren wie ihr Herr: ›Verläßlich bis zum letzten!‹

»Nu — endlich mal ein Lebenszeichen von den Logows!« sagte er gegen Ende August, am Frühstückstisch[S. 201] einen Brief aus Berlin entfaltend. »Ich fand es eigentlich nicht nett, daß sie sich den ganzen Sommer so gar nicht nach dir erkundigt haben, Maxe! Aber die Ulla ist 'ne Schlafmütze ... Da schreibt er nun selber!« Er räusperte sich und las die knappen Zeilen des Hauptmanns von Logow vor: sachliche Dienstneuigkeiten und Personalnachrichten vom Königsplatz und aus der Behrenstraße, wie sie die beiden, den jüngeren und den älteren Generalstäbler, interessieren. Zum Schluß noch ein paar trockene Worte: »Uns geht es soweit wohl. Ulla hustet leider wieder ein bißchen. Sie läßt Euch Alle herzlich grüßen und ich schließe mich an. Hoffentlich hat sich Maxe bei Euch gut eingelebt. Dein treuer Neffe Erich.«

Am Nachmittag desselben Tages ging Maximiliane Ottersleben mutterseelenallein weit draußen vor Straßburg in dem Grünen und Blühen der Orangerie spazieren. Eigentlich hatte sie eine Verabredung mit Freundinnen gehabt. Ein paar Leutnants waren natürlich auch bei der Partie. Man wollte mit der Bahn bis zur Kehler Brücke fahren und da im Rhein schwimmen, oder zu dem Schleusenwirtshaus am Illkanal hinausradeln, um dort Matelotte zu essen — sie wußte es selbst nicht mehr recht. Sie hatte keine Lust gehabt. Sie war einfach ferngeblieben. Sie mochte in ihrer heutigen Stimmung, die durch den Brief aus Berlin in ihr wieder wach geworden war, niemanden um sich sehen — eine Stimmung — sie hatte vorhin wieder in einem dunkelschnurrbärtigen, straffen Offizier, der rasch die Straße herunterkam, aus der Ferne Erich von Logow zu erblicken geglaubt ... sie war vor atemlosem Schrecken[S. 202] stehen geblieben.. sie hätte jetzt noch, nachträglich, hellauf weinen mögen vor Hilflosigkeit ... er war immer da ... er kehrte immer wieder ... er ließ sie nicht ...

Um sie war kein Mensch. Es war noch viel zu heiß für die Besucher der Gartenwirtschaft. Eine lähmende Schwüle lag in der Luft. Drüben am Bergrand, gerade über St. Odilien, verfärbte sich der Horizont bleigrau. Dort brütete ein Gewitter. Es blitzte und donnerte jetzt täglich in der breiten Ebene zwischen Vogesen und Schwarzwald. Man sah jeden Nachmittag die dunkle Wand aus stundenweiter Ferne aufziehen. Das junge Mädchen warf einen prüfenden Blick nach dem Himmel und ging dann langsam weiter. In ihrem weißen, schwarzgarnierten Sommerkleid hob sie sich, schmal und schlank, den blonden Kopf vom weißen Schirm überschattet, von den zopfig regelmäßigen Reihen der Orangen- und Zitronenbäume des altfranzösischen Parkes ab, die sich in ihren Kübeln vor den Glashäusern sonnten. Ihre Halbschuhe knirschten leise in flüchtigem Schreiten auf dem Kies des Weges. Das und das eintönige Summen der Mücken war der einzige Laut umher. Und dann etwas anderes ... hinter ihr: ein Sporenklirren, das rasch und energisch näher kam. Sie dachte sich noch: ›Ich möchte wohl wissen, wer von der Garnison jetzt da draußen bei der Hitze spazieren läuft!‹ Und fast zugleich hörte sie an ihrem linken Ohr eine helle, vergnügte Stimme: »Na — so menschenscheu, Fräulein Maxe ...«

»Oh ... Exzellenz ... Sie ...«

Olaf von Glümke nickte, gab ihr die Hand und ging neben ihr hin, als ob sich das von selbst verstünde.

[S. 203]

»Ja! Ich! Ich mußte nämlich mal wieder nach Straßburg ... Dumme Geschichten ... In meiner Eigenschaft als Gerichtsherr ...«

Es fuhr ihr, dem Soldatenkind, durch den Kopf: Seine Division ist ja in einem anderen Armeekorps! Er hat bei unserem Kommandierenden gar nichts zu suchen. Das stimmt doch nicht!

Er sprach unbekümmert weiter: »Na ... und da ich erst mit dem Abendzuge heimfahre und vorher ein bißchen frische Luft schnappen wollte ...« Er lachte plötzlich, angesichts des tiefen Mißtrauens in ihren Zügen. Er war nicht im geringsten verlegen. Der alte Schalk blitzte in seinen großen, blauen, übermütigen Augen. »Nee — also — wir wollen mal lieber hübsch bei der Wahrheit bleiben! Ist netter — nicht? Also ich saß vorhin wieder im Café am Broglie und sah Sie vorübergehen, in der Richtung hier heraus! Da dacht' ich mir: Wozu hat der Mensch die Straßenbahn? ... Vielleicht hab' ich Glück und hol' sie irgendwo ein ... Und so bin ich nun mit Gottes Hilfe hier!«

»Hatten Sie wirklich nichts Wichtigeres zu tun, Exzellenz?«

»Nein!« sagte er mit verblüffender Offenheit. »Es kam mir wie gerufen. Ich wollt' schon lange mal vernünftig mit Ihnen reden, Fräulein Maxe — wegen damals — Sie wissen schon ... Ein anderer an meiner Stelle, der wäre ja wütend, nach dem, was ihm passiert ist ... der sähe Sie gar nicht mehr an ...«

»Das verlange ich ja auch gar nicht, Exzellenz!«

»Ach — seien Sie doch nicht so schnippisch, Kind! ... Lassen Sie das doch den kleinen Mädchen! Es steht[S. 204] Ihnen gar nicht. Sie haben den großen Stil ... Sie sind die geborene große Dame! Ja — was ich sagen wollte ... Ich hab's mir nachträglich überlegt ... Es war natürlich eine Dummheit von mir. Ich hätte Sie nicht so überrumpeln dürfen. Ich hätte mir sagen sollen, daß man damit bei einem Dickkopf wie Ihnen nur das Gegenteil erreicht. Na — es hat eben nicht sein sollen. Ich hab's jetzt verwunden. Es war ja ein recht kräftiger Stoß gegen meine Eigenliebe. Aber ich denke jetzt ruhiger darüber. Ich bin Ihnen nicht mehr böse ...«

»Das freut mich von Herzen, Exzellenz!«

»Lassen Sie doch die ewige ›Exzellenz‹! Das ist ja gräßlich. Das ist, wie wenn ich mit einem von meinen Leutnants spreche. Ihnen gegenüber komme ich mir nicht so würdevoll vor. Sagen Sie wenigstens: Herr von Glümke!«

»Wenn Ihnen das lieber ist ...«

»Ja! Wir wollen doch wieder gute Freunde werden, wie früher! ... Wir wollen die Geschichte wegwischen aus dem Gedächtnis, nicht wahr ...? Kommen Sie ... geben Sie mir mal die Hand, Fräulein Maxe ... fürchten Sie sich doch nicht, Kind ... ich tue Ihnen doch nichts ... So ... ganz kameradschaftlich ... Und nun bilden wir uns ein, es wäre überhaupt nie etwas anderes gewesen! ... Ich hab's schon total vergessen! Sie nicht?«

Maxe Ottersleben mußte lachen.

»Ja!« sagte sie.

Sie gingen weiter. Eigentlich war jetzt auch ihr wieder leichter zumut. Nun hatte sie Olaf wieder ganz gern, wo er nicht mehr ihr Mann werden wollte. Er[S. 205] war doch immer der alte verrückte Kerl. Es ging Feuer und Leben von ihm aus. Sogar jetzt, wo er merklich hinkte, schritt er immer noch rascher und elastischer als im Durchschnitt einer seiner Stabsoffiziere.

»Warum ich rechts schone?« meinte er auf ihre Frage. »Einer meiner Gäule ist mit mir abgeschrammt ... heidi ins Unterholz ... Kniekaltschale an den Bäumen ... na ... ich danke ...«

»Reiten Sie denn immer noch so junge Pferde, Exzellenz?«

»Kind: wenn Sie noch mal Exzellenz sagen, kriegen Sie einen Klaps auf die Hand! Was freut Sie denn so an der Exzellenz? Sie haben's ja nicht werden wollen! Meine Pferde? ... Schade, daß ich sie Ihnen nicht mal zeigen kann! Famos! ... Woran soll ich mich denn sonst noch freuen — so 'n armer oller Kriegsknecht wie ich.«

Er schirmte die scharfen Augen mit der Rechten und blickte hinüber nach Westen in den fahlen Glanz der untergehenden, von Wetterdunst blutig verschleierten Sonne. Grau und ehrwürdig stand, weiter nach links, der mächtige Turm des Münsters, wie ein dräuendes Bollwerk und Wahrzeichen des Reiches im bleichen Abendlicht. Es war unheimlich still umher. Selbst die Vögel schwiegen.

»Ich wollte, die Rothosen kämen mal wieder 'rüber!« sagte Olaf von Glümke. »Haben sich noch eigens seinerzeit das schöne Loch in den Vogesen bei Belfort frei gelassen und benutzen es nun nicht! ... Da wüßte man doch mal, wozu man eigentlich auf der Welt ist und seinem Herrgott die Tage stiehlt. So wird man[S. 206] schließlich mal eingebuddelt und hat zeitlebens kein Pulver gerochen!«

Er wurde ernster.

»Mein Vater ist bei Mars-la-Tour gefallen!« versetzte er nach einer Pause. »Damals war ich ein Bengel von dreizehn Jahren. Seine letzten Worte waren: ›Grüßen Sie meine Frau und meinen Jungen! ... Er soll an mich denken und ein tüchtiger Offizier werden, an dem der König seine Freude hat! ...‹ Na ... ich hab' mir ja Mühe gegeben! Es ist ja ganz nett gegangen. Ich bin ja so weit oben! Und ich hab' so ein freches Gottvertrauen in mir: Vielleicht wird es auch noch mehr!«

»Da seien Sie doch froh, Herr von Glümke!«

»Jawohl: im Dienst, gutes Kind! ... Aber außer Dienst: Essen Sie mal jeden Tag allein zu Haus, ein Mensch wie ich, um den 'rum ewig was los sein muß! ... Ich kann doch nicht stillsitzen ... das wissen Sie doch! ... Und ins Kasino, zu den jungen Dächsen, kann ich doch nicht! ... Und des Abends: die ganze hohe Generalität ist natürlich ordnungsgemäß verheiratet! ... Will ich 'ne Menschenseele sehen, so muß ich mich zu Gast ansagen und die Beine unter einen fremden Tisch strecken, und sie machen noch Umstände ... äh pfui ... Mir kribbelt's manchmal in den Fingerspitzen vor Ungeduld. Sagen Sie mal: Wie lange bleiben Sie eigentlich noch in Straßburg, Fräulein Maxe?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Mir scheint, Sie wissen überhaupt nicht recht, was aus Ihnen werden soll!«

[S. 207]

Maxe Ottersleben antwortete nichts. Er wiederholte nach einer Weile die Frage.

»Oder haben Sie eine Ahnung, wo der liebe Gott schließlich mit Ihnen hinaus will ...?«

»Zerbrechen Sie sich doch nicht meinen Kopf, Herr von Glümke.«

Er nickte nachdenklich.

»Freilich!« sagte er. »Mich geht's nichts an ...!« Dann lachte er vor sich hin. »Erinnern Sie sich, wie Sie damals im Wald, im Winter nach der Felddienstübung, böse waren, wie ich Sie frug, wann die blonde Maxe heiraten würde? Ach ... ich fürchte, die blonde Maxe heiratet überhaupt nicht!«

»Ich glaub's auch!« sagte das junge Mädchen.

»Ja, aber erlauben Sie mal ... das ist doch ...«

»Was denn, Exzellenz?«

»Nichts ... nichts ... Wenn Sie ›Exzellenz‹ sagen, bin ich schon still ... ich rede keinen Ton mehr ... ich denke mir für mich mein Teil ...«

»Das kann ich nicht verhindern! Aber lassen Sie mir jetzt bitte meine Ruhe ...«

Er schwieg. Er schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: »Irgend etwas ist da nicht in Ordnung!« Sie hatten den Ausgang der Orangerie erreicht. Er blieb stehen und blickte sie von der Seite an: »Mein Gott ja ...« sprach er förmlich andächtig. »Wie sehen Sie aus ... Schon jetzt da in dem schlichten Hundstagfähnchen. Wie haben Sie sich in den zwei Jahren herausgemacht! ... Wer hätte geahnt, daß Sie so schön werden würden ...«

»Exzellenz ... nun aber bitte ...«

[S. 208]

Er beachtete es nicht. Er ließ das Auge verloren auf ihr ruhen.

»Ich bin der einzige gewesen, der's gewußt hat, Fräulein Maxe ...« sagte er langsam. »Immer ... Sie wären wie geschaffen gewesen zu ... na ... lassen wir's! ... Es hilft ja nichts!«

Stumm gingen sie nebeneinander weiter, den breiten Weg hinab, den Blick auf das Häusermeer Straßburgs in der Ferne, über dessen Giebeln schon scheinbar greifbar noch das Unwetter lastete. Aus dieser Stille vor dem Sturm, der Verfinsterung umher, dem Verschwimmen von Licht und Schatten in einer sonderbaren schwefelgelben Dämmerung ward in ihnen, zwischen ihnen eine Beklommenheit wach. Sie mußten sich eilen, um dem Regen zu entfliehen. Sie machten lange Schritte. Einmal frug er: »Geht's zu schnell?« Sie verneinte und fuhr nervös bei einem roten Blitzgeschlängel in der schwarzen Wolkenwand vor ihnen zusammen. Wieder war das Schweigen. In ihm ihre gleichmäßigen Tritte, ein schwerer Windstoß, der heulend Staubwolken aufpeitschte und drüben die uralten Baumkronen des Contades zauste und schüttelte, die ersten Tropfen — in Maxe Ottersleben eine eigene Empfindung: Es ist doch manchmal gut, sich unter Schutz und Schirm zu wissen. Manchmal fürchtet man sich doch allein ...

Aber nun hatten sie schon die Stadt erreicht. Olaf von Glümke blieb stehen.

»Ich will Sie lieber hier von meiner Gegenwart befreien!« sagte er. »Es ist besser, wir marschieren nicht so nebeneinander durch alle Straßen! Gruß zu Hause! Adieu, Fräulein Maxe ...!«

[S. 209]

»Adieu!«

Sie reichte ihm rasch, mit einem freundlichen Lächeln die Hand. Er merkte, daß sie wie erlöst war bei dem Gedanken, von ihm wegzukommen. Er schaute ihr nach, wie sie den Bürgersteig hinabeilte und mit gesenktem Haupt gegen die Windstöße ankämpfte. Ihre mädchenhafte Gestalt bog sich in einer schlanken Linie nach vorne, ihr weißes Kleid flatterte und flog. Nun war sie um die Ecke ... Da seufzte er und setzte seinen Weg einsam fort.

Maxe von Ottersleben stand unterdessen schon daheim am Fenster und sah in das Rauschen des Wolkenbruchs hinaus. Die Begegnung in der Orangerie war ihr schon wieder wie im Winde draußen verflogen, ihr Eindruck auf sie wie weggewaschen durch diese strömenden Fluten. Sie mußte immer an etwas anderes denken: an den flüchtigen Satz in dem Briefe Logows von heute früh: ›Hoffentlich hat sich Maxe bei Euch gut eingelebt.‹ Es waren kurze Worte. Ganz er selbst. Hart. Kalt. Willensbewußt. Es gab für ihn eine Grenze. Die war aufgerichtet. Die blieb. Und sie hob trotzig den blonden Kopf. Was er konnte, konnte sie auch! Erst recht! Aus eigener Kraft!

»Na, Maxe!« sagte an einem der nächsten Tage Frau von Ottersleben mit einem mütterlichen Lächeln. »Nun wird's Zeit, daß wir uns nach einem hübschen Kleid für dich umtun!«

Sie zeigte ihrer Nichte einen heute gekommenen Brief des Bruders Otto, des Feldartilleristen und glücklichen Bräutigams, mit der Einladung an sie alle drei zur Hochzeit nach Berlin. Der Tag war nun festgesetzt:[S. 210] der erste Oktober. Natürlich, der Trauer wegen, nur eine kleine Feier, lediglich im Kreise der beiderseitigen Verwandten. Aber ein bißchen Freude und Frohsinn sollte doch herrschen. Das hätte der gute Papa, wenn er es hätte voraussehen können, gewiß selbst am meisten gewünscht. Deswegen sollte, nach allgemeinem Familienübereinkommen, für diesen Tag die Halbtrauer abgelegt und etwas Buntes getragen werden.

»Ich meine, wir wählen für dich Hellgrün!« schlug die Tante vor, »es steht dir gewiß ganz apart!«

»Ja. Ich werde Grün nehmen!« sagte Maxe Ottersleben. Ihr Herz schlug ruhig. Sie war gefaßt auf dies Wiedersehen mit Erich von Logow. Sie hatte den Zeitpunkt ja unerbittlich heranrücken sehen, den ganzen Sommer lang, durch Wochen und Monate. Es gab keinen möglichen Grund, abzusagen und als Schwester nicht zur Hochzeit zu fahren. Es mußte eben überstanden werden. Zum Glück ließ Onkel Bruno — das wußte sie — sein neues Regiment nicht eine Minute länger als unbedingt nötig im Stich. Sie war also nur kurze Zeit mit dem Oberst von Ottersleben und seiner Frau dort drüben in Berlin. Es war vielleicht nicht mehr als ein einziger schwerer Tag ...

[S. 211]

10

Der Standesbeamte, ein würdiger älterer Militär a. D. in schwarzem Leibrock, räusperte sich, nachdem die beiden »Ja« verklungen, machte hinter seinem grünen Tisch eine feierliche Kunstpause und sagte dann in gewöhnlichem Ton: »So erkläre ich Sie hiermit nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches für ehelich verbunden.«

Damit waren der Leutnant von Ottersleben und Fräulein Adda Bannersen Mann und Frau. Es war alles so freudlos umher, der kahle Raum, die Unterschrift unter das Protokoll, das unfestliche Äußere der paar Trauzeugen: die trockene Nüchternheit des auf Verstandesbegriffen aufgebauten Staates legte sich ihnen unbewußt auf die jungen Seelen. Sie hatten Mühe, sich vorzustellen, daß jetzt schon drüben in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein Hain von Palmen ihrer harrte und die Orgel schon feierlich Probe summte und in wenigen Stunden die mächtigen Glocken über den Berliner Westen hallen würden, ihnen zu Ehren. Vorläufig war da draußen auf der Straße noch der Alltag im Gang, die Herbstsonne schien hell auf den reinlichen Asphalt, ein Schutzmann stritt sich mit einem heiser schimpfenden Bierkutscher — sie beide, das Ehepaar, waren förmlich erschrocken, wie wenig[S. 212] sie und ihr bißchen Schicksal doch eigentlich in der Welt bedeuteten. Halb glücklich, halb betäubt fuhren sie zusammen heim, nach dem Gesetz verheiratet, nach Sitte und Herkommen noch nicht ganz, in der seltsamen Übergangsstimmung zwischen Standesamt und Altar.

In dem Hause der Brauteltern am Kurfürstendamm war der junge Ehemann jetzt eigentlich das fünfte Rad am Wagen. Es ging alles über seinen Kopf weg. Adda war ihm sofort von einem Haufen Brautjungfern, Schneiderinnen und Zofen entrissen worden, um für die Kirche fertig hergerichtet zu werden. Er selbst hatte inzwischen nichts weiter zu tun, als mit Hilfe seines Burschen in einem der Fremdenzimmer seinen Interimsrock mit der Paradeuniform zu vertauschen.

Dabei geriet er, nachdem er das drückende Gefühl seiner allgemeinen Entbehrlichkeit überwunden hatte, wieder in die rosigste Stimmung. Er pfiff leise beim Umziehen vor sich hin, er sang schließlich halblaut, er war glücklich. Der Himmel hing ihm voll Geigen. Er sah eine prunkvolle Wohnung vor sich, hell von Licht, voll von Gästen, in der Mitte, unter dem Kronleuchter, seine süße kleine Frau. Der Herr, der mit ihr sprach, trug den Stern eines Hausordens. Es war ein Fürst. Solche Leute empfing man bei Otterslebens. Unten hatte man das eigene Automobil. Einen Pferdestall mit englischem Trainer. Dienerschaft ... Das einzige, was ihn in seinem Höhenrausch wieder ernüchterte, war ein Blick auf das schlichte Dunkelblau und Samtschwarz seiner Linienfeldartillerieuniform im Spiegel. Nein, das ging nicht. Dienen mußte man natürlich, ob mit einer Million in der Tasche oder mit Kaisers Zulage.[S. 213] Man war doch ein Ottersleben! Aber standesgemäß mußte man von jetzt ab dienen! Das war auch klar. Darauf hatte man ein Anrecht.

Es war langweilig da oben. Er stieg hinunter in das Erdgeschoß. Dort war alles voll Blumen. Depeschenboten liefen, Stubenmädchen huschten. Halbfrisierte Köpfe schauten aus Türspalten. Er war wieder überall im Wege. Eigentlich der unnützeste Mensch unter Gottes Sonne. Und ohne ihn ging es doch nicht. Nur im Rauchzimmer war noch ein Rest von Vernunft. Da saßen die männlichen Verwandten beisammen, deren Frauen sich da drinnen um das zarte, in Spitzen und weiße Seide gehüllte verschleierte Gebilde scharten, das nun schon Adda von Ottersleben hieß: seine Onkel Bruno und Kaspar, Freiherr von Koninck, der Bruder seiner Mutter, seine Schwäger Logow und Grotjan, der kleine Bruder Peter von den schlesischen Grenadieren.

Der Husarenmajor Wilderich von Koninck lachte breit beim Eintritt des Neffen. Er war noch dicker geworden in diesen Jahren — viel zu dick für einen Ziethen aus dem Busch. Ein Monokel schimmerte in seinem roten Bonvivantgesicht. Er klopfte dem hübschen, vor Aufregung blassen jungen Mann auf die Schultern.

»Na — du frischgebackener Ehekrüppel ... Wie fühlst du dich nun so, mein Sohn — he?«

Otto von Ottersleben antwortete nur mit einem schwachen Lächeln und stellte sich in die Ecke des Zimmers, das ganz bunt war vom Schwarz und Rot der Krägen, dem Himmelblau des Attila, dem Karmoisin des Generalstabs, den breiten Ordensreihen auf der[S. 214] Brust der Stabsoffiziere. Man schonte seine Empfindungen. Das Gespräch lenkte sich von ihm ab. Dann öffnete sich die Tür. Dorle Grotjan, geborene von Ottersleben, die Frau des Pioniers, schaute herein. Sie war in der Ehe noch rundlicher und molliger geworden. Ein appetitliches Hausmütterchen mit pausbackigem, von blonden Wuschelsträhnen umrahmten Kindergesicht.

»Also: Adda ist ein Traum!« meldete sie aufgeregt und verschwand sofort wieder. Die Herren lachten. Der junge Gatte nicht. Er war stolz auf seine Frau. Ihm fiel das alles hier wie Geschenke vom Himmel in den Schoß. Mitten in dieser Feststimmung beschlich ihn hier die Unruhe von vorhin: ich muß doch auch etwas dazu tun!

Im selben Moment sagte, als habe er seine Gedanken erraten, der Freiherr Wilderich von Koninck mit wohlwollend schlauem Augenblinzeln: »Na — du angehender junger Knallprotz: wenn du künftig anständige Gäule brauchst, dann kommste dreist zu mir! Wirst reell bedient. Dein alter Onkel ist kein Pferdeschmeißer!«

Otto von Ottersleben ergriff hastig die Gelegenheit. Er zuckte beinahe bitter die Achseln.

»Was tu' ich bei der Feldartillerie mit Vollblut? Ich werde da überhaupt viel Schwierigkeiten haben! Ich kann nichts dafür, daß ich in Zukunft aus dem Rahmen des Regiments falle!«

Das war ein Lieblingsausdruck, den er sich in letzter Zeit eingeprägt hatte. Er fügte hinzu: »Es ist mir nicht wegen mir, sondern wegen meiner Frau! Die[S. 215] kann doch Ansprüche stellen! Der bin ich Rücksichten schuldig. Es könnte jetzt, wo ich ein Vierteljahr auf Urlaub gehe, so viel vermittelt werden, durch euch ...«

»Der Bengel will nun mal zur Kavallerie!« sagte der Husar, und sein Neffe ergänzte flehend: »Vorläufig nur ein Jahr zur Dienstleistung — natürlich ... nachher kann man ja weitersehen!«

Es war eine kurze Pause. Dann versetzte der Oberst von Ottersleben: »Bleib du bei deinem Geschütz! ... Es ist eine schöne Waffe, mein Junge! Napoleon war auch Artillerieleutnant und hat auch 'ne reiche Frau geheiratet und es mit beiden ganz nett weit gebracht!«

Auch Erich von Logow erhob den Kopf. »Und wenn du meine Meinung hören willst: Ob du reich oder arm heiratest, ist deine Sache! Aber auf den Dienst darf das nicht abfärben! Wem das geschieht, der denkt nicht so soldatisch, wie er soll!«

Der hübsche junge Artillerist biß sich auf die Lippen und wandte sich wieder bittend und halblaut an Herrn von Koninck: »Du bist doch ein vernünftiger Mensch, Onkel! Nicht so 'n lederner Kommißhengst, wie der Erich dort drüben ... Du bist doch selbst Kavallerist! Großpapa war Kürassier! Du wirst begreifen, daß ich zu der alten Waffe zurück will!«

Der dicke blaue Husar hatte auf dem Rauchtisch eine Kognakkaraffe entdeckt. Er goß sich ein Gläschen ein, wischte sich den grauen Schnurrbart und sagte gutmütig: »Ja — das sind nun so Sachen, mein filius! Im Militärkabinett sind sie bei solchen Gelegenheiten höchst säuerlich. Sie lieben's nun nicht! Mit Recht! Ich könnte mich höchstens an den ollen Hundsfeldt[S. 216] wenden! Mit dem bin ich durch einen Scheffel Erbsen verwandt. Er hat die Holsteinschen Kürassiere! Die Zwölfer! ... Au ... Donnerwetter ... Zerquetsch mir nicht so die Hand!«

Der alte Herr Bannersen war eingetreten, schon feierlich im Frack und weißer Binde des Brautvaters. Er war betroffen.

»Nun — was s—pringst du so herum, mein Sohn? Um Gottes willen — er verliert den Vers—tand! ... Was hast du denn?«

»Hurra! wir haben Aussicht ... Wir werden Kürassiere ... Adda und ich ...«

»Das ist ja ers—taunlich!« sagte der Baumwollmann trocken. Er erfaßte nicht ganz die Größe der Situation. Für ihn waren Soldaten eben Soldaten. »Geh lieber und erzähl es der Adda! Sie wartet drüben auf dich!«

Das ließ sich der Leutnant von Ottersleben nicht zweimal sagen und verschwand. Onkel Emil, der Schwager des Hausherrn, ein Bankdirektor aus Westfalen, blickte ihm nach. Er war ein silberhaariger, kleiner Herr. Auf seinem Frack hing das Eiserne Kreuz. Er meinte: »Na ... ich hab' mir meine Chassepotkugel Anno siebzig als ganz gemeiner Sandhase geholt! Und nachher war es ganz gleich, neben wem man auf dem Verbandplatz auf dem blutigen Stroh lag. Da hielt sich keiner für besser als der andere. Aber jetzt geht's wieder nach Gardelitzen und Haarbüschen. Das macht der lange Frieden!«

»Ja ja! Wir kennen dein S—prüchlein!« versetzte der alte Herr Bannersen. »Aber bitte, sei jetzt s—till!«

[S. 217]

Er wandte sich lebhaft an Erich von Logow. »Nun sagen Sie mal, mein bester Hauptmann, wo haben Sie denn die Maxe gelassen, das liebe Mädel? Warum ist sie denn nicht mit Ihnen gekommen, gnädige Frau?«

Ulla von Logow war mit ihrer Schwester Dorle Grotjan eingetreten, schon fertig, frisiert und ganz in matter, weißer Seide, als Umrahmung ihrer bleichen, dunkeln Schönheit. An ihrer Stelle antwortete Oberst von Ottersleben: »Maxe wohnt mit uns im Hotel. Sie wartet dort mit meiner Frau auf meine beiden Jungen aus Lichterfelde. Sie fahren dann alle zusammen direkt in die Kirche.«

»Ach!« sagte Herr Bannersen erstaunt. »Ich dachte, Fräulein Maxe wäre wieder bei Ihnen abges—tiegen, Herr von Logow! Im Frühjahr war sie doch so lange Ihr Gast!«

Erich von Logow schüttelte den Kopf.

»Aber diesmal nicht! Ich hab' sie noch gar nicht gesehen, seit sie hier ist!«

»Wie komisch!« Seine Schwägerin Dorle, die kleine Pioniersfrau, riß ihre runden blauen Augen auf. »Bei uns war sie gestern gleich! ... Und da — wart mal — natürlich ... ich erinnere mich doch ... da wollte sie noch extra an euch telephonieren und des Abends auf ein paar Stunden zu euch kommen!«

»Sie hat beides nicht getan!« versetzte der Hauptmann.

Zugleich sagte seine Frau gleichgültig, in ihrem nachschleppenden, müden Ton: »Doch! Telephoniert hat sie schon! Ich hab' selbst mit ihr gesprochen!«

»Ja, nun ... und, Ulla ...?«

[S. 218]

»Es machte sich nicht recht mit der Zeit. Da hat sich's eben zerschlagen!«

Ein allgemeines »Ah!« der Bewunderung ertönte im Kreis. Die junge Frau Adda von Ottersleben erschien am Arme ihres Mannes, blaß und weiß, im Myrtenkranz und Schleier und langer Schleppe, Brautjungfern um sie, Brautführer mit Buketts, kleine, trippelnde Mädchen, ein ganzer Hofstaat. In dem Getümmel des allgemeinen Aufbruchs zog Erich von Logow seine Frau zur Seite. Seine Stimme zitterte.

»Was heißt das, Ulla? Maxe hat zu uns kommen wollen?«

»Ja.«

»Und was hast du ihr geantwortet?«

»Es ginge nicht! Du hättest Dienst, und ich sei nicht wohl!«

»Und dann?«

»Sie hat's schon verstanden! Sie ist vom Telephon weg. Sie hat nichts weiter gesagt!«

»Und das hast du gewagt — sie von uns fern zu halten — einen Gast, der zu uns kommt ... meine eigene Schwägerin?«

»Als meine Schwester steht sie mir wohl noch näher!«

»Und trotzdem beleidigst du sie ...«

Um sie war niemand mehr. Die Wagen rollten draußen vor der Rampe. Man fing an, einzusteigen. Es war ein Hin- und Herlaufen und Rufen auf Gängen und Treppen. Ulla schaute aus ihren großen dunklen Augen um sich. Sich unbelauscht wissend, fuhr sie plötzlich leidenschaftlich auf.

[S. 219]

»Sie soll nicht zu uns kommen! Ich will nicht!«

»Ulla!«

»Ich will nicht! Sie hat schon genug Unheil bei uns angestiftet! Ich wehr' mich gegen sie! Sie soll sich hüten!«

»Sei nicht so laut! Nimm dich doch wenigstens zusammen!«

»Ach — mir ist's gleich! Mir ist überhaupt alles gleich. Aber die Maxe will ich nicht mehr sehen!...« Sie stampfte mit dem Fuß. Ein Aufflammen von Zorn, wie es ihr Mann noch nie an ihr erlebt und nie für möglich gehalten, veränderte ihr regelmäßiges, wie aus Marmor gemeißeltes Gesicht und ließ es in seiner jähen Vermenschlichung beinahe unheimlich schön erscheinen. »Ich hasse sie! Ich hasse die Maxe! Ich wollte, sie wäre tot und läge in Straßburg begraben und käme nie wieder!«

»Um Gottes willen ...«

»Ja, dir wäre das freilich nicht recht! Aber mir! Dann hätt' sie's!... Sie hat das letzte bißchen Glück aus unserm Haus mit sich genommen! Das bleibt sie mir schuldig! Das verzeih' ich ihr nie ...«

»Komm jetzt zu dir! Mach hier keine Szene!«

Die junge Frau wehrte sich gegen seinen Arm. Sie stieß ihm leidenschaftlich die Worte ins Gesicht: »Ein schöner Dank: ich nehm' sie auf, um Gottes Barmherzigkeit, nach Papas Tod, weil kein Mensch wußte, wohin mit dem Unglückswurm ... Ich lieg' krank und elend zu Bett, und die Zeit benutzt sie, um ... um ... ich spreche es nicht aus ... du verstehst mich schon ...«

»Nein! Ich versteh' dich nicht. Nie ist etwas vorgekommen,[S. 220] solang' sie da war, und seit beinahe einem halben Jahr hat sie unser Haus verlassen!«

Ulla von Logow lachte wild auf.

»Und du? ... Wo bist du denn seitdem? ... Bist du bei mir? ... Hab' ich dich? Nein! ... Glaubst du denn, ich sei taub? ... Glaubst du, ich sei blind, daß ich das nicht merke? ... Bist du nicht ganz verändert? Mit allen deinen Gedanken in Straßburg statt in Berlin? ... Nein — laß mich ausreden! ... Ißt und trinkst du denn überhaupt noch? Schläfst du noch? ... Nichts! Wie ein Nachtwandler läufst du umher! ... Jeder schüttelt den Kopf. Deine Vorgesetzten. Deine Verwandten. Deine Freunde. Keiner weiß was! Nur ich, deine Frau! Ich kenne deine Krankheit. Vorhin hab' ich sie mit sehenden Augen erkannt. Verliebt bist du! Aber nicht, wie es sich von Gottes und Rechts wegen gehörte, in mich, deine Frau, sondern in deine Schwägerin! Und das bis über die Ohren!«

»Hör auf ... um Gottes willen ... Berufe das nicht ...«

»Nein. Ich rede ...«

»Still ... still ... Ulla ... du steckst ja unser Haus in Brand!«

»Sie tut's ... die Maxe ...« Die Leidenschaft erstickte die Stimme der jungen Frau. »Und ich will Herr in meinem Hause bleiben! Sie kommt mir nicht über die Schwelle! Ich lasse sie dir nicht! Ich wehr' mich! Ihr beide sollt mich noch kennen lernen ...«

Sie brach atemlos ab. Ein Hustenanfall schüttelte sie und warf eine flüchtige Röte über ihre bleichen Wangen. Erich von Logow blickte sie entsetzt an. In[S. 221] die plötzliche Stille zwischen ihnen tönten rasch näherkommende Schritte. Onkel Emil, der Festordner, erschien. Seine Frackschöße flatterten in der Eile.

»Schönste Frau, Sie müssen Ihre Gardinenpredigt vertagen!« rief er lachend. »Es ist allerhöchste Zeit! Sie kommen sonst zu spät zur Trauung!« Und während Ulla schweigend sich zur Abfahrt fertig machte, stieß er draußen vor dem Haus den Hauptmann vertraulich in die Seite. »Ich gratuliere, Verehrtester!«

»Wieso?« sagte Erich von Logow geistesabwesend.

»Na — wenn eine Frau ihrem Herrn und Gebieter noch die Augen bei einem kleinen ehelichen Zwist macht, dann — verzeihen Sie einem alten Greis und Praktikus die Randbemerkung — hat sie noch viel für ihn übrig! ... Zu viel! Besser als zu wenig, nicht wahr? ... Hä ... hä ... ich an Ihrer Stelle fühlte mich geschmeichelt durch so viel Verve! ... Bitte ... Kommen Sie, gnädige Frau!«

Er geleitete Ulla an den Wagen und verabschiedete sich. Das Ehepaar fuhr allein zur Kirche. Sie wechselten unterwegs kein Wort. Erich von Logow saß, ohne sich zu rühren. Ihm war, als ob er träumte. Es war eine Erkenntnis, ein Schrecken ... er sagte es sich und glaubte es selbst noch nicht: das Unerwartete ... das Unerhörte ist geschehen! Meine Frau ist auf einmal zum Leben erwacht! Sie fühlt und leidet wie andere Menschen. Ich bin ihr etwas! Die Eifersucht spricht aus ihr. Jetzt will sie besitzen, was sie verloren hat ... Jetzt, wo es zu spät ist, kommt bei ihr die Liebe ...

Sie traten eben noch vor Beginn der Trauung ein. Gerade vor ihnen war der Altar. Dort oben saß das[S. 222] Brautpaar, rechts und links von ihm im Halbkreis je drei Brautführer und -führerinnen. Und unter ihnen — Erich von Logow zuckte zusammen — da zur Rechten die vorderste — das war seine Schwägerin Maxe ...

Sie hielt sich ruhig und aufrecht und hatte einen großen, weißen Rosenstrauß im Schoß. Lichtgrüner Seidenflor, unter dem ein weißes Unterkleid schimmerte, überrieselte sie in durchsichtigen, an das Plätschern eines Bergbachs erinnernden Wellen. In dem blonden Haar trug sie einen dicken Kranz von weißen Rosen. Sie sahen wie Seerosen aus. Sie gaben ihr etwas Nixenhaftes, Geheimnisvolles. Sie war weitaus die Schönste. Er verschlang sie mit den Augen. Er fühlte einen brennenden Neid gegen den neben ihr sitzenden, ihm unbekannten Brautführer, einen Herrn im Frack, ohne Orden, also jedenfalls von der anderen Seite, aus dem Lager der Bannersen.

Die Orgel spielte. Die kirchliche Handlung begann. Er faltete mechanisch die Hände. Er sah vor sich, oben auf den Stufen, Maxe von Otterslebens gesenktes Profil. Er mußte es sehen. Er konnte den Kopf nicht nach rechts oder links wenden und angesichts aller derer, die hinter ihm die Bänke erfüllten, unaufmerksam erscheinen. Er prägte sich andächtig dies Bild ein, das er seit einem halben Jahr und mehr im Traum geschaut: diese eigenwillig geschwungenen, kühnen Züge von der niederen Stirn bis zu dem etwas vorspringenden Kinn — den herben Reiz der Linie, in der ihre schlanke Gestalt sich etwas nach vorne bog. Er trank es stumm mit seinen fiebernden dunklen Augen in sich ein. Seine Frau saß mit starrem Gesichtsausdruck neben[S. 223] ihm. Einmal entfiel ihr ihr Tuch. Er bückte sich und hob es auf. Sie dankte mechanisch. Dabei trafen sich ihre Blicke. Unheimlich, halb voll Angst, halb im Aufkeimen einer verzweifelten Feindschaft zwischen ihnen, im Kampfe um die dritte ... Der Pfarrer oben predigte mit wohltönender, starker Stimme vom Segen der Ehe. Von der Braut vor ihm sah man eigentlich nur Schleppe und Schleier. Jetzt erhob sie sich. Eine zarte Wolke von Weiß. Mit ihr ihr Mann. Es war feierliche Stille. Der Ringewechsel. Das laute und das leise Ja! Maxe von Ottersleben hatte eine rasche Bewegung nach vorne gemacht und ihrer Schwägerin Strauß und Spitzentaschentuch abgenommen. Sie stand dicht neben ihr. Nun sah Logow ihre ganze hohe, biegsame Erscheinung — ein Widerschein von Blond und Grün auf weißem Grund. Verklärender, gedämpfter Lichtschein fiel von oben durch die gotischen Fensterwölbungen auf sie nieder — märchenhaft stand sie vor seinen Augen — ein Wunder — ein Traumbild, das ihm nicht von dieser Welt schien — streng, jungfräulich, unnahbar wie eine Göttin, ohne sich um die Versammlung unten zu kümmern, den Blick nur hilfsbereit auf der Braut, ein schwaches, schwesterliches Lächeln um die halboffenen Lippen. Die junge Frau von Ottersleben kniete mit ihrem Gatten nieder. Der Geistliche hob die Hände zum Segen ... Vorne in der ersten Reihe weinten die älteren Damen. Die Orgel setzte brausend ein. Die Trauung war zu Ende. Draußen in der Sonnenhelle des Herbsttages standen Hunderte von Menschen und waren enttäuscht, daß es sich nur um eine so kleine Hochzeit handelte. Denn es[S. 224] waren keine vierzig Gäste, die sich im Festsaal des Hotels wieder zur Tafel zusammenfanden, und unter ihnen herrschte eine gedämpfte, mehr höfliche als fröhliche Stimmung. Das machte nicht nur die Halbtrauer, sondern auch die ungleichartige Zusammensetzung der Tischrunde. Die Bannersen und die Ottersleben mit ihrem Anhang verhielten sich zueinander wie Öl und Wasser. Sie vertrugen sich gegenseitig, aber sie mischten sich nicht.

Während Erich von Logow eine ihm unbekannte Bremenserin zur Tafel führte, glitt sein Auge hastig über den Tisch, an dem sie entlang gingen. Er hatte eine zähe Hoffnung, der Zufall würde Maxe in seine Nähe bringen. Nein! Da saß sie bereits. Sie zog sich eben die langen Handschuhe aus und plauderte, ohne ihn zu sehen. Er kam dicht an ihr vorbei. In ihm war eine Verzweiflung: Ich muß sie sprechen! Dann die Stimme der Vernunft: Was willst du ihr denn sagen? Das, was du auf dem Herzen hast, doch nicht! Und trotzdem — die quälende Sehnsucht blieb. Vor ihm schritt, breit und groß, sein Oheim, der Oberst von Ottersleben, mit einer älteren Dame. Er konnte sich nicht halten. Er raunte ihm von hinten zu: »Du, Onkel — wie lange bleibst du eigentlich in Berlin?«

Und der Straßburger Regimentskommandeur wandte den Kopf. »Nur bis morgen mittag!«

»Und deine Damen reisen mit dir?«

»Na, meine Frau auf alle Fälle! Ohne die kann ich alter Ehekrüppel mich nicht behelfen. Aber was unsere Vizetochter betrifft ...« Er blieb vor dem Stuhl des jungen Mädchens stehen. »Du, Mäxchen ...[S. 225] hast du Lust, noch ein bißchen in Berlin zu bleiben? Da ist gerade der Erich! Den kannst du um Freiquartier bitten!«

Maximiliane von Ottersleben drehte sich um und reichte unbefangen ihrem Schwager im Sitzen über die Stuhllehne die Hand. »Tag, Erich! ... Sieht man dich endlich einmal!« Und dann zu dem Oberst: »Nein, danke schon, Onkel! Ich hab' hier nichts verloren! Ich geh' wieder mit euch!«

Erich von Logow mußte weiter. Sein Herz zitterte. Er hatte ihre Stimme gehört, dies schöne, ruhige Mädchenantlitz gesehen, und auf ihm — nur ihm bemerkbar, wie ihm schien — eine plötzliche Blässe, die ihre heiteren Worte Lügen strafte. Er nahm Platz, ganz am anderen Ende der Tafel, weit von ihr entfernt. Sie schwatzte da drüben und lachte ein paarmal hellauf. Ihr Tischnachbar, der Mann mit dem Kaufmannsgesicht, mußte einen eigenen, trockenen und drolligen Humor besitzen. Sie unterhielt sich offenbar sehr gut mit ihm. Er war der einzige Sohn eines Bremer Millionärs. Seine Nachbarin verriet es ihm. Sie lächelte dabei verstohlen. Natürlich: ohne Grund setzte man solch schönes Mädchen nicht mit solch reichem, jungem Mann zusammen. Die Brautmütter hatten da schon ihre stillen Absichten und mischten die Karten. Brütende Eifersucht gegen diesen Unbekannten bemächtigte sich Logows. Dies schien ihm selber lächerlich. Er fing an, Angst vor sich selber zu empfinden und vor dem, was nachgerade aus ihm wurde. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne. Er trank rasch ein Glas Wein. Er bemühte sich, eine Unterhaltung mit seiner Tischdame[S. 226] anzuknüpfen. Sie war ganz lebhaft und empfänglich, aber das Gespräch schlief doch immer wieder ein, und die Hanseatin wandte sich schließlich resolut zu ihrem Nachbar zur Rechten. Auf Logows anderer Seite saß ein junger, stumm und unermüdlich kauender Kadett, um den er sich nicht zu kümmern brauchte. So konnte er ungestört seinen Gedanken nachhängen und blickte immer wieder flüchtig auf Maxes blondes Haupt mit den weißen Rosen dort drüben. Auf seiner eigenen Hochzeit hatte sie auch einen solchen Kranz auf dem Scheitel getragen. Der war rosafarben gewesen und ebenso ihr Kleid. Er erinnerte sich wohl. Das war nun Jahre her und Jahre. Und neben ihm, auf dem Ehrenplatz, hatte damals seine junge Frau gesessen. Zum erstenmal heute suchte sein Auge Ulla an der Tafel. Sie saß Maxe schräg gegenüber, gleichgültig und stumm. Ihr Tischherr gähnte eben verstohlen. Natürlich. Es war kein Vergnügen, dies Bild von Stein statt eines Wesens von Fleisch und Blut neben sich zu haben. Das wußte niemand besser als er selber, ihr Mann! Aber heute — heute hatte sich etwas in ihr enthüllt — ein Mensch hatte plötzlich aus ihr aufgeschrieen in seiner Not — in Angst — in Eifersucht auf die eigene Schwester ... Wieder verwirrten sich seine Gedanken und hefteten sich an Maxe. In einem Zittern: Morgen reiste sie ab. Und kehrte dann überhaupt nicht wieder. Diesmal hatte sie gezwungen kommen müssen. Aber er kannte sie zu gut. Freiwillig fand sie nicht mehr den Weg in eine Stadt, in der er war ...

Die Tafel war schon vorgerückt, die Trinksprüche zu[S. 227] Ende, die Stimmung belebter geworden. In der Heiterkeit und dem Gläserklingen um ihn her bemühte sich Logow noch einmal, zum letztenmal, einen Blick von Maxe zu erhaschen. Es war umsonst. Er bildete sich ein, daß ihr Auge absichtlich das seine mied. Und schon stand man auf, und seine Tischdame meinte mit einem Aufseufzen der Erleichterung: »Sie haben wohl schrecklich viel zu tun, Herr Hauptmann!«

»Warum, gnädiges Fräulein?«

»Na — weil Sie so einsilbig sind!«

»Bitte, seien Sie mir nicht böse!« sagte er, und sie lachte.

»Ach wo! ... Ich denk' nicht dran! Und jetzt wird getanzt!«

Erich von Logow stand, unruhig suchend, im Nebenraum, wo man Kaffee nahm. Dort in der Ecke war Maxe. Sie saß an einem Tischchen, das nur für zwei Platz bot, ihr gegenüber ihr jüngster Bruder Peter. Die Geschwister hatten sich lange nicht gesehen. Es schien, daß ihr der kleine rotwangige Grenadier in Kürze einen Überblick über seinen bisherigen Lebenslauf im Regiment gab. Logow hörte beim langsamen, scheinbar unabsichtlichen Nähertreten, wie jener eifrig, immer noch mit seinen runden, erstaunten Kinderaugen, berichtete.

»Also der Oberst ist kolossal nett! Na — und mit dem Hauptmann geht's! Er kolkt immer davon, ich sei so schwach im Felddienst! Ja, woher soll ich's denn haben — frisch von der Selekta ins Regiment? ... Nächsten Sommer wird's schon besser! Da hab' ich keine Sorge! Und was den Major betrifft ...«

[S. 228]

Zwei lange, aufgeschossene Kadetten, die Söhne des Obersten Bruno von Ottersleben, drängten sich heran, um den Vetter zu begrüßen, mit dem sie im Korps in Lichterfelde zusammengewesen waren. Der Leutnant erhob sich und empfing sie mit gönnerhafter Herzlichkeit. Sie zogen sich zusammen zurück. Logow atmete auf. Er hätte den kleinen Mann am liebsten mit Gewalt von seinem Platz neben Maxe verjagt. Jetzt ließ er sich hastig da nieder, ehe sie ihm noch entfliehen konnte, und seltsam: im Augenblick, wo er nun am Ziele war, legte sich eine tiefe Ruhe über ihn, wie Stille nach dem Sturm. Oder vor dem Sturm. Er wußte es nicht ... Er fühlte sich willenlos ... Irgend etwas war in ihm ... Irgend etwas trieb ihn ... Er rückte ein wenig seinen Stuhl. Nun konnte sie überhaupt nicht mehr aus ihrer Ecke an ihm vorbei. Sie war seine Gefangene. Sie schien nicht darauf zu achten. Sie hob den Kopf und sah ihn freundlich ruhig an. Es war wie eine Frage: Was willst du hier? Beide lächelten. Menschen waren in Menge um sie und sahen sie. Es war eine Pause. Dann versetzte er: »Guten Tag, Maxe!«

»Guten Tag!«

»Wie geht's dir denn?«

»Danke!«

»Gefällt dir Straßburg?«

»O, ganz gut!«

»Und Onkel und Tante sind nett zu dir?«

»Wie zu einem eigenen Kind.«

»Da wirst du wohl da bleiben?«

»Ich weiß noch nicht ...«

[S. 229]

Nach einem neuen Schweigen fügte sie hinzu: »Wenn Mama wirklich am ersten Januar nach Darmstadt zieht, wie sie mir eben gesagt hat, dann muß ich ja wohl zu ihr!«

»Ist dir das lieber?«

»Es ist doch jedenfalls meine Pflicht!«

Vom Nebensaal hörte man das Stimmen der Instrumente. Er beugte sich vor und sagte leise: »Maxe ... du bist damals ohne Abschied von mir fort ...«

Sie erwiderte ihm nichts.

»Maxe ... möchtest du nicht wieder zu uns?«

Es kam keine Antwort.

»Maxe ... nur ein bißchen ... nur für ein paar Wochen ... Du ahnst nicht, was das für mich heißt ...«

Nun sagte sie ruhig: »Du weißt so gut wie ich, daß das ganz unmöglich ist!«

»Wieso?«

»Schon nach der Art, wie Ulla mich ansieht oder vielmehr nicht ansieht, seit ich heute hier bin ... Wenn es noch überhaupt eines Gegengrundes für mich bedürfte! Aber das tut nicht einmal not!«

»Gestern wolltest du doch zu uns kommen?«

»Ich muß doch höflichkeitshalber. Wo ich so lange euer Gast war. Aber ihr wart verhindert ...«

»Das hat Ulla gelogen. Wir waren wohl zu Hause!«

Eine Sekunde wurde Maxe Ottersleben bleich. Dann sagte sie, ohne daß der Ausdruck ihrer Züge sich veränderte: »Nun — da siehst du ja wieder, daß das eine wahnsinnige Idee ist ... von dir ... Also laß mich! Und bitte, laß mich jetzt überhaupt ...«

Sie wollte aufstehen, um zu gehen. Er machte ihr[S. 230] nicht Platz. Sie konnte sich nicht vorüberdrängen, ohne Aufsehen zu erregen. Sie mußte sich in Geduld fassen und blieb seufzend sitzen. Er frug nach einer Weile leise: »Bist du auch so traurig auf einer Hochzeit, Maxe?«

»Warum?«

»Auf meiner warst du traurig ... Ich weiß es ... Ich weiß es ... Ulla hat es mir gesagt ...«

»Ach ... immer Ulla ...«

Sie preßte finster die Lippen zusammen.

Er fuhr fort: »Aber freilich: Du hast nichts zu bereuen, so wie ich ... Mein Leben lang! Ich war ein blinder Narr, Maxe ... Ich hab' es dir ja schon einmal gesagt, dieses Frühjahr ...«

»Weil du es mir gesagt hast, deswegen bin ich ja fort!«

Es schien, als ob Erich von Logow das überhörte. Sein dunkles, heißes Auge irrte durch den Saal.

»Ja, solch eine Hochzeit!« sagte er. »Da wird nun wieder ein Menschenschicksal geschmiedet! Für immer! Man denkt hinterher über so vieles nach! ... Man möchte so vieles ungeschehen machen! Du kannst dich besser als ich verstellen, Maxe!«

»Was heißt das? Ich geb' mich, wie ich bin ...«

Er sah sie so durchdringend an, daß sie die Augen niederschlug.

»Das ist nicht wahr, Maxe! ... Ich weiß es besser! Du hast keine Geheimnisse vor mir. Und ich nicht vor dir, wenn wir's uns auch nie gesagt haben!«

»Ich denke, wir hören jetzt auf, Erich!«

Er achtete nicht darauf. Er fuhr langsam fort: »Ich hab' gezittert und gebebt vor Glück, bis ich jetzt endlich[S. 231] in deine Nähe gekommen bin. Und jetzt bin ich schon wieder traurig, daß ich dich in ein paar Minuten wieder hergeben muß ...«

»Ja. Das mußt du! Geh jetzt! Dort steht deine Frau!«

»Ach, meine Frau!« Er machte eine Bewegung der Ungeduld. »Aber ich will nicht ungerecht sein: eigentlich macht sie mich nicht unglücklich, sondern ich hab's selbst getan! Ich hab's selbst gewollt. Ich hätte sie ja nicht zu nehmen brauchen, sondern ... weißt du, was die einzige glückliche Zeit in meiner Ehe war, Maxe?«

»Laß mich jetzt und geh zu deiner Frau!«

»Das war die Zeit, wo du bei uns warst, als mein lieber, blonder Kamerad! ... Ach, die paar armen Wochen! ... Die goldene Zeit ... Das bißchen Sonnenschein .. das bißchen Lebensfreude ... Ich bin ein harter Mensch. Damals hab' ich mein Herz gefunden, Maxe! Es tut weh. Furchtbar weh! Das weißt du auch, das weißt du Ärmste viel, viel länger als ich. Wir sind zwei unglückselige Schicksalsgenossen.«

»Soll es denn durchaus hier ein Aufsehen geben, Erich? Ich erzwinge mir jetzt den Ausweg, wenn du nicht ...«

»Nein! Bleib! Bleib! Ich hab' dir noch so viel zu sagen!«

»Wir haben uns gar nichts zu sagen! Dort ist deine Frau! Sie sieht uns!«

»Maxe! Ich kann's nicht ändern! Meine Spannkraft ist zu Ende. Meine Karriere ruiniert. Ich komme nicht mehr vorwärts. Ich kann mich nicht mehr zusammenraffen.[S. 232] Der Mühlstein um den Hals zieht mich in die Tiefe. Es hat sich furchtbar an ihr und mir gerächt, Maxe! ... Sie hat mich ohne Liebe genommen, obwohl sie gewußt hat, daß du ... gleich am ersten Tag unserer Verlobung hat sie mir's mitgeteilt ... Ja, schrick nur zusammen, mein armes Herz ... Es wäre besser gewesen, ich hätt' es nie erfahren! Und dann bist du dies Frühjahr gekommen und hast mir das letzte genommen, was mir aus dem großen Schiffbruch noch übriggeblieben war!«

Maxe Ottersleben warf heftig das Haupt zurück.

»Nun soll auch ich noch schuld sein!« sagte sie. »Das ist zu viel! Ich bin mir keines Unrechts bewußt. Du allein spielst fortwährend mit dem Feuer! Und nun mach ein Ende! Sei ein Mann! Gib mir den Weg frei!«

»Nein!«

»Ja, was willst du denn noch?«

Sie frug es halb verzweifelt.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es selbst nicht,« murmelte er.

Auf einmal erfaßte sie die Angst. »So komm doch zu dir! ... Du hast ja ganz irre Augen ... Um Gottes willen ...«

Da fuhr er zu ihr herum. Er raunte es zwischen den Zähnen: »Ich will nur hier sitzen und dich anschauen und dir sagen, daß ...«

»Sei still!«

»Ich will dir's sagen ... Weißt du, Maxe ... eigentlich müßte ich mich umbringen für meine Dummheit damals ...«

»So hör doch endlich auf! Quäle mich doch nicht[S. 233] so entsetzlich! Ich bin doch auch nur ein Mensch! Ich kann ja bald nicht mehr an mich halten! Ich fang' an zu weinen ...«

Er musterte sie mit fiebrigglänzenden Augen wie ein Verzückter. Seine Stimme war leise.

»Damals hast du rote Rosen getragen und warst schön! Jetzt hast du weiße und bist viel schöner! Die Schönste von allen!«

»Hör auf ... Was soll denn das um Jesu willen werden?«

»Verrückt werd' ich! Oder bin's schon! Verrückt ... Aus Liebe zu dir ...«

Sie fuhr empor. Er erhob sich auch. Sie standen sich gegenüber.

»Ich lieb' dich, Maxe ... Ich lieb' dich ... Ich sag's tausendmal: ... Ich lieb' dich ... Ich möchte dich küssen vor all den Leuten ... dich auf den Arm nehmen und mit mir forttragen ... Ich lieb' dich ... Ich lieb' dich!«

Das Tischchen zwischen ihnen schwankte. Eine Tasse klirrte. Maxe Ottersleben hatte sich gewaltsam frei gemacht. Es hatte niemand darauf geachtet. Man tanzte schon. Im Saal drehten sich die Paare.

Eine fremde Dame rang die Hände: »Ach Gott ... das schöne Kleid ... über und über ...« Sie wies auf die Kaffeeflecken in der grünen Seide.

Zugleich sagte Frau von Ottersleben, die eben über die Schwelle getreten war, erschrocken: »Komm nur rasch! Wir waschen es gleich aus!«

Sie führte Maxe nach hinten. Als sie nach geraumer Zeit zu ihrem Mann zurückkehrte, war sie ganz erregt.

[S. 234]

»Du, Bruno ... das hätt' ich doch nie geglaubt ... Die Maxe ist doch sonst so vernünftig ... Daß sich die über ein verdorbenes Kleid so aufregen könnte ...«

»Was ist denn geschehen?«

»Denk dir: sie ist direkt draußen in Ohnmacht gefallen! ... Ich hab' sie gerade noch aufgefangen! Jetzt eben erst kommt sie wieder zu sich!«

[S. 235]

11

Die Esplanade von Metz war an dem schönen Sonnabendnachmittag farbig von Uniformen, Offizieren und ihren Damen des Waffenplatzes an der Westgrenze, in dem jeder dritte Mensch Soldat war. Es war schon in der zweiten Hälfte Oktober, aber in dieser Gartengegend Lothringens schien die Herbstsonne noch mild und golden über dem tief eingeschnittenen Tal der Mosel, die dort unten strömte. Blaßblau spannte sich der Himmel über dem mittelalterlichen Gassengewirr der grauen Grenzfeste. Trotzig ragte drüben der St. Quentin, das festeste der festen Werke, zu ihm empor. Der leise Rauch einer Militärbäckerei kräuselte sich auf ihm hoch oben aus dem Fort Friedrich Karl.

Es war eine Bewegung unter dem bunten Tuch. Ein Grüßen von rechts und links. Der Generalleutnant und Kommandeur der fünfundvierzigsten Infanteriedivision Exzellenz Olaf von Glümke kam, die Hände in den Paletottaschen, von der Innenstadt aus quer über den Platz. Er hatte im Gegensatz zu anderen Herren seines Ranges etwas Nonchalantes in seiner Haltung. Er ging wie ein eben aus dem Sattel gestiegener Kavallerist und dankte auf die Honneurs der dunkelblauen preußischen und der himmelblauen bayerischen[S. 236] Infanterie, der hellblauen Dragoner und hechtgrauen Maschinengewehrmannschaften, der dunkeln sächsischen, preußischen, bayerischen Fußartilleristen, der Pioniere und Kanoniere von der Feldartillerie und der Fähnriche der Kriegsschule, die alle Uniformen der preußischen Armee durcheinander trugen.

Eine Abteilung der Metzer Garde, des Königsinfanterieregiments, marschierte vorbei. Augen rechts! Die Beine flogen im Parademarsch. Er dankte den Hundertfünfundvierzigern, winkte ab und dann lebhaft nach vorn. Er hatte da jemanden entdeckt, der ihn höchlichst interessierte, einen großen, breitschultrigen, ruhig, beinahe etwas schwerfällig gehenden Obersten von der Infanterie. Er beschleunigte jugendlich lebhaft seinen Schritt.

»Ottersleben!« schrie er. »Ottersleben! Kriegt man Sie endlich mal zu Gesicht?«

Der Oberst Bruno von Ottersleben wandte sich um und stand militärisch stramm vor dem General, der ihm lachend die Hand drückte.

»Ist das nun nett? Seit fünf Tagen krauchen Sie in Metz und Umgebung herum und lassen sich bei mir nicht sehen?«

»Exzellenz ... Ich mache mit einer Anzahl meiner Herren aus Straßburg eine kleine taktische Übungsreise über die Schlachtfelder ...«

»Weiß! Weiß! Keine Zeit. Natürlich. Na — und wie steht's denn sonst bei Ihnen? Gattin munter? Bitte, mich zu Füßen zu legen! Fräulein Maxe auch wohl?«

»Eben hol' ich die auf dem Bahnhof ab!«

[S. 237]

Olaf von Glümke riß seine feurigen blauen Augen auf.

»Nanu! Was tut denn die schöne Nichte hier?«

»Sie begleitet auf meinen Wunsch eine Dame, die wir in Straßburg zu Besuch haben, eine Frau Oberstleutnant Torwart. Die mochte gern die Stelle sehen, wo ihr Vater 1870 bei St. Privat fiel. Morgen ist Sonntag. Da fahr' ich dann mit ihnen heim!«

»So ... so ...« meinte der andere, anscheinend zerstreut. Aber die paar Worte staken ihm merkwürdig in der Kehle. »Na — famos! ... Wo sind Sie denn da morgen früh? ... Am üblichen Standort ... beim heiligen Michael? ... Aha! ... Aber lassen Sie sich nicht aufhalten, lieber Oberst! Sie versäumen sonst noch den Zug!«

Olaf von Glümke setzte langsamer als bisher seinen Weg nach Hause fort. Er bewohnte mit seiner Dienerschaft und seinen Pferden eine eigene Villa draußen in Montigny. Es war ein geräumiges Gebäude, noch aus Fachwerk wie die meisten, hier im ehemaligen Festungsbereich gelegenen Häuser. Das hohe Gehölz eines Parks überschattete das Dach mit seinem herbstlichen Laub. In der tiefen Stille klirrten die Sporen des Generals weithin auf dem Kies des Weges. Das Haus schwieg wie ausgestorben. Es schien ihm feucht in den Zimmern. Der französische Kamin rauchte. Der Diener Joseph, ein früherer Bursche, war dümmer als je. Die Mappe voll Schriftstücken auf dem Tisch barg eine Masse dienstlichen Ärgers. Im Stall hustete Diana, die Fuchsstute. Das Wasser im Saufeimer war zu kalt. In dem Hafer, den er aus der hohlen Hand[S. 238] blies, fanden sich weiß Gott schwarze Wicken. Schweinerei überall! Es schien Olaf von Glümke, als ginge gerade heute alles gegen den Strich. Und er hatte niemanden, mit dem er über solch kleines Ungemach lachen konnte. Er speiste allein zu Abend. Es schmeckte ihm nicht. Er sah über die Tafel hinweg drüben im Leeren immer noch ein zweites Antlitz, ein schmales, unregelmäßig reizvolles Mädchengesicht, mit blonden Haaren — nein — kein Mädchen — eine Frau. Eine junge Frau. Maximiliane von Glümke ... Es klang ihm gut. Eine junge Exzellenz. Kaum sechsundzwanzig. Und eine schöne ...

Nachdenken war die Sache Olaf von Glümkes nicht. Bei ihm setzte sich der Impuls in Taten um. Zuweilen ging es damit auch schief. Das hatte er vor zweieinhalb Jahren erfahren. Leider. Er wollte sich nicht wieder die Finger verbrennen. Und so tat er in seiner Unruhe, was er sonst nie tat: er zündete sich eine Zigarre an, ging in der Stille des Herbstabends in seinem Zimmer auf und ab und überlegte.

Und sagte sich: Sie ist doch scheu und spröde. Sie hält sich doch ängstlich vor mir zurück. Vor den Männern überhaupt. Sie hat da irgendwo schlimme Erfahrungen gemacht. Sie traut uns nicht mehr. Wenn sie nun doch nach Metz kommt, auf die Gefahr hin, mir morgen, am Sonntag, wo alles unterwegs ist, zwischen Montigny und ihrem Hotel in der Priesterstraße zu begegnen, so fürchtet sie doch diese Möglichkeit nicht, wenn sie sie auch nicht sucht. Es ist, als wollte sie dem Schicksal ein Hintertürchen offen lassen ...

Und sagte sich weiter: Ich kann nicht ewig hinüber[S. 239] nach Straßburg! Es fällt schließlich auf. Im Winter ist auch die Hoffnung, sie auf der Straße zu sehen, gering. Und ich stehe nicht so mit Ottersleben, daß ich ihm ohne besonderen Grund einfach ins Haus fallen kann. Vor vierzehn Tagen war sie schon zur Hochzeit ihres Bruders in Berlin, über kurz oder lang geht sie ganz aus Straßburg weg. Und ich steh' da ...

Diese Ungewißheit quälte ihn die ganze Nacht. Gegen seine Gewohnheit fand er kaum Schlaf. Um vier Uhr früh stand er auf, machte Licht, kleidete sich an und ging durch das tiefe Dunkel hinüber in den Stall. Den erhellte der matte Schimmer einer Laterne. Fünf von dem halben Dutzend Gäulen standen. Contessa, sein Liebling, lag, lang hingerekelt. Das freute ihn. Dann war der gute Kerl heute besonders frisch. Er trat auf den Fußspitzen in die Box, um die Stute nicht zu erschrecken, half ihr in die Höhe und sattelte sie, ohne den nebenan schnarchenden Burschen zu wecken, stieg auf und ritt davon.

Allmählich wurde es morgenhell. Dampfende, weiße Nebel hingen über der Moselniederung. Herbstlicher Tau glitzerte auf den schon halb kahlen Bäumen und Büschen. Durch die stille Luft klangen die Frühglocken der Dörfer. Es war jetzt am Sonntag kaum ein Mensch unterwegs. Der General von Glümke ließ seinen Gaul ausgreifen. Er trabte die Pappelallee von Amanweiler her gegen Norden. Dabei schirmte er die Augen mit der Hand und blickte ungeduldig nach vorne. Vor ihm lag ein kleines lothringisches Dorf. Nicht anders wie hundert andere, höchstens die Kirche neu, die Häuser alle wie vor wenigen Jahrzehnten neu[S. 240] gebaut und gedeckt. Es sah nach nichts aus und hieß doch St. Privat. Und war einmal für acht heiße Stunden der Brennpunkt der Weltgeschichte gewesen.

Vor dem Dorf, wo sich eine mächtige Ebene sanft gegen Westen hin abböschte, hielt, von des Kaisers Hand entworfen, der heilige Michael mit flammendem Schwerte auf hohem Denkmal Wacht. Ein junger Infanterieoffizier stand unter ihm, den Blick geradeaus, in die Betrachtung des Schlachtgeländes versunken. Man konnte aus seinen Zügen die Empfindung lesen, die jeden Militär an diesem Ort übermannte: ›Welch eine furchtbare Stellung — die der Franzosen am 18. August ...‹

Außer ihm war niemand da. Die Züge des Generals von Glümke verdüsterten sich. Er galoppierte ungestüm heran. Zum Glück hatte er wenigstens auf den Achselstücken des Leutnants die Nummer 244 erkannt. Er hob leutselig die Hand zur Mütze.

»Morgen, Herr Kamerad! Haben Sie vielleicht hier irgendwo Ihren verehrten Oberst gelassen?«

»Zu Befehl, Exzellenz! Der Herr Oberst kommt dort eben!«

Der Offizier trat an das Pferd heran und stand dienstlich da.

»Gestatten Euer Exzellenz, daß ich mich ganz gehorsamst vorstelle: von Gesierowski, Regimentsadjutant.«

»Danke sehr! ... Glümke!« Der Generalleutnant verbeugte sich leicht und ritterlich im Sattel. Und schaute dann vor sich, über die weiten Felder hin. Er kannte längst dies Bild. Und doch ergriff es auch ihn immer wieder aufs neue. Hier, über diese völlig kahle, schutzlose[S. 241] Fläche war die Garde zum Sturm auf St. Privat vorgegangen. Es war nicht nötig, daß man das Generalstabswerk im Kopf hatte. Man brauchte nur seine Augen aufzumachen, so sah man die Angriffsrichtung all der Regimenter: denn jeder Truppenteil hatte seine Grabmale auf der Spur seines Vorwärtsdringens zurückgelassen. Die ganze Ebene war mit Denksteinen, Marmorkreuzen, bronzenen Adlern, Erdhügeln übersät, und all diese Linien liefen, von fernher im Halbkreis angesetzt, unerbittlich, wie von einem unsichtbaren, todesmutigen Willen getrieben, auf die paar Häusergruppen des ärmlichen lothringischen Grenzdorfs hier oben zusammen.

Nichts rührte sich auf dieser blutgetränkten Erde, durch die schon längst wieder der Landmann friedlich seine Pflugschar lenkte und die Schafherden auf den Stoppeln weideten. Nur ein paar Gestalten bewegten sich langsam auf St. Privat zu. Olaf von Glümke erkannte den Oberst von Ottersleben. Er führte Frau Torwart, die vom Grabe ihres Vaters kam. Hinter ihnen schritt, den Rock wegen des Taues gerafft, sich ernst nach rechts und links umschauend, ein großes, schlankes, blondes Mädchen. Wie das Bild des Lebens selbst ging sie, in ihrer Jugend, im Sonnenschein, in der Frühe des Morgens, zwischen den Gräbern. Sie lachte, als sie den General sah, der vom Pferd gesprungen war, den Oberst begrüßte und sich seiner Begleiterin vorstellen ließ, und sagte, ihm die Hand schüttelnd, ehrlich: »Gott ... Exzellenz ... Sie sieht man aber doch auch überall!«

Er scherzte ebenso.

[S. 242]

»Morgenstunde hat Gold im Munde, Fräulein Maxe! ... Sonst hätt' sie mich nicht heute durch Zufall gerade hierhergeführt!«

Sie erwiderte nichts. Er ahnte, was sie sich dachte: ›Als ob du nicht gewußt hättest, daß wir heute hier heraus wollten und wann der erste Morgenzug von Metz nach Pagny geht. Da war's kein Kunststück, uns hier beinahe auf die Minute zu treffen!‹ ... Sie schaute zur Seite und klopfte zerstreut den Hals seines Rappen, der von Schweiß metallisch glänzte, und hörte neben sich die erläuternde Stimme ihres Onkels: »Sehen Sie — drüben, gnädige Frau, gegen den äußersten rechten Flügel der Franzosen, kam des Abends der Kronprinz von Sachsen und entschied durch seine Umgehung die Schlacht. Gottlob, wir hatten den Tag über keine rechten Geschäfte gemacht! Zugleich mit ihm erschienen dort auf der anderen Seite in letzter Stunde auch noch die Pommern!«

»Nun, haben Sie auch was profitiert, Fräulein Maxe?« forschte der General von Glümke. Sie nickte nur. Sie war jetzt ganz befangen. Das plötzliche Ahnen einer nahenden Entscheidung legte sich ihr auf die Seele. Er stand dicht neben ihr. Er erklärte ihr in seiner frischen, lebhaften Art: »Da bei den Pappeln, Fräulein Maxe, gar nicht weit von hier, ist die französische Grenze. Ein paar Jahre nach dem Krieg war hier Manöver. Da ritt unser alter Kaiser Wilhelm von dort herüber quer über feindliches Terrain! Er erfuhr erst hinterher, daß das Stück Land drüben im Frieden wieder an Frankreich gekommen war.«

Es war eine Pause. Maxe Ottersleben las mechanisch[S. 243] auf dem Sockel des heiligen Michael vor ihr die Inschrift: »Hier verlor das erste Garderegiment zu Fuß seinen Kommandeur, 38 Offiziere und 1066 Mann.« Die Zahlen sagten ihr nichts Neues. All die Familien, wie die ihre, die aus der Garde stammten, hatten hier Väter, Gatten, Brüder, Vettern liegen. Sie wandte den Kopf nach der von Glümke gewiesenen Richtung und sagte: »Also von dort kommen die Franzosen?«

»Ach — wenn sie nur kämen!«

Es lag so viel ehrliche Ungeduld eines Kriegsmannes in diesem Stoßseufzer, daß sie lachen mußte. Er gefiel ihr in diesem Augenblick in seiner jugendlichen Kampflust. Er machte ein paar Schritte und zog den Rappen am Zügel hinter sich her.

»Ich muß dem Gaul ein bißchen Bewegung geben!« erklärte er. »Sonst erkältet er sich. Der Morgen ist frisch!«

Sie gingen beide langsam längs des Randes von St. Privat hin. Hinter ihnen trappelte und pustete das Pferd. Olaf von Glümke wies auf das Dorf.

»Das ist ja nun alles neu!« sagte er. »Sie können sich denken: das ganze unselige Nest war zuletzt bis auf die Grundmauern zusammengeschossen und niedergebrannt. Stellen Sie sich vor, daß abends gegen sieben Uhr über hunderttausend Menschen mit vierhundert Geschützen um die paar elenden Häuser rangen ... Deubel ja — wurde hier gekämpft! ... Mein älterer Bruder war dabei. Mein Vater war zwei Tage vorher bei Mars-la-Tour gefallen. Mir Unglücksbengel fehlten daheim noch ein paar Jahre! ... Darüber könnt' ich mir jetzt noch die Haare ausraufen! Denn seitdem ist die Welt ja blödsinnig friedlich geworden!«

[S. 244]

Sie hatten das Ende der Gehöfte erreicht. Er blieb stehen, ziemlich weit von den anderen entfernt.

»Aber schließlich müssen wir eben sehen, Fräulein Maxe ... wie wir uns in dem faulen Frieden einrichten! ... Ich bin so froh, daß ich Sie mal wiederseh'! ... Ich denk' oft an Sie!«

Das junge Mädchen wurde etwas blaß.

Er fuhr fort: »Wissen Sie, daß ich manchmal ganz plötzlich über meinen Akten, als Divisionskommandeur und Gerichtsherr und was weiß ich, mir an die Stirne fasse und mich frag': Herrgott — was wird denn nu schließlich mit ihr?«

Sie legte das Haupt in den Nacken.

»Warum zerbrechen Sie sich denn meinen Kopf, Exzellenz?«

»Da haben wir wieder die Exzellenz!« sagte er gottergeben. »Es ist furchtbar! Das ist Ihre letzte Waffe, daß Sie mir die Exzellenz zu Gemüte führen! ... Nee, aber im Ernst ...« Er wurde heftig. »Kind ... wo soll denn das hinaus? ... Haben Sie's denn nicht schon selber dick, so in der Welt herumgeschubst zu werden wie ein Postpaket — mal in Berlin beim Schwager, mal in Straßburg beim Onkel, mal in Darmstadt bei Muttern — so als ob niemand Sie recht brauchen könnte. Und aus Ihnen läßt sich doch so viel machen ... gerade aus Ihnen ...!«

Maxe Ottersleben stand mit festgeschlossenen Lippen. Es war jetzt schon morgenwarm um sie geworden. Die Sonne schien heiß. Tiefblau spannte sich der wolkenlose Herbsthimmel. Olaf von Glümke rang, die Zügel über dem Ellbogen, in seiner Aufregung die Hände.

[S. 245]

»Maxe ... ist Ihnen dies Zigeunerleben nicht gräßlich? Ist Ihnen das nicht zu viel, immer nur zu Gast zu sein bei anderen Menschen? Möchten Sie denn nicht lieber die Füße unter den eigenen Tisch strecken?«

»Das möchte jeder ... wenn er's eben kann!«

»Ja, warum heiraten Sie eigentlich nicht? ... Verzeihen Sie die Frage! ... Sie brauchen nicht so ein frostiges Gesicht zu machen! Ich hab' natürlich nicht das Recht dazu! ... Aber alle Welt wundert sich darüber!«

»Wenn die Leute nichts Gescheiteres zu tun haben ...«

Neben ihnen begann die Stute friedlich auf dem immer noch nassen Boden zu grasen. Olaf von Glümke bemerkte das mit Mißfallen und riß sie an der Trense in die Höhe. Dann fuhr er gedämpft fort: »Sie haben doch natürlich schon Anträge genug gehabt, Fräulein Maxe ... nicht wahr?«

»Ich! ... Ich hab' doch kein Geld ...«

»Ach ... reden Sie doch nicht! Jemand wie Sie ... das weiß ich besser! Sie haben also Ihre Gründe gehabt, weswegen Sie nicht ... Gut! ... Ich ehre das alles! Ich forsche nicht nach! Es ist mir heilig! ... Aber sehen Sie, Maxe: Sie müssen doch auch an Ihre Zukunft denken und nicht nur an Ihre gegenwärtige oder vergangene Stimmung ...«

Maxe von Ottersleben schwieg. Aber sie hörte doch zu. Hörte geduldiger zu, als er gehofft hatte. Er war auf mehr Herbheit und Trotz gefaßt gewesen. Nun schien sie ihm eher weich, beinahe ängstlich. Seine Zuversicht stieg. Er wurde eindringlich.

[S. 246]

»Von solch einer Stimmung können Sie nicht leben, wenn's mal zu spät geworden ist! ... Sich der so hinzugeben, ist ein Luxus, den Sie teuer bezahlen! ... Den Sie einmal bereuen müssen! ... Vielleicht haben Sie sich in ruhigeren Stunden das alles schon selbst gesagt! ... Nein: Antworten Sie mir jetzt nichts! Ich bitte darum! ... Ich will Sie nicht noch einmal überfallen! Ich hab' von damals gerade genug ... Der heutige Tag ist noch lang ... Ich werde Sie am Abend etwas fragen ... Sie haben vollauf Zeit, es sich zu überlegen, Fräulein Maxe ... Jetzt können wir doch nicht weiter reden. Da kommen Ihre Leute ...«

Er ging wohlgelaunt dem Oberst von Ottersleben entgegen und seiner Begleitung und küßte Frau Oberstleutnant Torwart, einer schmächtigen kleinen Dame, die noch in Gedanken an ihren Vater Tränen in den Augen hatte, die Hand.

»Ich bitte, mich jetzt beurlauben zu dürfen, gnädige Frau! Aber nur mit einer Bitte an die Herrschaften alle ... Ihr Zug nach Straßburg geht doch erst gegen Abend! Seien Sie, bitte, vorher zu Tisch meine Gäste ...«

»Ich weiß aber wirklich nicht, Exzellenz ...« begann Herr von Ottersleben.

General von Glümke legte ihm, schon im Sattel, die Hand auf die Schulter: »Nee — nee, mein bester Oberst! Das ist abgemacht! ... Nicht wahr, gnädige Frau? Fräulein Maxe hat auch nichts dagegen! ... Also auf Wiedersehen um fünf!«

Er wartete keine Antwort ab, jagte im Galopp[S. 247] davon. Er saß prachtvoll im Sattel, hochaufgerichtet, ungezwungen, mit langen Bügeln.

Oberst von Ottersleben schüttelte den Kopf.

»Ja, Herrschaften, so 'ne Einladung ist ein halber Befehl. Das hilft nu nichts!«

Neben ihm stand Maxe und sah stumm dem Reiter nach, der in der Entfernung zwischen den zerstreuten Gräbern des Totenfeldes immer kleiner und kleiner wurde und schließlich in einer Talsenkung gegen den Bois de la Cusse hin verschwand.

Er jagte blind dahin, eine Weile so dicht längs der Grenze, daß er jenseits auf dem Feldweg den Dreispitz eines französischen Gendarmen auf kaum hundert Schritt Entfernung sah, durch ein Dorf, rechts der rot-weiß-blaue, links der schwarz-weiß-rote Pfahl, schwarze Elsässer Flügelhauben, grüne Zolluniformen, preußische Pickelhauben in der sonnenflimmernden Weite und da sein Haus in Montigny. In dem angekommen, schickte er ein paar Zeilen an seinen Generalstabsoffizier und dessen Frau und an seinen Divisionsadjutanten mit der Einladung, heute nachmittag auch seine Gäste zu sein, zündete sich eine Zigarre an und atmete auf. Uff! Nun war der Stein im Rollen. Wenn man nur eine Ahnung hätte, ob er die rechte Richtung einschlug. Olaf von Glümke setzte sich, streckte die bespornten Beine weit von sich und nagte tiefsinnig an dem blonden, leise angegrauten Schnurrbart. Im Spiegel drüben sah er sein verwegenes, vom Ritt gerötetes Gesicht. Aber auch die vielen kleinen Fältchen in dessen gesunder Frische. Nun — er war kein Jüngling mehr — und sie wurde sechsundzwanzig. Frage:[S. 248] was war bei ihr heute stärker: Kopf oder Herz? Das mochte der Kuckuck im voraus wissen! ... Er stand wieder auf und fuhr sich mit der Hand zwischen Hals und Kragen. Er war doch wahrhaftig ein Kerl, der den Deubel selber am Schwanz zupfte, wenn es gewünscht wurde, aber jetzt hatte er Angst — lächerliche Angst, vor einem neuen Korb. Und dann sein altes Gottvertrauen: diesmal wird's schon werden ...

Als die Gäste kamen, hatte Exzellenz von Glümke wieder ganz seine weltmännisch sorglose Haltung. Er zeigte ihnen, ehe es dunkel wurde, Haus und Hof, Stall und Park. Da waren die Köter: Bob, der Foxterrier, Pluto, der sanftäugige Vorstehhund, Herr Meier, der Hanswurst und Teckel, mit seinem griesgrämigen Spitzbubengesicht. Und da die Hühner! Sie waren schon schlafen gegangen. Aber er lockte sie durch eine Handvoll Körner, die er sich im Stall aus der Haferkiste holte, wieder von der Leiter. Maxe Ottersleben mußte lachen: ein preußischer General, der Hühner fütterte! Aber er tat es so unbefangen, mit sachlichem Ernst, er erinnerte hier in Hof und Feld, zwischen seinem Getier, so sehr, nicht an einen Würdenträger, sondern an einen einfachen frischen Landedelmann, daß er ihr dadurch menschlich näherrückte, ihr geradezu gefiel. Und er selber hob den Kopf von der Spielerei mit dem Geflügel und nickte ihr zu: »Sie sehen, Fräulein Maxe: ich hab' schon alle häuslichen Tugenden. Ich bin ein Mensch wie ein Kind ...«

Dann führte er die Herren zu seinem kleinen Pistolenschießstand. Es gab etwas ganz Besonderes zu sehen: eine neue Art von Aufsatzspiegel für eine Birschbüchse,[S. 249] die alles Bisherige übertraf. Gerade jetzt, im Zwielicht, ließen sich die Vorzüge des Apparats erkennen. Die Offiziere, alle leidenschaftliche Jäger, umdrängten ihn. Sie stritten und zielten mit ungeladenem Gewehr in die Dämmerung hinein ... Den Damen war es zu kalt geworden. Sie suchten das Haus auf. Nur Maxe Ottersleben stand noch für sich allein, etwas abseits, in dem kleinen Park. Das feuchte Herbstlaub raschelte unter ihren Füßen. Ein schwerer, würziger Hauch stieg aus ihm empor. Vor ihr ging die Sonne unter, dort drüben, im nahen Frankreich. Als glühende Purpurscheibe leuchtete sie, blutige lange Schatten werfend, zwischen den Stämmen. Die erschienen dagegen tiefschwarz. Weiße Nebel umspannen sie, rieselten in leisem Tropfenfall — es war ein Herbstabend wie andere und doch für sie eine unheimliche, atembeklemmende Stimmung und Stille. Sie wußte: nun kam die Entscheidung ...

In einem neuen Anfall der Hilflosigkeit, die sie seit vierzehn Tagen, seit der Rückreise von Berlin, gelähmt hielt, dachte sie sich: Ich bin so einsam. Ich bin so schwach. Viel schwächer, als ich mir einbildete. Das Zusammentreffen mit Logow hat es mich gelehrt. Seit er es gesagt hat, daß er mich ... Das ausgesprochene Wort hat solch eine furchtbare Macht! Es wird zum Herrn, nicht nur des Mundes und Menschen, der es sprach — nein — auch des anderen, der es hörte, wider Willen hören mußte, wie ich! Jetzt ist mir, als gehörte ich zu ihm. Und darf doch nicht. Und will doch nicht! ... Und sträube mich dagegen mit allen Fibern meiner Seele und fürchte mich doch jetzt schon vor der Macht[S. 250] der Stunde, die uns einmal wieder zusammenbringen kann und zusammenbringen muß. Ich brauche eine starke Hand, die mir hilft — die mich hält ...

Sie trat noch weiter in das vom Abendrot purpurschwarz flimmernde Gehölz hinein, blieb wieder stehen und sagte sich: Ich brauche einen Boden unter den Füßen, eine Pflicht vor den Augen, einen Zweck im Leben. Wenn ich den habe, dann kann ich vielleicht auch wieder froh werden! Ich war's seit Jahren nicht. Ich möcht' es so gern. Ich möchte mein Dasein genießen wie die anderen. Und wenn es auch nicht das Glück ist — du lieber Gott, wo ist überhaupt das Glück? ... mein Glück? ...

Ihr Herz stand still. Sie sah vom Haus aus durch das Abendgrauen den General von Glümke auf sich zukommen. Er hatte die Herren hineingebracht und ging, um sie zu suchen. Sein scharfer Blick hatte sie schon erkannt. Er näherte sich ihr rasch und elastisch, hoch aufgerichtet, mit bloßem Kopf. Es war Freudigkeit, Werben in seinem Wesen. Selbstbewußtsein. Er erschien ihr in diesem Augenblick, wo man trotz der Dämmerung den leisen Silberglanz auf seinem blonden Scheitel sah, älter als sonst. Aber gerade das gab ihr ein unerklärliches Zutrauen.

Er blieb vor ihr stehen und sagte: »Ich hab' die Gesellschaft drinnen verstaut! Ein paar Minuten haben wir Zeit. Aber lange nicht ...«

Dann nach kurzem Schweigen: »Fräulein Maxe! Sie wissen natürlich genau, was ich Sie fragen will! Haben Sie es sich überlegt, den Tag über?«

Sie fing heftig an zu zittern.

[S. 251]

Er fuhr fort: »Sonst ... noch einmal dränge ich Sie nicht! Ich will gern warten, bis Sie mit sich ins reine gekommen sind!«

Er harrte, ob sie sich Bedenkzeit ausbitten würde. Als sie stumm blieb, meinte er: »Fräulein Maxe ... Sie sind inzwischen doch auch ein paar Jahre älter geworden! Sie haben Ihren Vater verloren. Sie haben kein Elternhaus mehr. Sie haben den Ernst des Lebens erkannt. Sie haben gewiß in dieser Zeit doch auch mehr als einmal gefühlt, wie einsam man sein kann! ... Sie haben sich gewiß manchmal nach irgendeinem Menschen gesehnt, der es gut mit Ihnen meint. Sie brauchen doch Schutz und Schirm ...«

Es war beinahe dasselbe in seinen Worten, was ihr vorhin die eigenen Gedanken gesagt hatten: das Sich-Flüchten zu einem, bei dem man geborgen war. Sie konnte sich nicht helfen: sie brach plötzlich in Weinen aus. Da merkte er, daß er sein Spiel gewonnen hatte. Er faßte im Halbdunkel ihre Hände und zog sie zu sich heran und sagte: »Und Sie haben doch Ruhe und Frieden und Liebe so nah, Maxe! ... Wenn Sie nur wollen ...«

Drinnen in dem Hause, dessen Fenster hell in die Nacht hinausschimmerten, stockte allmählich das Gespräch zwischen den Gästen. Der Oberst von Ottersleben in seiner Ahnungslosigkeit wurde unruhig. Er stand auf. »Ich muß doch mal sehen, wo unser verehrter Festgeber eigentlich steckt!« sagte er, »und meine Nichte auch!« Zugleich lachte die am Fenster sitzende junge Frau des Generalstabshauptmanns.

»Sie marschieren ja schon die ganze Zeit vor dem[S. 252] Haus auf und ab und erzählen sich was! Arm in Arm!«

»Wer?«

»Exzellenz und Fräulein von Ottersleben! Da sind sie ja!«

Die Tür ging auf. General von Glümke stand triumphierend, mit blitzenden Augen auf der Schwelle.

»Meine Herrschaften! Gestatten Sie: Meine Braut!«

Einen Augenblick war alles sprachlos. Dann entstand ein Durcheinander. In ihm die Stimme des Obersten: »Na, das ist allerdings eine Überraschung!«

General von Glümke schlug ihn auf die Schulter: »Aber 'ne famose! Was? Ich bin so glücklich! Ich möcht' gleich in die Luft springen!«

Er strahlte und wandte sich an Maxe: »Und gefackelt wird nicht? ... Nicht wahr? Wir heiraten gleich. In acht Wochen bist du Exzellenz!«

[S. 253]

12

Aus der Ferne hätte man glauben können, es bellte nur ein einziger, atemloser, riesengroßer Hund durch das herbstliche Schweigen des Waldes. Jetzt, als die Meute in den Anfang der langen Schneise einbog, sah man: es war ein Dutzend Koppeln, vierundzwanzig schwarze Nasen streiften im Dahinschießen das betaute Gras mit der Spur des hindurchgeschleiften Fleischsackes, vierundzwanzig Kehlen wiesen kläffend dem roten Jagdfeld hinter ihnen den Weg, an dessen Spitze der Master galoppierte, mit langer sausender Holzpeitsche das Rudel zusammenhaltend und darüber wachend, daß nicht Roß noch Reiter an ihm vorbeizog und ein achtloser Pferdehuf das kostbare Hundsgebein schädigte.

Der Waldweg, durch den es dahinging, war schmal, zu beiden Seiten von Tannendickicht eingesäumt. Quer über ihn liefen in regelmäßigen Abständen die kunstvoll aufgebauten Hindernisse: eine Hürde nach der anderen. Die Hunde wälzten sich wie eine weiße, schwarz und braun gefleckte Welle darüber hin. In ihr Gejanke klang von hinten der dumpfe Hufschlag. Gaul auf Gaul schnaufte und flog. Und der Generalleutnant von Glümke, der ganz vorn, dicht hinter dem Master, neben dem Onkel seiner Frau, dem Husarenmajor Freiherr von Koninck, ritt, schrie dem lachend durch den Wind[S. 254] zu: »Heute muß die Gesellschaft Farbe bekennen! Sonst mach' ich's immer so, daß die schwächeren Elemente um die Hindernisse herumreiten können. Aber am Hubertustag gibt's kein Pardon!«

Sie waren aus dem Wald hinaus. Die Fährte bog jäh nach rechts, über freies Stoppelfeld. Ein Graben war davor am Wege: beide nahmen ihn, und im gemächlichen Weiterkantern frug der Husar: »Wie lange besteht euer Schleppjagdverein?«

»Das war mit mein erstes, ihn zu gründen, wie ich vor anderthalb Jahren meine Division wechselte und die vierundfünfzigste hier bekam!« sagte Olaf von Glümke. »Drunten im Reichsland ... da ist's ja nichts damit, überall Tabak, Spargel, Hopfen, Wein ... Da könnte man jede Minute stoppen und mit den Wackes den Flurschaden berechnen. Hier, auf unseren ollen ehrlichen Kartoffeläckern hat man doch im Herbst die Ellbogen frei!«

Er streifte sich im Dahinreiten einen Erdbrocken von der Backe, den ihm der Huf vom Gaul des Masters vor ihm ins Gesicht geschleudert. Der Generalleutnant Olaf von Glümke war in den zwei Jahren seiner Ehe nun doch ergraut. Aber es stand ihm vortrefflich: zu dem rosigen Hauch des Gesichts, dem feurigen Blau der Augen dieser silberne Schein. Er verband jetzt Schneidigkeit mit Würde. Wie er da mit seiner straffen Rassegestalt, im roten Frack und hohen Hut, zu Pferde saß, wirkte er wie ein vornehmer Herr, ein Großer des Landes, der vor seinen Gästen meilenweit über eigenen Grund und Boden dahinjagte.

Der Freiherr Wilderich von Koninck war nur zu[S. 255] Besuch von seiner Garnison herübergekommen. Er wischte sich, die Zügel in der Linken, den Schweiß von dem rötlichen, vom Monokel überglitzerten Weingesicht.

»Also bist du mit deinem Garnisonstausch zufrieden?« rief er durch den Heidenlärm der Hunde.

Olaf von Glümke nickte. »Erstens hab' ich da nicht zu fragen, sondern geh dahin, wo's der Allerhöchste Herr befiehlt. Und zweitens: wenn ich meine Frau hab', meine Pferde und meine Division, dann kann mir der Rest der Welt überhaupt gestohlen werden!«

Sie mußten stoppen. Das Gelände war auf eine Strecke hin zu miserabel. Hinter ihnen kam die Jagd heran. Das weite Ackerfeld war rot von Fräcken und bunt von Uniformen. Rappen und Füchse, Braune und Schimmel stürmten um die Wette. Es waren an die vierzig Reiter, zwischen ihnen auch einige Damen. Der General strahlte plötzlich. Er wies auf Maximiliane, die auf einem hochbeinigen, kastanienfarbenen irischen Hunter unter den vordersten Herren die sanft abfallende Fläche heraufgaloppierte, die schlanke Gestalt elastisch im Sattel gebogen, den blonden Kopf gegen den Wind geneigt, die Wangen unter dem Schleier von der Herbstluft gerötet.

»Nu sieh dir mal die Maxe an! Hand aufs Herz, alter Schwede: ist sie nicht einfach famos?«

Wilderich von Koninck, der graue Junggeselle, mußte über den verliebten Ehemann lachen. Aber innerlich gab er ihm recht: die junge, blonde, rotbefrackte Exzellenz im Sattel da hinten war eine entzückende Frau.

Olaf von Glümke ließ das Auge nicht von ihr, voll Stolz: »Und wie sie reitet! ... Furcht kennt sie nicht![S. 256] Vor zwei Jahren, wie wir heirateten, da hatte sie noch nie im Sattel gesessen. Du weißt: ihr Vater, der olle Ottersleben, war nicht sehr für die Gäule! Der hielt's nur mit dem Schießen! Aber sie hat's spielend nachgelernt.«

Sie konnten jetzt schon wieder traben. Die Hunde waren unsichtbar. Man hörte sie nur hinter einem dicken Buschwald. Die ganze Gegend war voll Hecken und eingeschnittene Bäche.

»So ungefähr sah das Vergnügen in Lothringen aus!« sagte Olaf von Glümke zu dem Husaren. »An sich ist's ja eine Ehre, in Metz auf Vorposten zu stehen! ... Aber 's war für mich auch noch ein besonderer Grund, der mir das Scheiden erleichterte: mein Schwager Logow! Du weißt: den haben sie bald nach meiner Heirat doch als Hauptmann und Kompaniechef in so ein verfluchtes lothringisches Grenznest versetzt! ... Da sitzt der Mann nun — in einer Gegend, in der sich tatsächlich Fuchs und Wolf gute Nacht sagen!«

»Ein verfluchter Sprung — vom Generalstab in Berlin!«

»Na ... sollte sich lüften! ... Macht auch nichts! ... Eine Weile Frontdienst tut immer gut. Ich bin auch Frontsoldat. Ich möchte jetzt noch beinahe heulen, wenn ich mich hinsetzen und Berichte schreiben muß. Aber glaubst du, der Logow oder seine Frau hätten je in den vier Monaten, die ich nach unserer Hochzeitsreise noch in Metz war, den Weg zu uns gefunden? Oder sonst was von sich hören lassen?«

»Nanu?«

»Schnitten uns! Schnitten uns nach allen Regeln[S. 257] der Kunst! Was wir ihnen getan haben, wissen die Götter. Schließlich: er war ja nicht in meiner Division. Aber ich bin General und er Hauptmann. Man kam sich schon ganz dumm vor, wenn man nach den sonderbaren Leuten gefragt wurde!«

Olaf von Glümke schüttelte sich, mit einer flotten Kopfbewegung, die ganze Geschichte aus dem Sinn. Wozu auch Grillen fangen? Über einem war der Himmel blau, die Mittagsonne vergoldete heiß die Heide, dort bellten die Hunde, da war seine Frau, das Leben war so schön! Er drückte sich die Hutkrempe fester in die Stirne und sprengte wieder zum Galopp an.

»Nu kommt der Hauptspaß! Das Hubertushindernis! Da: beim Försterhaus!«

Das Gebäude lag einsam im Walde. Ein umfriedeter Obstgarten davor. Die Meute sprang mit den Vorderpfoten an den Rand der Steinmauer, arbeitete sich hinüber und verschwand. Hinterher die ersten Pferde. Freiherr von Koninck sah sich ratlos zwischen den Bäumen.

»Gerechter Strohsack — wo geht's denn weiter?«

»Da, mitten durchs Haus!« Der Generalleutnant strahlte. Das hatte er sich so ausgedacht und dem Förster dafür hundert Mark gegeben. Er hob warnend die Hand. »Achtung! ... Bücken! ... Nicht oben anstoßen!« Die Hufe der Pferde donnerten auf den Backsteinen des Flurs, als wäre man mitten in einer feuernden Batterie. Schattenhaft flogen Dinge vorbei — Hausgerät — ein paar Kindergesichter hinter dem verschlossenen Küchenfenster. Dann führte es auf der anderen Seite durch das breite Tannentor wieder ins Freie. Der Obstgarten[S. 258] hinten war rot von Reitern. Immer neue flogen herüber. Die Backsteinsplitter der Mauer deckten weithin das Gras. Jenseits von ihr war Geschrei und Gelächter. Helle Damenstimmen dazwischen. Ein paar Rosse waren abgeschrammt und wollten nicht über das Hindernis. Ein dicker Herr saß auf dem Boden und hielt krampfhaft an langen Zügeln sein Roß fest, das sich um ihn drehte, als wollte er's longieren. Ein Fähnrich stand neben seinem Rappen und rieb sich mit schmerzlicher Heiterkeit das Schlüsselbein, das seinen ersten Knacks in seiner Kavalleristenlaufbahn abbekommen hatte. Über das Feld hin lief eilig ein reiterloser Gaul in der Richtung auf die Stadt, als habe er dort dringend im Stall zu tun. Vor dem Engpaß des Hausflurs staute es sich in einem Gedränge, daß man nur noch im Schritt hindurchreiten konnte. Von drüben hörte man die dumpfen Hufschläge des Angaloppierens. Es galt, den niederen, schon vielfach zersplitterten Staketenzaun am Weg zu nehmen. Der General von Glümke war schon drüben. Da sah er seine Frau, im Begriff, das Hindernis zu überspringen, und machte eine plötzliche abwehrende Bewegung.

»Nein — du nicht ... Reite lieber ganz langsam hier durch die Lücke!«

Einen Augenblick zuckte es in ihr von Reiterlust. Dann gehorchte sie ohne Besinnen. Man sah: sie war es gewöhnt, sich ihm vertrauensvoll unterzuordnen.

»Du — warum soll ich denn auf einmal den Drückeberger spielen?« frug sie lachend im Herankommen.

Sein scharfes Auge haftete prüfend an den Beinen ihres Braunen.

[S. 259]

»Die ›Griseldis‹ lahmt! ... Da ... jetzt sieht man's. Ganz deutlich! Du kannst nicht weiter reiten, Kind! Das Biest gehört schleunigst in den Stall. Hilft nichts! ... Marsch! Wir müssen heim!«

Sie sah die Betrübnis auf seinen Mienen. Es tat ihr leid, daß er seine geliebte Hubertusjagd, auf die er sich seit Wochen gefreut hatte, nicht zu Ende reiten sollte.

»Schau, daß du den anderen nachkommst!« sagte sie. »Die haben schon einen mächtigen Vorsprung! Da ... Herr Gutgesell begleitet mich gewiß gern nach Hause!«

»Selbstverständlich, Exzellenz!«

Der Divisionsadjutant, Major Gutgesell, verbeugte sich im Sattel. Olaf von Glümke ließ sich das nicht zweimal sagen. Der Jagdeifer zitterte in ihm und seinem Gaul. Er gab dem mächtigen Wallach den Kopf frei und schoß, gleich einem roten Blitz, durch das krachende Unterholz hinter dem Felde her, das gottlob gerade eben vor einer jähen Bodensenkung den Galopp verlangsamte.

»Gruß an Mama!« schrie er noch zurück und dann lachend zu dem Major von Koninck, der bis dahin auch bei seiner Nichte geblieben war: »Komisch: so ein alter Kerl wie ich und noch 'ne Schwiegermutter! ... Aber ich komm' ganz gut mit deiner Schwester aus! Wir haben sie schon vier Wochen zu Besuch!«

»Na — natürlich hat sie vor dir einen Heidenrespekt!«

»Vor mir nicht den geringsten!« sagte der General von Glümke kaltblütig. »Aber die Maxe ... die imponiert ihr! Denk mal: drei Töchter — die eine 'ne[S. 260] kleene Hauptmannsfrau, die andere 'ne kleene Leutnantsfrau, und nun die mittelste, dies vermeintliche Entenküken, Exzellenz! ... Nee — sie ist wie Zucker! Ich kann nicht klagen!«

Sie kamen eben noch bei dem Abstoppen zurecht und mischten sich unter die Rotröcke. Dann verlor sich das ganze Hussa und Hallo über den Kamm abwärts, und es wurde totenstill, während Maximiliane von Glümke und ihr Begleiter im Schritt den Rückweg antraten. Eine halbe Stunde ging es. Da hielt sie an und ließ sich von ihm aus dem Sattel helfen.

»Die ›Griseldis‹ quält sich zu sehr! Am besten ist's, Sie reiten voraus und holen für mich einen Wagen. Ich warte unterdessen hier!«

Der Divisionsadjutant gehorchte und sprengte davon. Maximiliane ließ sich auf einem durchsonnten Baumstumpf am Rande einer Lichtung nieder. Das Pferd stand friedlich neben ihr, mit langen Zügeln an einer Wurzel am Boden befestigt, und graste. Es war eine tiefe, feierliche Ruhe umher. Ganz in der Ferne lärmte und krächzte ein Flug Holzhäher in alten Eichen. Dann verlor sich auch das. Manchmal ein leises Schnauben des Gaules und wieder die traumhafte Stille, so unwahrscheinlich für die Ohren, in denen immer noch Hufschlag und Hundegebell nachzitterten, um die immer noch der Wind zu fegen schien, während doch da draußen in der lauen, unbewegten Luft die weißen Sommerfäden kaum merklich dahintrieben und höchstens einmal ein leises Zittern durch die braunen und bunten Blätter ging. Silbern spannte sich der Himmel. Die Sonne schien, nicht mehr mit sengender Glut, nur milde und[S. 261] wärmend. Und die Seele der jungen Frau, die ruhig, den blonden Kopf gesenkt, in ihrem leuchtendroten Frack und dunkeln Kleid, die Hände im Schoß verschlungen, auf dem Baumstumpf saß, war wie ein Widerschein dieses Herbsttags, klar und heiter. Es war ihr neu, diese plötzliche Einsamkeit. Sie konnte sich kaum erinnern, seit langem je so mit sich allein gewesen zu sein, immer waren in diesen zwei Jahren ihrer Ehe Menschen um sie gewesen, immer etwas los, immer schlang sich das Morgen an das Heute, in ewiger glitzernder Kette. Zum Besinnen war eigentlich nie Zeit an der Seite eines so ungestüm lebenden Mannes wie Olaf von Glümke. Der riß einen mit sich fort. Man mußte die Augen zumachen und lachen und sich dahintragen lassen. Es war wie eine einzige wilde Jagd. Es war auch gut so. Zum Kopfhängen war da kein Platz. Und kein Grund. Und gar keine Lust ... Sie hatte ihren Mann. Er war immer da. Sie hätte ihn hier an ihrer Seite haben können, wenn sie gewollt hätte. Und so würde es bleiben, so lange er lebte. Man war so geborgen bei ihm. Man stand neben ihm hoch über der Menge. Man hatte Grund, dem Schicksal dankbar zu sein.

Der Gaul erschrak über etwas und machte einen Sprung am Zügel. Sie hob ärgerlich den Kopf und rief: »Steh still, du alte Rammsnase!« Sie war böse auf das Tier, daß es ihr das Jagdvergnügen gestört hatte, und gestand sich gleich darauf selber: wenn einem so was noch Kummer bereitet, dann hat man wirklich keine großen Sorgen im Leben! — Ihre Züge wurden dabei ernster. Sie saß mit halbgeschlossenen Lidern[S. 262] und träumte. Es war so wundersam, dieser Frieden, diese Einkehr, dies Schweigen im Walde. Es war wie eine verwunschene Welt. Die Gegenwart weg. Man schaute hellsehend auf sich und sein bißchen armen krausen Lebenslauf zurück und konnte die Hände falten und sich in der Stille sagen: ›Gottlob — ich hab' mich nicht in mir verzehrt! Ich hab' die Kraft gefunden, über mich und meinen Schmerz hinauszukommen. Das Irren und Sehnen liegt hinter mir. Ich hab' begraben, was mir nicht beschieden war. Mein Mann ist mir nah. Ich steh' mit beiden Füßen fest im Leben, und meine Augen sind klar.‹

Aus der Ferne tönte, rasch näherkommend, das Rollen eines Jagdwagens. Der Major Gutgesell lenkte ihn selbst. Ein Bursche mit einer Stalldecke saß hinten. Maximiliane von Glümke fuhr sich mit der Hand über die Wimpern und wurde wach. Und während sie sich elastisch erhob, atmete sie tief auf und sagte sich noch einmal: »Ja. Es war besser so. Tausendmal besser!«

Zu Hause eilte sie, so wie sie war, das kurze Reitkleid raffend, in hohen Stiefeln und Sporen, den Hut schief auf den zerzausten blonden Haaren, aus denen die Hälfte der Nadeln beim Galoppieren herausgeflogen war, den dünnen Reitstock in der Hand, hinüber in das Gastzimmer zu ihrer Mutter und rief schon beim Eintreten: »Was hör' ich denn da, Mama? Die Leute sagen, du packst? Was ist denn passiert?«

Frau Oberst von Ottersleben war in den Jahren nach dem Tode ihres Mannes, seitdem nicht mehr die Sorgen des großen Hausstandes auf ihr lasteten und[S. 263] die Kinder alle untergebracht waren, eher jünger geworden. Sie hatte noch die hohe, schlanke Gestalt ihrer Tochter und sah mit ihren verwitterten, aber vornehmen Zügen so aus, als sei sie in ihrer Jugend ebenso schön gewesen wie jene. Sie nickte, neben einem offenen Koffer stehend, der jungen Exzellenz zu. »Ich bin zu besorgt, Maxe ... Vorhin ist ein Brief von Ulla gekommen. Sie schreibt, es gehe ihr seit ein paar Tagen ganz elend! Oder vielmehr — sie schreibt nicht selbst. Es ist eine fremde Hand. Nicht die Erichs. Sie diktiert offenbar einer Pflegerin. Das ängstigt mich zu sehr! Wenn sie dort schon so weit sind ...«

»Mama ... Ulla fehlt doch immer etwas!«

»Ja, aber das klingt diesmal anders, Maxe! Ich kann mir nicht helfen ... Ich fahr' mal hin!«

Frau von Ottersleben packte weiter.

»Ihr Mann klagt doch immer, daß sie mit ihrer Gesundheit so dumme Streiche macht!« meinte sie dabei. »Es ist ja überhaupt eine unselige Ehe! ... Wenn ich an die stillen, zufriedenen Grotjans denke ... Oder nun gar an dich ... Man muß nur nicht unfreundlich gegen seine Geschwister sein, wenn man so hoch gestiegen ist wie du. Dann gerade nicht!«

»Das liegt auch wirklich nicht in meiner Art, Mama! Sag mir nur, wo ich helfen kann!«

»Ach ... helfen ... Kind ... nur ein gutes Wort mal an rechter Stelle ... Ein wenig freundliches Entgegenkommen ... Sieh mal ... Den Logows geht
es wirklich nicht gerade gut. Sie sitzen da in einer Garnison, die schauerlich ist — und vielleicht auf lange Jahre ... Denn wer weiß, ob Erich je wieder in den[S. 264] Generalstab zurückkommt? Mir scheint, seine Aktien stehen nicht sehr günstig ...«

»Auf das alles kann ich doch keinen Einfluß nehmen, Mama ...«

»Nein ... ich meine nur ... Wenn ich jetzt hinkomme, könnte ich vermitteln ... Du könntest den ersten Schritt tun ... ihnen die Hand hinhalten ... denn es ist doch irgend etwas vorgekommen ... Es muß etwas gewesen sein zwischen euch ...«

»Nicht das Geringste!«

»Aber ihr habt euch doch seit zwei Jahren, seit Ottos Hochzeit, nicht mehr gesehen ...«

»Kann ich dafür? Von ihrer Garnison nach Metz waren es zwei Stunden Eisenbahnfahrt. Sie sind nie gekommen. Ich hab' im Lauf der Zeit dreimal an Ulla geschrieben. Sie hat nie geantwortet. Ja, ich kann ihnen doch nicht nachlaufen!«

»Freilich nicht!« pflichtete Frau von Ottersleben bei. Sie war schließlich immer der Meinung der Tochter, die sie jetzt als das eigentliche Familienhaupt betrachtete. Sorgenvoll fuhr sie mit ihr zum Zug und freute sich doch in ihrem Mutterstolz über die ehrerbietigen Blicke, die sich von überallher auf die blonde Exzellenz richteten. Die stand auf dem Bahnsteig und winkte ihr nach. Und mit dem rasch kleiner werdenden, in die Dämmerung hinausrollenden Wagen flogen auch Maximilianes Gedanken noch einmal hinüber in das Reichsland. Aber das war so fern. Die Vergangenheit dort in der Weite schlief. Die Maxe Ottersleben von einst war tot. Um sie war die Gegenwart. Und die Gegenwart hatte recht. Die schöne junge Generalin von[S. 265] Glümke hatte ihren Wagen vorausgeschickt und schritt zu Fuß durch das Menschengewimmel der Straßen nach Hause. Die Damen, die ihr begegneten, neigten eilig zuerst den Kopf, die Offiziere grüßten in jähem, beinahe dienstlichem Zusammenfahren, die Herren vom Zivil mit tiefem Hüteabnehmen. Die Geschäftsinhaber verbeugten sich in ihren Ladentüren, Stadträte machten im Vorbeigehen ihren Bückling, Dienstmänner und Droschkenkutscher lüfteten ihre roten Kappen und weißen Zylinder — sie war die erste Dame nicht nur der Garnison, sondern der ganzen großen Stadt. Denn der Regierungspräsident, der dem Divisionskommandeur im Range gleichstand, war Witwer.

Ein Krümperwagen mit einem Dragoner auf dem Bock rasselte vorbei. Innen saßen, dicht aneinandergeduckt, ein paar der Rotröcke in dicken Mänteln, mit hochgeschlagenen Kragen, und eine kleine, in einen Automobilpelz eingemummelte Blondine. Die Jagd war zu Ende. Frau von Glümke blieb stehen und rief mit ihrer hellen Stimme: »Liebste Mensingen ... Ist mein Mann schon zurück?«

»Eben ist er in Ihr Haus, Exzellenz!« klang es aus dem Pelzgewirr.

Maximiliane eilte sich, heimzukommen. Oben auf der Treppe traf sie den General und fiel ihm lachend um den Hals. Er küßte sie zärtlich. Er war in rosigster Laune. Die Hubertusjagd war herrlich verlaufen. An Akzidents nur ein angeknicktes Schlüsselbein und ein gequetschter Knöchel. So fiel kein Schatten auf den Ball heute abend.

»Da wirst du die Schönste sein,« sagte er strahlend.[S. 266] »Immer bist du die Schönste! ... Was? Mama ist abgereist? So — so? Na ... Das ist nu ja recht schade!«

Er heuchelte Kummer über die fehlende Schwiegermama. Er baute als Militär dem fliehenden Feind goldene Brücken. Innerlich dankte er seinem Schöpfer, daß er mit Maxe wieder allein war. Er faltete vor Entzücken die Hände, als er sie ein paar Stunden später in ihrem Ballstaat vor sich sah, in einem ausgeschnittenen schwarzen Seidenkleid, das, mit einem zarten Rankengeflecht weißer Rosen bemalt, ihre blonde Schönheit umschloß.

Maximiliane hatte ein paar fast gleichaltrige Freundinnen unter den höheren Chargen der Garnison. Der Zufall wollte es, daß Frau Generalmajor Klober erst zu Mitte der Dreißig stand, und Frau Oberst von Mensingen sogar noch ein paar Jahre weniger zählte. Die jungen Spitzen der Gesellschaft bildeten auf dem Ball eine Ecke, Hauptmanns- und Leutnantsfrauen um sie herum. Und in dem Gefächel und Geschwatze eine ewige Reihe von Anliegen, Bitten, kleinen und großen Sorgen und Noten, die sich an Maximiliane drängten. Eine grauhaarige Matrone hielt ihre Hände fest und dankte herzlich: »Es ist wirklich zu gütig, Exzellenz, wenn Sie meine Tochter mit zum Ball des Kommandierenden nehmen! Das wird das arme Kind ein bißchen aufheitern! Exzellenz wissen ja ...«

»... daß man den nicht immer kriegt, den man haben möchte!« sagte Maxe leise. »... Ja ... leider ... das ist der Lauf der Welt.« Sie wandte sich zu einer[S. 267] anderen. »Ja — natürlich komm' ich zur Einsegnung Ihrer Grete — das fehlte noch! ...« und nickte dann einem jungen ernsten Offizier zu, der sie schweigend, fast ängstlich ansah. »Ich denke, wenn Sie durchaus auf acht Wochen nach England zu Studienzwecken müssen, wird man höheren Orts wohl nichts dagegen haben!« Und noch im Weggehen fügte sie lachend und leise hinzu: »Aber zu Ihrer Hochzeit mit Miß Jones laden Sie mich dann ein, Herr von Petersheim! Das bitt' ich mir aus!«

»Maxe ... du mußt das Protektorat über den Basar am Fünfundzwanzigsten übernehmen!« rief Frau Klober ihr entgegen, als sie zu den Damen zurückkehrte, und die Generalin von Glümke seufzte: »Kinder ... ich glaub', es ist dies Jahr schon der elfte! Und drei Tage später drüben der Ball beim Oberpräsidenten! Da gehen immer zwei Tage drauf, mit der Eisenbahnfahrt und dem Übernachten! Der Divisionsball dort steht auch noch aus. Ich kann mich doch bald auf mein Zimmer Nummer Fünfundvierzig im ›Deutschen Kaiser‹ abonnieren.« Sie setzte sich und strich sich die rosenbemalten Seidenfalten ihres Rockes glatt. »Wißt ihr, wieviel Leute ich den Winter einladen muß? Nicht will, sondern muß? Ratet mal: Vierhundertelf! Angenehm? Nicht? ... Nächste Woche hab' ich die Regierung bei uns ... Herrenessen ...« Sie drehte das blonde Haupt zu einer Dame, die hinter ihr stand. »Ja natürlich, Liebste, geb' ich den großen Saal in unserer Dienstwohnung zur Tanzstunde! Schickt nur eure Lämmer! ... Aber nachgerade wird's mir schon ein bißchen schwubblig!«

[S. 268]

»Wart nur, bis du erst Kommandierende bist!« meinte die Generalin Klober, und Maxe lachte und spitzte die Lippen.

»Tü — tü ... um Gottes willen, beruf's nicht! Wenn das mein Mann hört ... Der ist darin abergläubisch wie ein Türke ... vorläufig bin ich auch so zufrieden!«

»Das glaub' ich!« sagte Frau von Mensingen zu ihrer Nachbarin. »Noch nicht achtundzwanzig und schon zwei Jahre Exzellenz ...«

Die Nacht war weit vorgerückt. Ein feiner Hauch von Staub, ein Zittern von Hitze, eine helle Flut von Licht lag über dem Wiegen der Walzertakte, dem Wirbeln und Schleppenfegen der Paare. Maximiliane von Glümke tanzte, von der Jagd noch müde, weniger als ihr Mann. Sie sah seinen ritterlichen Graukopf drüben im vollen Trubel.

Eigentlich war das Fest schon zu Ende, der Schlußgalopp getanzt, die meisten brachen auf. Aber Olaf von Glümke hatte noch lange nicht genug. Er etablierte mit seiner Frau, deren Freundinnen und der jungen Welt eine Kaffeeecke. Aus dem Kaffee wurde unter seinen Händen Sekt. Immer neue Flaschen! ›Herrgott, Kinder — nu mal los! Nur keine Müdigkeit vorgeschützt! ...‹ Seine Augen blitzten. Er lachte. Er trank den Damen zu. Er schwatzte Unsinn. Der Morgen graute schon, als man endlich nach dem Bahnhof schickte, um Nachtdroschken zu holen. Denn ehe er die eigenen Pferde im Winter stundenlang warten ließ, wäre der General lieber mit seiner Frau zu Fuß im Schnee heimgegangen.

[S. 269]

Im ersten Dämmern fuhren sie durch die menschenleeren Straßen nach Hause. Er sprach unterwegs in einem fort. Er war unermüdet. Der anstrengende Tageslauf — gerade jetzt vor vierundzwanzig Stunden heraus — ein Morgenritt über die Exerzierplätze der verschiedenen Waffen, Aktenarbeit mit dem Adjutanten, die Hubertusjagd, wieder nachmittags Schreibwerk mit dem Generalstabshauptmann und nun der Ball — das alles war beinahe spurlos an seiner Elastizität vorübergegangen.

Sie hatten ihre Dienstwohnung erreicht. In der Vorhalle lag eine uneröffnete Depesche. Exzellenz von Glümke hauchte den verschlafenen Burschen an.

»Warum hab' ich die nicht gleich nachgebracht gekriegt — he? Du möchtest wohl abgelöst werden, mein Sohn? ... Du sehnst dich wohl danach, draußen mal wieder so recht nach Herzenslust Griffe zu kloppen — was?«

»Nein, Exzellenz!«

»Na — dann ab!« Der General öffnete das Telegramm. Sein Gesicht wurde ernst. Er reichte das Blatt seiner Frau.

Sie las: »Bin soeben hier angekommen. Finde Ulla zwischen Tod und Leben. Plötzliche schwere Lungenentzündung. Mama.«

Die beiden Gatten sahen sich stumm an. Dann sagte er: »Ja — da hilft nichts! Wie sich die Logows sonst zu uns gestellt haben, das ist in so 'nem Moment ganz egal! Du mußt hin ... Schon, um deine Mutter in einer so schweren Stunde nicht allein zu lassen! ... Ich kann dich beim besten[S. 270] Willen nicht begleiten, mit der Rekrutenvereidigung morgen ... Ich komme, so bald ich kann, nach ...«

Er sah seine Frau forschend an. Es wunderte ihn, daß er ohne Antwort blieb. Aber da versetzte sie schon ruhig: »Du hast recht! Da gibt's keine Wahl. Ich fahre mit dem nächsten Zug.«

[S. 271]

13

Spät am Nachmittag hielt der Eilzug zum Wagenwechsel an einer winzigen elsässischen Station. Von hier führte eine kleine Stichbahn in das Vogesental hinein. Langsam rollten die Wagen dahin. Durch die vom Regen blinden Scheiben glitt vor Maximiliane von Glümke schattenhaft draußen das graue Land vorbei, auch jetzt noch, im trüben Herbstdämmern, südlicher als sonst das Deutsche Reich. Kahle Rebengelände, entblätterte Edelkastanien, Fabrikschlote, auf den Bahnhöfen deutsche und welsche Leute durcheinander — man war hier kaum weiter als eine Stunde von Frankreich entfernt. Es troff immer dichter vom Himmel. Es war kalt. Die junge Frau schloß ermüdet die Lider und fuhr aus dem Halbschlaf wieder empor und schaute um sich und frug: »Herrgott — wo bin ich denn?« Und dann wußte sie es wieder: dieser weltverlassene Flecken da vor ihr im nebligen Talkessel, dem sich die Lokomotive in fortwährendem, aufgeregtem Pfeifen näherte, mit seinen mächtigen, funkelnagelneuen, ziegelroten Kasernen und den paar Offiziersvillen dicht dabei und der weiten, kahlen, pappelumstandenen Fläche des Exerzierplatzes da drüben, das war die Garnison der Logows in den Vogesen.

Sie hatte ihnen ihre Ankunft nicht gemeldet. Niemand[S. 272] empfing sie. Auch kein Wagen war zu finden. Sie ließ ihr Gepäck auf der Bahn und schritt zu Fuß im Regengeriesel den kotigen Weg über die Felder zur Stadt.

Ein Gendarm kam ihr entgegen, lang, mager, schnauzbärtig, wie die Verkörperung preußischer Zucht in diesem Lande. Sie frug ihn nach der Wohnung des Hauptmanns von Logow. Er wies ihr die zweite der vier oder fünf Villen am Wege. Regenverwaschen, mit offenem Gittertor und herbstlich ödem Vorgarten lag dieses kleine Haus freudlos da. Zwei Damen traten aus der Tür, offenbar Offiziersfrauen, die sich nach dem Befinden der Patientin erkundigt hatten, und warfen den neugierigen Blick von Kleinstädterinnen, die plötzlich ein fremdes Gesicht sehen, auf Maximilianes elegante Erscheinung. Sie schritt an ihnen vorbei in den Flur. Ihre Mutter hatte sie vom Fenster aus gesehen und kam ihr entgegen.

»Wie geht's, Mama?«

»Immer gleich! Vor morgen, sagt der Stabsarzt, kann man nichts wissen! ...«

»Ist Erich da?«

»Nein. Im Dienst! Was soll er auch hier? Wir können nichts tun als warten. Aber leg doch ab, Kind.«

Es dämmerte in den niederen Wohnräumen. Die junge Generalin setzte sich ermüdet hin. Ihre Mutter ging ab und zu, um Kaffee für sie zu besorgen. Inzwischen sah sie sich stumm in Erich von Logows vier Wänden um. Sie kannte alle diese Dinge: die Rehgehörne und Waffen, das altväterische Schreibpult, die Büsten Napoleons und Friedrichs des Großen, die[S. 273] Briefbeschwerer und Granatsplitter wurden lebendig. Sie flüsterten von der Vergangenheit. Die Lampe auf dem Tisch erzählte von stillen Mitternachtstunden in Berlin. Das war schon so endlos lange her — scheinbar ein halbes Menschenleben und mehr. Es war alles so anders geworden — so seltsam. Maximiliane dachte sich: Was machen die beiden nur, Erich und seine Frau, hier, ganz aufeinander angewiesen? Ulla hat keine geistigen Interessen. Sie ist nicht musikalisch. Sie treibt keinen Sport. Sie ist nur schön. Und dazu braucht sie einen anderen Hintergrund als diesen weltfernen Vogesenwinkel. Um den herum schweigen die Wälder, der Wind pfeift, der Regen rauscht, auf dem Exerzierplatz blasen und trommeln die Spielleute, von den Schießständen kommt ein ferner Knall nach dem anderen — sonst dringt kein Laut von außen in diese Herbsteinsamkeit. Hier müssen zwei einander schon sehr, sehr lieb haben, damit ihnen die Tage nicht lang werden. Erich hat ja noch seinen Dienst, seine Kompanie. Aber trotzdem ... auch seine militärische Laufbahn hat er sich anders, ganz anders gedacht ...

Womit beschäftigte er sich wohl, wenn er nicht seine Leute drillte oder auf die Jagd ging? Sie trat an den Schreibtisch. Auf dem lag eine aufgeschlagene spanische Grammatik. Wie kam er gerade auf diese Sprache, die für die deutsche Armee doch völlig belanglos war? Nebenan am Boden lehnte der große Andrésche Handatlas. Er war bei der politischen Karte von Südamerika aufgeklappt. Sonderbar. Sie wandte sich ab und schaute durch das Fenster. Weit drüben bogen sich die Zypressen des Kirchhofs im Sturm. Es fiel[S. 274] ihr ein, daß die Logows dort vor dreiviertel Jahren ihr einziges Kind begraben hatten. Es hatte nur vierzehn Tage gelebt. Es war schon wahr: sie fanden hier nicht Glück noch Stern! Und wer mochte wissen, wie lange sie hier noch bleiben mußten und ob man ihn je wieder in den Generalstab oder die Adjutantur berief. Das hier, das war so recht ein Ort zum Vergessenwerden ...

Nebenan lag still die kranke Frau. Maximiliane hatte ein paarmal behutsam durch die Türspalte hineingeblickt. Sie hatte das schlafende, schöne Antlitz geschaut, das jetzt in der Fieberröte so unheimlich verändert und belebt aussah. Sie drückte leise wieder die Klinke zu und begann sich nützlich zu machen. Sie schrieb einen Stoß Depeschen und Briefe an die Verwandten und trug sie selbst in das Städtchen hinein, auf die Post. Dann kehrte sie auf demselben Weg zurück. Dabei erschrak sie plötzlich. Sie ging über das freie Feld, der Exerzierplatz lag weitab zur Linken. Ein Fußpfad führte von ihm herüber. Auf ihm näherte sich ein Offizier. Sie erkannte den Hauptmann von Logow. Er schritt rasch und gleichmäßig dahin, den Blick am Boden, dessen lehmige Wasserlachen seine hohen Stiefel bis zum Knie bespritzten. Der Regen schlug ihm gerade in das strenggeschnittene, finstere, schnurrbärtige Gesicht. Er achtete nicht darauf. Er sah auch, in seine Gedanken versunken, Maximiliane noch nicht. Sie hätte noch umdrehen können. Aber sie sagte sich entschlossen: ›Wozu? Einmal müssen wir uns doch begegnen!‹ und setzte ruhig ihren Weg fort.

Da riß er plötzlich die Augen auf, machte halt und starrte sie an wie einen Geist, der im Zwielicht aus[S. 275] Nebel und Regengrau vor ihm aufgestiegen war. Er stand da. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Sie gab ihm die Hand.

»Guten Tag, Erich! Ich bin lieber gleich einmal herübergekommen! Gottlob ist es ja nicht schlimmer geworden ...«

»Nein! ... Bis jetzt nicht ...«

Sie gingen zusammen weiter. Sie schwiegen beide. Ein stöhnender Windstoß glitt über sie. Nässe umsprühte sie. Am Himmel flogen die Regenwolken, hingen schwer zu Tal. Ein altes Schloßgemäuer schimmerte grau und zerfallen hoch oben am Berghang. Es war schon halb verschwommen. Alle Dinge umher schattenhaft, unwirklich im Nahen der Nacht ...

Er erzählte von Ulla und ihrer Krankheit in einer kalten, trocken-sachlichen Art. Dann brach er plötzlich geistesabwesend ab und schaute von Maximiliane weg ins Leere, so müde, wie sie es an ihm nie gesehen. Eine Hauptmannsfrau seines Regiments kam ihnen entgegen. Er sprach mit ihr beiseite. Seine Schwägerin hörte seine Bitte, ihm doch eine Matratze oder so etwas zu schicken, daß er sich für die Nacht irgendwo auf dem Boden ein Lager machen könne. Sie hätten das ganze Haus voll — Schwiegermutter, Schwägerin, die Barmherzige Schwester — er wisse nicht mehr, wo ihm der Kopf stehe ...

Er tat ihr so leid, mit diesen Lasten des Alltags, die ihm wohl auch in Ullas gesunden Zeiten niemand abnahm. Da vor dem Hause stand schon wartend der Feldwebel mit seiner Brieftasche. Eine Sekunde war Erich von Logow bei seinem Anblick nervös. Dann[S. 276] sagte er mit dienstlicher Ruhe: »... Abend, Krause! ... Morgen ist Sonntag ... Also nur nach dem Kirchgang Appell im Ausgehanzug. Dazu Herr Oberleutnant Kupper. Ich für meine Person möchte gern morgen etwas Ruhe. Ist die Schießkladde drinnen? Der Strafrapport für den Monat auch? ... Schön! ...«

Der Feldwebel machte linksum kehrt und verschwand schweren Schrittes im Dunkel der Nacht, die nun schon alles umhüllte. Nur vor dem Eingang der Villa zitterte das Licht einer Laterne. An der schritten sie beide vorbei und wieder zurück, ein-, zweimal. Er konnte sich nicht entschließen, mit ihr einzutreten. Er kämpfte mit sich. Plötzlich blieb er stehen und versetzte hastig: »Bevor du mein Haus betrittst, Maxe ... und mir damit einen Vertrauensbeweis gibst, den ich eigentlich nicht um dich verdient hab' ... Ich hab' nicht gedacht, daß du dich je so weit überwinden könntest, noch einmal zu uns zu kommen ... Also vorher bin ich dir etwas schuldig: Ich bitte dich um Verzeihung ... Wegen damals ... Ich war wie verrückt ... Ich versteh' es jetzt selbst nicht mehr ...«

Er hielt inne und setzte dann stockend, aber entschlossen hinzu: »Jetzt hab' ich mich besser in der Gewalt! Man lernt manches! Das Leben macht einen mürbe! Ich gebe dir mein Wort: es kommt nicht wieder vor! ... Mit keinem Blick und mit keinem Ton. Du kannst ruhig mein Gast sein. Verzeih mir!«

Maximiliane von Glümke erwiderte nichts. Sie ging einfach vor ihm ins Haus. Unter der Laterne sah sie auf der Türschwelle, daß er ganz rot geworden war. Da färbten sich plötzlich auch ihre Wangen. Sie[S. 277] blickten einander nicht mehr an. Stumm traten sie in den Flur und von da auf den Fußspitzen in das Krankenzimmer. Ulla lag noch immer apathisch, mit fieberheißem Kopf da. Ihre großen dunklen Augen waren offen. Sie ruhten mit einem schläfrigen, undurchdringlichen Glanz auf dem Paar am Bettende. Niemand konnte sagen, ob sie die beiden erkannte oder nicht. Es schien doch nicht der Fall. Sie seufzte plötzlich tief auf, wie von Schmerzen geplagt, und wurde unruhig. Die Wärterin huschte wie ein Schatten aus dem Dämmerlicht hinzu, und die zwei, Erich von Logow und Maximiliane, zogen sich geräuschlos zurück. Und selbst dies leise Zumachen der Tür, dies Flüstern beklemmte sie. Es war, als hätten sie etwas miteinander vor andern zu verbergen.

Stumm saßen sie mit Frau von Ottersleben beim Abendbrot. Draußen heulte der Sturm und goß der Regen. Man ahnte durch die Nacht die unwirtlichen Grenzgebirge ringsumher. Es war einem zumut wie am Ende der Welt. Erich von Logow hatte etwas Finsteres, Verächtliches in seinen Zügen. Er aß fast nichts, langte aber, gegen seine frühere Gewohnheit, ziemlich häufig nach der Flasche mit rotem Elsässer Wein. Er war froh, als seine Schwiegermutter gleich nach Tisch gute Nacht sagte. Maxe wollte ihr folgen. Er stellte sich neben sie und bat halblaut: »Bleib doch noch ein bißchen!«

Sie zögerte.

Er setzte hinzu: »Du bist doch gekommen, um uns zu helfen. Ulla kannst du's vorderhand nicht! Aber mir!«

[S. 278]

Er trat mit ihr in sein Arbeitszimmer. Dort zündete er sich eine Zigarre an und stand düster da, ihren Blick vermeidend. Sie wollte dies gefährliche, so vielsagende, an so viel erinnernde Schweigen zwischen ihnen nicht aufkommen lassen. Sie griff nach dem Nächstliegenden und frug, auf die Grammatik auf dem Tische weisend: »Erich, warum lernst du denn um Gottes willen Spanisch? Lohnt sich denn das der Mühe?«

Er drehte ihr sein energisches, wettergebräuntes Antlitz zu.

»Für mich schon!«

»Willst du denn einmal nach Spanien fahren?«

»Weiter!«

Er ging durch das Zimmer, blieb vor ihr stehen und versetzte, plötzlich in einen raschen, gleichgültigen Gesprächston verfallend: »In Chile wird Spanisch gesprochen. Und es sind doch immer eine ganze Reihe von deutschen Offizieren in die chilenische Armee kommandiert. Diese Armee ist ganz nach unserem Muster gebildet. Ihr höchster General ist — das weißt du vielleicht — seit vielen Jahren ein preußischer Leutnant. Das ist also ein Land, wo man sich nützlich machen kann ...«

»Und da ...«

Sie vollendete die Frage nicht. Er beantwortete sie selbst.

»Ich weiß es noch nicht!« versetzte er. »Ich trag' mich nur mit dem Gedanken. Ich bereite mich wenigstens auf alle Fälle vor. Stände ich allein — ja, dann wüßt' ich wirklich nichts, was mich zurückhielte, auf Jahre hinaus das Meer zwischen mich und ... und[S. 279] das alles hier zu legen. Das begreift wohl kein Mensch besser wie du, nicht wahr?«

Er nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf. Er sprach vor sich hin, wie in Gedanken mit sich selber kämpfend.

»Aber da ich doch einmal mit deiner Schwester Ulla verheiratet bin, ach Gott, Maxe ... Ich weiß ja ... Ich sollte über das alles nicht reden, am wenigsten zu dir ... Und kann doch nicht anders und danke meinem Schöpfer, daß ich endlich einmal reden darf, statt mich immer nur einsam zu quälen ... Denn wer versteht mich denn ... Wer kennt mich denn ... außer dir? ... Nein ... Bleib nur ruhig sitzen, Maxe! Du hast doch mein Wort! Du sollst nichts hören, was du nicht hören darfst ...«

Er atmete auf und streifte seine Zigarrenasche ab.

»Darf ich übers Meer in fremde Dienste und meine Frau hier lassen? Das ist die Frage, über die ich schon seit einem halben Jahr nicht wegkomme! Mitnehmen kann ich sie nicht. Da schlepp' ich nur unser ewiges Elend von den Vogesen nach den Kordilleren, damit ist nichts geholfen. Da bleib' ich lieber gleich hier: und hier bleiben kann ich nicht ... Die Aussicht, acht Jahre noch in diesem Nest zu hocken, allen Ehrgeiz zu begraben, den man noch vor kurzem und mit Recht gehabt hat ... es ginge ja noch — es ließe sich ertragen, wenn man in seinen vier Wänden als Ersatz dafür das Glück fände! ... Aber da fehlt es eben, und weil es fehlt, darum habe ich auch dienstlich den Erwartungen nicht entsprochen. Das hängt alles zusammen — eines bedingt das andere — und für mich[S. 280] gibt es nur eine Rettung, so wie ich hier gestrandet bin — heraus aus allem! ... Aus allem ... aus allem ... Ich muß vergessen lernen, Maxe — das vergessen, wovon ich eben gesprochen habe, und noch mehr das, wovon ich dir nicht sprechen darf! ... Und wenn man ins Weite will, hat man die Kette am Bein. Man kann nicht fort!«

Von drüben über dem Flur her hörte man das schwere Aufhusten der Kranken. Erich von Logow ging leise hinüber, öffnete den Türspalt und überzeugte sich durch einen Blick, daß alles beim Alten war. Dann kehrte er zurück und lachte bitter auf.

»Ja — du hast's gut, Maxe! Du sitzest da und legst die Hände in den Schoß und siehst mich seelenruhig an und hörst zu, was ich dir da vorheule! ... Du warst tapfer und hast aus deinem Leben alles gemacht, was zu machen war. Aber unsereiner ... Man sollte natürlich eigentlich die Zähne zusammenbeißen und das Maul halten und seinen Dienst tun und seine kranke Frau pflegen, die in gesunden Tagen viel, viel unausstehlicher ist wie jetzt, wo sie still daliegt ... Aber manchmal drückt es einem die Seele ab ... Da ist man Mitte der Dreißig, hat noch ein langes Leben vor sich ... und in dem Leben nichts, nichts ... Nichts von alledem hat sich erfüllt, was ich vor zwei, drei Jahren noch mir als absolut sicher gedacht hab'. Ich bin in der Ulla ihre Schönheit hineingeflattert wie die Motte ins Licht ... und nicht nur aus Liebe — nein — auch aus Eitelkeit und Selbstgefälligkeit — ich dachte, für jemandem wie mich sei die Schönste im Lande gerade gut genug, um mit ihr[S. 281] Staat zu machen. Das muß ich nun büßen ... Man versauert hier in dem Hundenest, man wird als Major abgehalftert, man trägt sein Hauskreuz bis an sein seliges Ende ... Ach ... es ist gräßlich ...«

Er hielt inne, holte sich aus dem Nebenzimmer den roten Elsässer und trank wieder hastig ein Glas. Es war nicht der Wein, der ihm zu Kopf stieg. Die innere Erregung glänzte fiebrig aus seinen dunkeln Augen. Dabei waren seine Wangen blaß. Er schwieg. Maximiliane auch. Sie wußte nicht, was sie ihm hätte erwidern sollen. Sie konnte nur hier sitzen und seine Beichte mitanhören. Mehr wollte er auch nicht. Er hub wieder an.

»Ist das nicht schrecklich ... Maxe ... solch eine Ehe, wo beide Teile manchmal denken müssen, es wäre besser, einer von ihnen wäre nicht mehr? ... Und der andere wäre frei ...?« Er merkte eine erschrockene Bewegung der jungen Generalin. »Mißversteh mich nicht ... Ich brauche ja nicht der zu sein, der frei wird ... Ich könnte ja auch der sein, der frei macht ... Mir wär's gleich ... Mir liegt gar nichts am Leben ... Wenn mich in Chile der Teufel holte, wär's mir auch recht! ... Aber ist man nicht schon rein mit sich und allem zu Ende, wenn man überhaupt so etwas denken kann? Sage ehrlich ...«

Maximiliane von Glümke schüttelte bang das blonde Haupt.

Er murmelte zwischen den Zähnen weiter: »Es ist doch solch ein Widersinn: zwei Menschen sind auf Lebenszeit zusammengekoppelt, machen sich bloß gegenseitig das Leben schwer, machen einander für das Leben[S. 282] untauglich und können nicht auseinander ... Und ziehen immer weiter an dem verfluchten Karren ... Immer weiter, bis er schließlich ganz im Dreck festsitzt ... Entschuldige ... Ich verbauere hier schon so
sachte ... Ich spreche ja eigentlich nur noch auf dem Exerzierplatz zu meinen Kerlen — sonst mit keiner Menschenseele ... Ulla schweigt ja. Sie schweigt immer. Sie sitzt am Fenster und starrt in den Regen hinaus. Stundenlang. Es ist zum Haarausraufen.«

Nun entschloß sich Maximiliane zum erstenmal zu reden.

»Eines versteh' ich dabei aber nicht, Erich! Wenn eure Ehe so unglücklich ist, warum laßt ihr euch denn dann nicht lieber in Gottes Namen scheiden?«

Der Hauptmann von Logow zuckte die Achseln und lehnte sich aufseufzend an das Fenster. Vor dem war kein Laden. Man sah draußen die unbestimmten Umrisse der Nacht — die Ballen von Regenwolken am Himmel, die Schattenkronen kahler, vom Sturm schief gewehter Bäume. Weit und breit kein Lichtpunkt auf Erden, kein Stern da oben.

»Das ist nicht so leicht, Maxe!« versetzte er. »Im Gegenteil ... das ist furchtbar schwer! Finde du einmal bei zwei Menschen, die an sich anständig sind, und anständig leben und eben nur das Unglück haben, daß sie absolut nicht zueinander passen — finde du da einmal einen genügenden Grund, daß ich vor Gericht gehen kann und sagen: so, jetzt will ich meine Freiheit wieder! ... Solch einen Grund gibt mir Ulla nie und wird sie mir Gott sei Dank nie geben, und ich selber werde ebensowenig je der Schuldige sein!«

[S. 283]

Die junge Generalin war erstaunt.

»Ich hab' aber doch immer gehört, daß zum Beispiel, wenn ein Teil aus dem Hause weggeht und der andere läßt sich das nicht gefallen und klagt, daß dann ...«

»Ja. Dazu gehören eben zwei.«

»Ihr seid doch zwei! Und seid doch beide, wenn auch nicht in anderen Dingen, so doch darin einig, daß ...«

»Nein. Das sind wir nicht!« Erich von Logow holte tief Atem und streckte die Arme aus, als wollte er eine unsichtbare Kette zerreißen. »Nein! Das ist eben das Letzte und Tollste: Ulla gibt mich niemals freiwillig los. Niemals! Sie will lieber unglücklich sein und mich unglücklich machen, als mich gar nicht haben!«

»Mein Gott ... was sind das alles für Sachen!« sagte Maximiliane von Glümke bang und stand auf.

Er nickte. »Wie ich Ulla heiratete, Maxe — da war ich verliebt! Blindlings, wahnsinnig ... und sie hat sich weiter nicht viel aus mir gemacht. Ich wußt' es auch! ... Dann hat sich das Blatt gewendet. Ich bin allmählich erkaltet, an ihrer Gleichgültigkeit. Sie blieb, wie sie war. Sie war ja meiner sicher. Und dann eines Tages ... da sah sie, daß sie im Begriff war, mich zu verlieren — nein — daß sie mich verloren hatte ... auf immer! ... Ich kann es nicht ändern. Und sie — sie kann es nicht fassen. Jetzt will sie das Versäumte nachholen. Seitdem kämpft sie um mich. Seitdem klammert sie sich an mich — verzehrt sich.... nicht eigentlich in Liebe — wenn sie mich liebte, ließe sie mich frei — nein — in Eifersucht! ...[S. 284] Sie will nicht hergeben, was ihr gehört ... Sie pocht auf ihr gutes Recht. Innerlich gibt sie sich gar keine Mühe, mich zu gewinnen! Sie hat mich ja ... auf Lebenszeit! ... Das ist ihrer Selbstsucht genug ... So ... Maxe ... da hast du die ganze Tragik meines Lebens ...«

»Ich weiß ja: sie ist krank!« fing er nach einer langen Pause an, in der wieder der Husten von drüben durch die Stille der Nacht geklungen war. »Ich sag' es mir ja auch immer zum letzten Trost: es ist alles krankhaft, ihre Teilnahmlosigkeit — ihr Trübsinn — diese blinde Zähigkeit, mit der sie mein Leben aussaugt, aushöhlt, von innen heraus ganz zunichte macht. Sieh mal, Maxe: wenn einer aus Liebe alles opfert, und alles hinschmeißt, daß die Scherben fliegen, und sagt: ›Hol's der Deubel ... Ich kann nicht anders!‹ — Na schön ... das ist groß! ... Das verstehe ich ... Aber die Ulla und ich — wir gehen zugrunde ohne Liebe! Das ist's, worüber man verrückt werden könnte!«

»Und doch hätten wir all diese Kälte und Freudlosigkeit noch miteinander ertragen,« sagte er endlich, »wenn nicht von einer anderen Seite her die Liebe in unser Leben gekommen wäre, Maxe! ... In mein Leben! ... Sei unbesorgt ... du hast mein Wort ... Es gibt Dinge, die braucht man nicht auszusprechen ... Aber das war der Stoß ins Herz für mich und unsere Ehe — die Strafe, weil ich blind gewesen war. Wir verbluten uns hier, in den Vogesen, fern von der Welt, still an einer, die nichts dafür kann — die das Glück hatte, stärker zu sein als wir — die über uns ihren Weg weitergegangen ist, zu Glanz und Ehren — der[S. 285] ich allen Segen und alles Gute für ihren Lebensweg vom Himmel wünsche — obwohl sie mein Schicksal war und weiß Gott kein gnädiges ... Verzeih mir, Maxe ... und hab' Dank, daß du mich das hast aussprechen lassen! ... Du warst so oft in meinen Gedanken mein lebendes Gewissen ... Nun hab' ich dir das endlich einmal sagen dürfen ... So ... nun ist's vorbei ...«

Sie senkte den Kopf, damit er den feuchten Schimmer in ihren Augen nicht sähe. Sie wagte nicht zu sprechen. Er trat auf sie zu und gab ihr die Hand.

»Gute Nacht, Maxe!« sagte er leise. »Es ist bald Mitternacht. Du wirst schlafen wollen!«

Er sah sie nicht an. So zog er sich zurück. Sie hörte, wie er langsam hinüber in das Krankenzimmer ging. Dort schickte er die Wärterin zur Ruhe, rückte einen Stuhl an das Bett, setzte sich nieder und bewachte, das Kinn in die Hand und den Arm auf das Knie gestützt, still bis zum Morgengrauen den Fieberschlaf seiner Frau.

Frühmorgens kam der Stabsarzt. Er machte ein ernstes Gesicht. Die Krisis war da. Nun frug es sich, wieweit die Kräfte der Kranken standhielten. Den ganzen Vormittag herrschte im Hause die gedämpfte, gequälte Unruhe des Abwartens. Schleichende Schritte, flüsternde Worte. Draußen, auf der gepflasterten Landstraße, lag Stroh. Es wäre kaum nötig gewesen. Heute, am Sonntag, rührte sich nichts in dem stillen Vogesennest. Der Himmel war novembergrau, die Wolken hingen an den Bergflanken tief zu Tal, unten im Grunde brummte und summte vom Städtchen her eine Kirchenglocke[S. 286] durch den weißen Dunst ... sie verstummte — wieder das Schweigen — ein Aufhusten aus dem Krankenzimmer — ein Windstoß, der vereinzelte Strohhalme von der Villa weg über die Felder trieb — unheimlich — gerade nach dem fern unter Zypressen dämmernden Kirchhof zu — dann wieder die Stimme des Doktors, der alle zwei, drei Stunden nachsah.

»Ich bleibe jetzt vorläufig hier! Herr von Logow — tun Sie mir den einzigen Gefallen und gehen Sie inzwischen wenigstens auf eine halbe Stunde an die frische Luft und erholen Sie sich — Sie halten mir das sonst nicht mehr aus — nach dem Dienst am Tag und der Nachtwache hinterher ... Ich bitte gehorsamst: Helfen Sie mir, Exzellenz! ... Oder noch besser ... nehmen Sie ihn einfach mit! Exzellenz sind ja seine Vorgesetzte! Ihnen muß er gehorchen!«

Erich von Logow half seiner Schwägerin schweigend in die Jacke. Und warf sich den Mantel um die Schultern. Sie gingen aus dem Hause, über Wiesen, den Berg hinauf, durch Rebhalden. Keine Seele war weit und breit. Der Boden dampfte feucht. Der Nebel braute um das kahle Geäst der Nußbäume. Er bildete eine weiße, zähe zurückweichende Wand, in die man hineintauchte, die hinter einem zusammenschlug. Man konnte kaum auf zehn, zwanzig Schritte vor sich sehen.

»Wird es dir zu viel mit dem Steigen?« frug er. Sie verneinte stumm. Der Wald nahm sie auf. Sie wanderten den schmalen Pfad dahin: Aus dem Dämmern tauchten zwischen den kahlen Stämmen Trümmerwerk und Gemäuer auf. Eine der unzähligen Burgruinen des Elsaß. An einem klaren Tag hatte man[S. 287] hier wohl einen weiten Rundblick über die Tiefe. Jetzt war da nur ein grauer Schein. Der Hauptmann von Logow schaute, schwindelfrei, hart am Abgrund stehend, gleichgültig hinunter und sagte zwischen den Zähnen: »Bis morgen oder übermorgen weiß ich wenigstens, ob ich ein Witwer werden soll oder nicht ...«

Ein Wort des Trostes lag ihr auf den Lippen. Aber dann fiel ihr etwas Schreckliches ein, wovon er gestern gesprochen, in der Stille der Nacht: Der Tod im Hintergrund ... als Erlöser einer unglücklichen Ehe ... Gewiß: Er hatte nicht seine Frau gemeint ... sondern viel eher sich selbst ... Aber trotzdem ... es überlief sie kalt ... bei dem Gedanken, was alles in einer Menschenbrust möglich war — was am Ende gar in ihr auch schlummerte und erwacht wäre, wenn es das Schicksal mit ihr nicht so gnädig gemeint hätte. Sie blickte zu Boden, auf den steinigen Steg, und schwieg. Er hatte die Mütze abgenommen und gab, während sie den Rückweg antraten, seinen dunklen, wettergebräunten Kopf dem Herbstwind preis. Nach einer Weile begann er: »Ich hab' dir alles erzählt, Maxe! Und du mir nichts!«

»Was willst du denn von mir wissen?«

»Ich bin ein recht unglücklicher Mensch geworden! ... Ich möchte von dir hören, wie's dir geht.«

»Gut, Erich!«

»Bist du zufrieden?«

»Ja. Die Wünsche, die ich überhaupt noch ans Leben hatte, die haben sich erfüllt. Sogar hundertmal reichlicher und größer, als ich es erwarten durfte und als ich es verdiene.«

[S. 288]

»Freilich ... du bist Exzellenz ...«

»Nicht nur dies Äußerliche, Erich! ... Mehr: Ich liebe meinen Mann. Er ist es wert. Er trägt mich auf den Händen. Es ist um mich herum klar und heiter ... Und ich selber bin's auch ...«

Er senkte das Haupt und lächelte bitter. Und sprach kein Wort mehr.

Sie kämpfte mit sich und sagte: »Ich weiß wohl, was du dir jetzt denkst, Erich! ... Aber es ist nicht richtig! Ich hab' dich nicht vergessen ...«

Er schaute rasch auf und beinahe ängstlich in ihr schönes Gesicht, das seine Ruhe bewahrte.

»Vielleicht hab' ich die Pflicht, Erich, gegen dich auch ganz offen zu sein, und weiß, du wirst es nicht mißverstehen ... Am Anfang meines Lebens hast du gestanden. Und wirst für mich in der Erinnerung immer da stehen und, im letzten Sinn, das Bestimmende, das Schicksal für mich gewesen sein. Aber dies Schicksal hat sich eben erfüllt, ohne meine Schuld und ohne mein Zutun. Es liegt hinter mir.«

Sie suchte, während sie durch das stille Nebelland weitergingen, nach den richtigen Worten und schloß: »Was es mich gekostet hat, das ist ein Ding für sich. Das gehört nur mir. Das ändert sich nicht mehr. Es ist mir ein Heiligtum der Vergangenheit. Es hat nichts mehr mit dir jetzt und mit der Gegenwart gemein. Es war mir die höchste Weihe des Lebens — es war mein Wunder — mein Erlebnis, das nie wiederkehrt. Ich bereue die Schmerzen nicht! ... Durch die bin ich erst ganz Mensch geworden und reif für das, was ich jetzt bin. Aber ich brauche diese Schmerzen[S. 289] und diese Erinnerung mit niemandem zu teilen — am wenigsten gerade mit dir! ... So — und nun wollen wir's für immer begraben sein lassen, Erich ...«

Als sie beide wieder im Abendgrauen die Villa erreichten, empfing sie der Stabsarzt. Gottlob, es ging besser. Die Hoffnung stieg. Die Patientin war bei Besinnung. Sie hatte schon nach den Ihren verlangt.

»Schauen Exzellenz doch einmal zu ihr hinein,« flüsterte er. »Aber nicht viel sprechen! ... Nur einen Augenblick! Nicht wahr?«

Maximiliane von Glümke trat geräuschlos in das verdunkelte Krankenzimmer. Im Schein des Lämpchens sah sie die blassen Züge ihrer Schwester. Die großen dunklen Augen sahen sie erstaunt und ungläubig an. Dann hörte sie Ullas traumbefangene Stimme:

»Bist du das, Maxe?«

»Ja, Ulli!«

»Du bist hier?«

»Seit gestern schon!«

»Warum bist du hier?«

»Um ein bißchen zu helfen. Wir wollen dich doch recht bald wieder gesund pflegen!«

Ein Schatten von Unruhe und Angst glitt über das Antlitz der Leidenden. Ihre Pupillen belebten sich in einem feindseligen Glanz.

»Erich pflegt mich! ... Erich ist gut zu mir! ... Du brauchst mich nicht zu pflegen!«

Sie flüsterte es mit Anstrengung und versuchte sich aufzurichten: »Du brauchst hier nicht zu sein, Maxe ... Ich will nicht, daß du hier im Haus bist! ... Geh ...«

[S. 290]

Ein Hustenanfall schüttelte sie. Sie sank erschöpft, von der herbeigeeilten Pflegerin unterstützt, in die Kissen zurück. Von der Tür her mahnte der eingetretene Arzt: »Nur ja keine Aufregung für die Patientin! ... Kommen Sie rasch, Exzellenz ... Kommen Sie! ... Das hab' ich natürlich nicht gewußt, daß Ihr Anblick solch eine Wirkung haben würde!«

Am anderen Morgen packte Maximiliane von Glümke ihren Koffer.

»Das einzig Richtige ist, ich fahre mit dem nächsten Zug!« sagte sie zu ihrer Mutter. »Ulla frägt ja fortwährend, ob ich noch da sei ... Und es geht ihr ja auch viel besser!«

»Außer Gefahr ist sie immer noch nicht ganz!«

»Eben darum muß alles weg, was ihren Zustand wieder verschlimmern könnte. Also auch ich!«

Frau von Ottersleben rang die Hände.

»Ja, was hat sie denn nur gegen dich um Himmels willen?«

»Laß das nur gut sein, Mama!« Die junge Generalin schloß ihr kostbares Necessaire aus Krokodilleder. »Sie ist krank! Weiter nichts!«

Ein paar Stunden darauf reiste sie ab. Erich von Logow brachte sie an die Bahn. Er half ihr in das Abteil erster Klasse und schaute, untenstehend, mit einem schwermütig sehnsüchtigen Lächeln, das plötzlich sein düsteres Antlitz erhellte, zu ihr empor, während sie sich aus dem Fenster herauslehnte und der Zug sich langsam in Bewegung setzte.

»Ach ja ... du mein altes blondes Mädel ...« sagte er. »Du lieber Kamerad von einst ... Weißt[S. 291] du noch? In Berlin? ... Jetzt bist du Exzellenz und eine große Dame! Fahr nur wieder heim in deine Herrlichkeit! Denk nicht mehr an uns hier in dem Nebelloch. Es ist das beste!«

Die Wagen rollten rascher dahin. Maximiliane von Glümke sah zurück. Dort hinten auf dem Bahnsteig war noch ihres Schwagers Gestalt, im roten Mützenrand und hellgrauen Mantel. Er stand und blickte ihr nach und wurde immer kleiner und undeutlicher in der trüben Luft und verschwand.

[S. 292]

14

»Nein, mein Lieber, du warst das Karnickel!« sagte der Generalmajor Bruno von Ottersleben in seiner Wohnung im Westen Berlins zu seinem Gegenschwager, dem Freiherrn von Koninck. »Du hast seinerzeit den Otto bei den Kürassieren untergebracht!«

Er legte die Depesche, die er in der Hand hielt, auf den Tisch. Der ruhige, klug und wohlwollend blickende Mann, dessen stattliche Schwerfälligkeit überhaupt nicht zu altern schien, trug in seinem beinahe maschinenmäßig schnellen Aufrücken auf der Stufenleiter der Armee jetzt schon die Scharlachbeinstreifen der Generalität. Er kommandierte die siebente Gardeinfanteriebrigade. Herr von Koninck ihm gegenüber prangte immer noch im Blau des Attila, der seinen stattlichen Korpus viel zu eng umspannt hielt und hinten eine beträchtliche, wie ausgepolstert wirkende Rückseite den Blicken preisgab. Er war inzwischen auch um einen Stern in den Achselstücken — bis zum Oberstleutnant vorgerückt. Aber nur zum Oberstleutnant zur Disposition. Sein Frontdienst war zu Ende. Er gehörte dem Heer nur noch als Pferdevormusterungskommissar an. Er schüttelte nachdenklich das weinrote Gesicht und überlas murmelnd das Telegramm: »Kommt womöglich[S. 293] hierher und helft. Otto hat schon wieder Krach. Bin in tausend Ängsten. Adda Ottersleben.«

»Ja — da müssen wir wohl fahren!« meinte der Husar.

Auf dem Bahnhof des kleinen holsteinschen Fleckens, in dem nur eine einzige Schwadron der zwölften Kürassiere lag, erwartete sein Neffe Otto die Ankunft der beiden Oheime. Der hübsche junge Mensch, der immer noch mit seinem schwarzen Haar, seinen großen dunklen Augen, seinem hohen, schlanken Wuchs an die Schönheit seiner ältesten Schwester Ulla erinnerte, war sehr erregt. Er sprach hastig im Gehen.

»Zwei Jahre und länger sind wir nun Kürassiere!« sagte er. »Und vom ersten Tag ab hatten wir die Geschichten! Das ist nun schon die dritte Schwadron, die mir blüht! Schön sind doch diese kleinen Lausenester von Schwadronen nicht! ... Mit den Spießern im Städtchen kann man nicht umgehen. Landadel gibt's nicht in der Nähe — nur dickköpfige Großbauern. Man ist also ganz auf den Verkehr im Regiment angewiesen ... Die Adda und ich haben uns solche Mühe gegeben, nett zu sein ... Aber ich weiß nicht ... wir mögen tun, was wir wollen — wir machen es nun einmal nicht recht!«

»Und was ist denn nun jetzt passiert?«

»Eine dumme Affäre ...« Otto von Ottersleben hatte mit seinem Rittmeister Baron Ostrach im Dienst einen Zusammenstoß gehabt. Es schien, daß er dem Eskadronchef öfter und nachlässiger geantwortet hatte, als nötig. Jedenfalls hatte ihn der dem Regiment gemeldet. Da lag die Sache nun. An sich eine Kleinigkeit.[S. 294] Aber es war schon das dritte oder vierte Mal. Der Kommandeur, Graf Hundsfeldt, hatte schon früher Äußerungen fallen lassen von Versetzung, wenn derlei sich noch einmal wiederholen würde. Und wo man dann hinkam ... Sie, die Otterslebens, verzehrten sich vor Sorge, in ein minderes Regiment verschlagen zu werden! ... Womöglich wieder aus der Kavallerie heraus! ... Da konnte nur der Onkel nutzen! Wenn der ein gutes Wort einlegte, renkte sich die Geschichte noch einmal ein ...

»Deswegen hättet ihr mich wirklich nicht aus Berlin herzusprengen brauchen!« versetzte der Generalmajor mißmutig und trat mit seinem Neffen in dessen Haus am Marktplatz. Es war das größte des ganzen Fleckens, hochgiebelig, aber doch ein alter Kasten, zu dessen Äußerem der verschwenderische Luxus der ganz modernen Berliner Inneneinrichtung wie die Faust aufs Auge paßte. Ein glattrasierter Diener öffnete mit einer tiefen Verbeugung die Tür. Man schritt durch eine ganze Flucht von Gemächern. Ölgemälde, Palmen, Marmorwerke füllten das dämmerige, gelangweilte Schweigen, in dem sich Herr von Ottersleben mit seiner spartanischen Nüchternheit kopfschüttelnd umsah. Ihm ahnte nun schon, wo eigentlich das ganze Übel steckte. In dem letzten der Gemächer, einem blauseidenen Boudoir, saß die kleine Frau Adda und empfing schluchzend die Verwandten.

»Papa hat mir nichts gesagt ... Mama hat mir nichts gesagt ... der Otto hat mir nichts gesagt ... huhu ... Ich hab' nicht wissen können, daß ich bei den Damen hier das fünfte Rad am Wagen[S. 295] sein würde ... es sind lauter Adelige im Regiment ...«

»Nun — du bist doch auch eine Frau von Ottersleben!«

»Das hilft nichts ... huhu ... das rechnen sie nicht für voll ... ich soll eine geborene ›von‹ sein ... huhu ... sie sind's alle, schon seit dem fünfzehnten Jahrhundert ... und ich kann doch nichts dafür, daß der Papa mit Baumwolle ... huhuhu ...«

»Das ist ja auch nichts Schlimmes, Kind ...«

»Doch! Doch, Onkel! Hier wohl ... Huhu ... immer lassen sie mich's fühlen ... und sagen Sachen, die mich ärgern ... und halten zusammen wie die Kletten ... huhu ... und der Otto hilft mir auch nicht, sondern reizt nur die Vorgesetzten und macht's noch schlimmer ... huhuhu ...«

Der Generalmajor mußte wider Willen lachen.

»Bleib du mal hier bei den unseligen Leutchen!« sagte er zu seinem Schwager. »Ich fahre jetzt gleich ins Stabsquartier und sehe, was der Kommandeur zu der welterschütternden Geschichte meint.«

Eine Stunde darauf saß er dem grauköpfigen hageren Grafen Hundsfeldt gegenüber. Der zog die Schultern hoch und meinte in seiner trockenen Art: »Ganz richtig: an sich ist die Sache ja ohne Bedeutung, Herr General! Der Rittmeister von Ostrach ist ein guter Kerl. Man muß ihn nur kennen. Er ist ein Bullrian! ... Er geht drauf los ... Er meint es nicht bös. Niemand hier. Ich will nur das Beste mit Ihrem Neffen. Wir alle. Ich hab' ihn mit Absicht in das ganz miteinander vervetterte und verschwägerte Regiment genommen, um[S. 296] ein bißchen frisches Blut hineinzubringen. Ich hatte mich auf unseren gemeinsamen Verwandten Koninck verlassen. Der Wilderich ist gut im Sattel und hinter der Pulle und sieht 'nem Pferd Mauke und Spat auf hundert Schritte an, aber zu so was hat er eben nicht den Grips!«

»Woran läßt es denn nun mein Neffe fehlen?«

»Sehen Sie, Herr General, ich hab' vier Söhne in der Armee. Da langt es bei mir zu Tisch nur zu saurem Mosel. Wir sind alle hier im Regiment mit Glücksgütern nicht übermäßig gesegnet. Anständig zum Leben — ja. Aber dann Schluß. Nu kommt Herr von Ottersleben ... Daß er Geld hatte, wußt' ich ja ... Aber dieser Train ... Automobil ... Kammerdiener ... Wohnung von zwanzig Zimmern ... Diners von zehn Gängen ... die Gattin für drei Rittergüter Schmuck am Leibe ... ja, wir kennen doch die Luxuserlasse Seiner Majestät! Wie soll ich denn das verantworten? Und wie sollen denn die anderen Familien im Regiment solch eine Geselligkeit erwidern? Sie vermögen's nicht! Also zogen sie sich zurück. Nun hielten sich die Otterslebens für isoliert und merkten nicht, daß sie nur selber daran schuld waren!«

Der alte Kürassier bot seinem Besucher eine neue Zigarre an und fuhr fort: »Rennurlaub? ... Kriegt bei mir jeder von den Herren! ... Jagdurlaub? ... Soweit möglich, mit großem Vergnügen! ... Urlaub auf die Güter? ... Auch ganz gerne! ... Aber Urlaub nach Berlin, wie ihn sich Herr und Frau von Ottersleben in ihrer Vereinsamung nun allmählich so wöchentlich angewöhnten — dort 'rumbummeln ... im Esplanade[S. 297] oder bei Adlon schlampampen — nee ... da schob ich 'nen Riegel vor und hab' ihn zu dem Ostrach in meine strammste Schwadron gesteckt. Und hilft das nicht, so zieh' ich noch ganz andere Saiten auf. Ich lasse mir den Geist meines Regiments nicht verderben! Ich hoffe, Sie werden mir das nicht verargen, Herr General, ob es sich nun um Ihren Neffen handelt oder wen sonst!«

»Im Dienst habe ich keine Söhne und keine Neffen! Sie haben völlig recht, Herr Graf!« sagte der Brigadekommandeur, und die beiden drückten sich, als sie sich nach einem längeren Gespräch trennten, kräftig die Hand. Herr von Ottersleben begab sich wieder in die Garnison seines Neffen. Dort hatte er mit ihm eine ernste Unterredung.

»Ich fahre jetzt gleich nach Berlin zurück!« schloß er. »Ich kann dir hier nicht helfen! Nur du dir selber! Du bist auf dem Holzweg, mein lieber Otto! Glaub mir! Gerade wie der Logow! ... Euch beiden sitzt der Hochmutsteufel zu sehr im Genick. Dir der gesellschaftliche, überall die erste Rolle zu spielen, deinem Schwager Logow, der mehr taugt als du, der militärische Ehrgeiz, um jeden Preis Karriere zu machen! Ja ... und nun? Er sitzt in den Vogesen — du hier ... Beide seid ihr nicht zufrieden ... Eure Frauen auch nicht ... Die Ulla heult und deine baut daneben scheint's auch schon wieder ans Wasser ... Komm, Schwager! Wir sind hier überflüssig!«

Otto von Ottersleben kehrte in gedrückter Stimmung vom Bahnhof heim. Er war überzeugt, daß ihm bitteres Unrecht geschah. Seine Frau weinte[S. 298] immer noch und klagte: Was hatte man hier vom Leben? Sie war doch stets in Berlin gewesen als Mädchen, oder in Bremen. Unter Menschen. Sie hatte sich nicht träumen lassen, daß sie als Frau würde in der Einsamkeit verkümmern müssen. Dort in den Schränken hingen die schönsten Toiletten, zum Teil noch von der Aussteuer her. Sie waren unmodern geworden, ohne daß sie je recht Gelegenheit gefunden, sie zu tragen. Ihre Hüte auch! Was sollte man hier, am Ende der Welt, mit Reihern und Federn? ... Da hatte sie ihren Schmuck! Wenn sie den anlegte, freute das keinen Menschen, sondern sie kriegte noch eins auf den Kopf. Mitten in ihren Jeremiaden erschien der Diener und meldete lispelnd: »Herr Leutnant von Le Simonnier de St. Jean!«

Das war der Regimentsadjutant. Trotz seines Refugiénamens baumlang, weißblond, mit schmalen Schultern, vom pommerisch-schwedischen Typus. Er trug Dienstuniform. Der Hausherr empfing ihn allein mit umwölkter Stirne. Er wußte schon, woran er war: Acht Tage Stubenarrest vom Regiment, wegen ungehörigen Verhaltens im Dienst gegen einen Vorgesetzten! Er wartete das: »Darf ich um Ihren Degen bitten?« des Adjutanten nicht erst ab, sondern reichte ihn ihm und sah finster zu, wie jener ihn unter seinen Mantel nahm und draußen damit in den harrenden Krümperwagen stieg. Dann ging er finster in Litewka und Hausschuhen, die Hände in den Hosentaschen, die Zigarette im Mundwinkel, die lange Flucht der Wohnzimmer auf und ab. Eine zu dumme Situation! Er konnte sich doch nicht ins Bett legen und krank stellen[S. 299] vor den Dienstboten! Und tat man das nicht, so merkte der Bursche natürlich, was los war. Er erzählte es den anderen. Es sprach sich herum, daß man eingesperrt war. Man wurde zum Kinderspott im ganzen Städtchen. Der Käsekrämer und die Fischweiber grinsten hinter einem her, wenn man sich endlich wieder im Helm im Freien zeigte, um sich wie ein armer Sünder bei den Vorgesetzten zu melden. Es war doch solch ein demokratischer Geist hier im Volke. Kein Respekt vor dem Höheren!

Und die arme Adda mopste sich erst recht. Zu der einzigen Dame am Ort, Frau von Ostrach, konnte sie doch nicht gehen. Man verkehrte mit Rittmeisters nur noch dienstlich. Und der zweite Leutnant war unverheiratet. Da unten schmetterten eben die Trompeten um die Ecke und klapperten die Hufe auf dem Markt und flogen die weiß-schwarzen Fähnchen. Die Schwadron rückte aus. Voran Baron Ostrach — breitschultrig und riesenhaft, auf ebenso mächtigem Gaul. Der junge Kürassier durchmaß mit langen Schritten seine Räume. Zu lächerlich! Er wollte Dienst tun und schwitzen und Staub schlucken — und durfte nicht ... Andere dankten ihrem Schöpfer, wenn sie nicht krank waren. Er mußte hier Hexenschuß oder Influenza heucheln. Er redete sich immer mehr in eine stille Wut hinein: Was tat er eigentlich in dem Nest hier, in dem sich höchstens die Flundern wohlfühlten? Wozu hatte er's nötig, sich schlecht behandeln zu lassen — er, ein Ottersleben und mit dem Einkommen eines Millionärs? Weshalb sollte er sich denn aufdrängen, wenn man ihn nicht haben wollte? Schön. Da konnte er[S. 300] ja gehen! Tränen weinten sie ihm hier nicht nach. Das wußte er.

Er stand gerade vor einem großen Wandspiegel. Er erschien sich in seiner dunklen, schmucklosen Litewka wie ein Strafgefangener. Draußen blinzelte sacht die Sonne über Land und See. Es war ein erster ahnender Vorfrühlingstag. Er riß das Fenster auf. Lauer Märzwind wehte herein, gleich einem Gruß vom Süden. Er brachte einen Hauch von Leben mit sich ... vom großen Leben draußen ... der bunten, lockenden Welt ... die stand einem offen ... man rutschte im eigenen Auto nach Rom — man fuhr mit seiner kleinen Frau nach Paris ... man badete sich im Winter im neuberlinisch-amerikanischen Gesellschaftsleben, man ritt im Sommer als Großgrundbesitzer über seine eigene Scholle irgendwo drüben in der Ostmark — war ein ganz anderer Kerl als hier der kleine, in Stubenarrest gesteckte Leutnant Ottersleben! ...

Eigentlich war man doch ein Esel, wenn man es nicht tat! ... Adieu Küraß und Koller — Pallasch und Helm! ... Die Armee hielt keinen, der gehen wollte. Im Gegenteil, sie schickte alljährlich Hunderte in das Schattenreich des Zivils, die um ihr Leben gern noch weiter gedient hätten ... Otto von Ottersleben preßte die Lippen zusammen. Er dachte: Wenn mein Vater noch da wäre, dürfte ich es nicht. Der würde es mir nie verzeihen! Onkel Bruno auch nicht. Keiner von den anderen. Aber schließlich ist sich jeder selbst der Nächste. Diesen verfluchten Stubenarrest hier sitzt auch kein Fremder für mich ab. So stand er und sann und[S. 301] sann, ohne zu einem Entschluß zu kommen, und die Dämmerung senkte sich hernieder.

Eine Woche später riß gegen Abend auf der Friedrichstraße zu Berlin der kleine Leutnant Peter von Ottersleben, der zurzeit aus seiner schlesischen Grenadiergarnison zur Zentralturnanstalt kommandiert war, erstaunt die Augen auf. Er erkannte seinen Bruder Otto, der da in modischem englischem Frühjahrszivil flanierte, einen spiegelnden Zylinderhut auf dem Kopf, Gamaschen über den Lackstiefeln, auf die die Bügelfalte fiel.

»Wo ich herkomm', Peter?« sagte er nachlässig. »Das werd' ich dir gleich erzählen! Wo gehst du denn hin? Ins Pschorr! ... Schön!«

Im Hintersaal des Pschorrbräu, wo die einzelnen Regimenter ihre langen, hölzernen Stammtische besaßen, hatte sich der Grenadier mit seinen beiden Vettern, den Söhnen des Generals von Ottersleben, verabredet. Die zwei waren nun auch schon aus Lichterfelde heraus und Offiziere in der Garde-Infanterie — zwei schlanke, gut aussehende, trotz ihrer bartlosen Gesichter ernste junge Leute. Otto, der Ehemann und Weltmann in Zivil, kam sich unter diesen drei Dächsen sehr groß und gönnerhaft vor.

»Also erschreckt nicht, Kinder — ich hab' meinen Abschied eingereicht!« sagte er kaltblütig. »Übertritt zur Reserve natürlich. Bis das Gesuch bewilligt ist, hab' ich Urlaub! ... Wir werden uns ankaufen. Mit einer erstklassigen Jagd. Ihr dürft jeder bei mir, wenn ihr kommt, einen Sechserbock schießen. Im Winter sind wir hier in Berlin!«

»Aber wie verfällst du denn auf die Kateridee, den Dienst zu quittieren?«

[S. 302]

»Mein Gott, mir war's nachgerade zu bunt! Ich will einmal mein eigener Herr sein! Und nicht immer nach fremder Pfeife tanzen. Wir leben doch nicht mehr zur Zeit Albrechts des Bären! Heutzutage ist der Mensch doch nicht mehr bloß ein Kommißknüppel, sondern eine Persönlichkeit und hat sein Recht ...«

Zu seinem Erstaunen hob sein Vetter Busso, der blutjunge Fant, den Kopf: »Pardon, Otto! Da bin ich ganz anderer Ansicht. Gerade heute soll man dienen ... Leute wie wir ...«

»Warum denn?«

»Ja, wenn jeder so dächte wie du, was machen wir denn dann, wenn es mal losgeht? Einmal kommen die Franzosen oder sonst wer doch wieder! ... Da würden wir was Schönes erleben!«

Und sein Bruder Günter fügte hinzu: »Dazu sind wir da. Die Ottersleben haben immer gedient. Die werden doch alle auch gewußt haben, warum? Ich bilde mir nicht ein, gescheiter zu sein als unsere Vorfahren ...«

»Na ja, ihr seid Musterknaben!« meinte der hübsche Exkürassier mitleidig. »Euer Oberst ist sicher stolz auf euch. Aber kleine Philister seid ihr doch.«

»Nee, gar nicht! Wir amüsieren uns schon! Bloß nicht den ganzen Tag!«

»Und du, Otto, hast jetzt gar nichts mehr zu tun!« fügte Busso, der schroffer als sein Bruder veranlagt war, hinzu. »Und das mißfällt mir!«

»Still, du Dachs!«

»Ich kann gerade so gut reden wie du! ... Mag einer Sekt aus Kübeln saufen und Automobil fahren,[S. 303] so viel er will, das geht mich nichts an. Aber wenn er dann kommt und will mir damit imponieren ...«

»Zum Donnerwetter — das verbitt' ich mir ...«

»... und protzt damit, daß der Schwiegerpapa Geld hat — nee, das kann jeder!«

»Das find' ich auch!« ... versetzte der kleine Grenadier Peter, der bisher geschwiegen, mit plötzlicher Entschlossenheit. Auch seine Bewunderung für den älteren Bruder hatte einen Stoß erhalten.

»Kellner, zahlen!«

Otto von Ottersleben stand auf, fuhr in seinen großkarrierten Ulster und drückte sich die Zylinderkrempe in die Stirne.

»Ihr seid altmodische Kerlchen!« sagte er. »Ihr habt ja ganz recht: es muß ja auch Leute wie euch geben! ... Bloß heute abend seid ihr mir ein bißchen zu langstielig. Nehmt mir's nicht krumm! Gute Nacht!«

Er gab ihnen die Hand und ging. Draußen war das Gewimmel der Friedrichstraße. Wie er sich in dem verlor und an das uniformierte Kleeblatt drinnen im Pschorr dachte, kam etwas über ihn — es war nicht Reue — kein Drang zur Umkehr — aber ein eigenes Gefühl der Verlassenheit zwischen den Massen — der Trennung von der Armee — der Einsamkeit, und er eilte sich, um in das Hotel und zu seiner Frau zu kommen.

Auch die drei jungen Leute verließen bald darauf das Lokal. Sie hatten sich entschlossen, noch auf ein Stündchen bei ihrem Vater, dem General, im Berliner Westen, vorzusprechen und noch ein Glas Bier bei ihm zu trinken, nachdem das Beisammensein im Pschorr[S. 304] verdorben worden war. Er liebte es, wenn sich die Söhne recht oft freiwillig bei ihm sehen ließen und auch den Vetter von der Turnanstalt mitbrachten. Er saß dann mit ihnen zusammen, rauchte und plauderte, wie ein älterer Kamerad.

Er goß selbst den jungen Leuten Bier ein, ließ sich von ihnen die Geschichte von Ottos Dienstüberdruß und Abschiedsgesuch erzählen, und sagte dann in seiner langsamen und schweren, unerschütterlichen Art: »Der Otto war immer ein Windhund. Der hat nie begriffen, worauf es bei uns ankommt. Wißt ihr, Jungens ... so wie bei St. Privat — in Reih und Glied ... mit wehenden Fahnen, alle Vorgesetzten vor der Front, die Feldgeistlichen mit dem Kruzifix voraus — sich für König und Vaterland totschießen lassen, das ist kein Kunststück. Das kann jeder. Das muß jeder. Aber wenn du an 'nem Wintermorgen faul in der Kaserne im Bett liegst, mein Sohn, und weißt, der Hauptmann kommt doch nicht, und die Unteroffiziere fangen unten die Instruktionsstunde auch ohne dich an und bläuen den Rekruten die einzelnen Gewehrteile in die Mostschädel ein — und du hältst es doch nicht aus und bist Punkt sieben unten in der Mannschaftsstube unter der Petroleumfunzel in dem Gestank — dann stehst du auf dem richtigen Boden. Das ist die Grundlage der Armee. Das ganze Geheimnis. Das machen sie uns nicht nach: Pflichterfüllung, die keiner sieht! Wenn uns das nicht in Fleisch und Blut übergegangen wäre, dann hätten Moltke und Roon und der alte Herr weiß Gott umsonst gelebt!«

»Und wenn jemand sich vor euch mit seinem Geld[S. 305] aufspielt,« schloß er, »dann schaut nur auf euer Portepee und denkt euch: der Kerl kann alles in Berlin zusammenkaufen, was gut und teuer ist. Aber für alle Schätze der Welt ist das kleine silberne Ding in keinem Laden zu haben! Er kriegt's nicht, und wenn er sich auf den Kopf stellt! Es wird nur verdient und verdient! Und wenn ihr das so auffaßt, Jungens, dann könnt ihr euch getrost reicher vorkommen als irgendeiner.«

[S. 306]

15

Um den Platz vor dem Bahnhof staute sich das Volk, von der Schutzmannschaft zurückgedrängt, so daß in der Mitte ein weites Viereck frei blieb. Auf dem hielten seitlings die Wagen. Am Portal war in der Maiensonne alles bunt von Uniformen und Damenkleidern, Roßschweife und Federbüsche wehten im Wind zwischen den farbigen Sonnenschirmen, Leibjäger liefen mit Mänteln, auf dem Bahnsteig stand die Ehrenkompanie unter präsentiertem Gewehr. Die Musik spielte. Die Degen der eingetretenen Offiziere hatten sich gesenkt. Am rechten Flügel hoben die kotoyierenden Vorgesetzten, Generalleutnant von Glümke bis zum Bataillonskommandeur hinab, die Rechte an den Helm. Die Prinzessin, die heute hier ihr Regiment, dessen Inhaberin sie war, besucht hatte, schritt lächelnd die Front ab. Sie war jung und hübsch und trug einen riesigen Federhut schräg auf dem Kopf. Neben ihr ging ihr Mann in Generalsuniform, den großen Hausstern auf der Herzgegend, dann das Gefolge. Alles strömte zu dem an den fälligen Schnellzug angehängten Salonwagen, bis zu dessen Stufen sich ein Teppichläufer unter einem Baldachin erstreckte. Hier harrten die Damen des Regiments und der höheren Chargen. Die junge Hoheit schüttelte liebenswürdig und ununterbrochen[S. 307] Hände. Sie dankte der Kommandeuse, der kleinen Frau von Mensingen, für den freundlichen Empfang. Es war einfach reizend ... die Parade ... das Frühstück ... wirklich alles reizend. Im nächsten Jahr kam sie wieder! ... Dann wandte sie sich noch einmal an die große schlanke blonde Dame, die ganz vorne stand, und hielt heiter deren beide Hände fest: »Adieu, meine liebe Exzellenz von Glümke! Also, ich hab' Ihr Versprechen: Sie besuchen mich den Sommer einmal auf unserem Waldschlößchen! ... Der Herr Gemahl wird Ihnen schon Urlaub bewilligen — nicht wahr?«

»Wie Hoheit befehlen!« versetzte Olaf von Glümke dienstlich. Er sah, wie er sich dabei leicht und ritterlich in seiner goldgestickten Generalspracht verbeugte, jugendlich schlanker aus als alle seine Brigade- und Regimentskommandeure um ihn herum. Die Prinzessin sprach weiter mit seiner Frau. Sie hatte Maximiliane in ihr Herz geschlossen. Wenn das auch die erste Dame der Garnison war — sie zeichnete sie doch auffallend aus. Die Abfahrtszeit war schon überschritten, ohne daß sie darauf achtete. Der Prinz selbst drängte sie mit einem Blick auf den unruhig strammstehenden, ordengeschmückten Stationsvorsteher zum Einsteigen. Aus dem Fenster winkte die hübsche junge Hoheit noch einmal vergnüglich der schönen jungen Exzellenz und den anderen Damen zu. Die sanken in einer letzten tiefen Verbeugung zusammen. Der Zug fuhr ab. Das große Ereignis war vorüber und löste sich in ein Gewimmel aufgeregter, plaudernder, ordensfroher Menschheit auf.

[S. 308]

Während der Abschiedsfeierlichkeit waren die Türen des inzwischen in entgegengesetzter Richtung eingelaufenen Schnellzugs geschlossen geblieben. Niemand konnte ihn vorläufig verlassen. Die Reisenden standen neugierig, zum Teil ironisch lächelnd, an den Scheiben und beobachteten die kleine höfisch-militärische Idylle. In einem Abteil zweiter Klasse war ein Herr allein. Er trug graues Reisezivil, einen weichen grauen Filz auf dem vom Felddienst gebräunten Kopf. Er hielt sich halb in dem Schatten des Fenstervorhangs, so daß Maximiliane von Glümke, selbst wenn ihr Blick in dem angeregten Gespräch mit der Hoheit durch Zufall hier herübergeglitten wäre, ihn nicht hätte bemerken können. Aber seine Augen hingen unverändert an ihr. Ein trübes, bitteres Lächeln lag unter dem dunklen Schnurrbart um seine Lippen: Die da drüben, die Exzellenz an der Spitze ihres halbhundertköpfigen Stabs von Offiziersdamen, die Generalin, mit der die Prinzessin vertraulich wie mit ihresgleichen plaudert — die hatte in ihrem Leben nur die eine große, unerfüllt gebliebene Sehnsucht gehabt, eine einfache Frau Leutnant oder Frau Hauptmann zu werden ... seine Frau ...

Erich von Logow wartete, bis das Getümmel auf dem Bahnhof sich verlaufen hatte. Dann erst verließ auch er die Halle. Draußen erinnerte nur noch der Fahnenschmuck der Straßen an den fürstlichen Besuch. Die Wagen waren abgefahren, die Ehrenkompanie mit klingendem Spiel heimmarschiert — es war wieder ein Maitag wie sonst. Er schritt durch die sonnenheißen Straßen dahin und ließ sich von einer ihm[S. 309] begegnenden Ordonnanz den Weg nach der Wohnung des Divisionskommandeurs weisen. Das große Gebäude war nicht zu verfehlen. Ein Schilderhaus stand davor. Der Posten schlenderte mit Gewehr über auf und ab und sah in müßigem Erstaunen dem Zivilisten nach, der die breiten Steinstufen emporstieg, oben schellte und seine Karte hineinschickte.

»Herrjeses!« tönte gleich darauf von innen langgezogen die Stimme des Generals von Glümke. Er kam selbst mit ein paar Laufsprüngen auf den Flur, packte den Schwager an den Schultern, rückte ihn ins Licht und blitzte ihn halb lachend, halb zweifelnd aus seinen feurigen blauen, von feinen Krähenfüßen umrahmten Augen ins Gesicht. »Na — nu hört die Weltgeschichte auf! ... Erich ... bist du das wirklich oder dein Geist? ... Maxe! ... Maxe! ...« Er verstärkte seine stählerne Stimme, als kommandierte er eine Divisionsschwenkung. Es schmetterte durch die ganze weite Wohnung bis in die letzten Ecken. »Maxe! ... Es geschehen Zeichen und Wunder! ... Der Logow hat auf einmal den Weg zu uns gefunden! ... Famos! ... Na ... tritt mal ein! Meine Frau pellt sich offenbar gerade aus ihrer Staatsrobe ... Durchläuchtings waren hier ... eben erst abgegessen und in Gottes Namen expediert ... Wird gleich kommen! ... Setze dich, mein Sohn! ... Rauche!«

In Olaf von Glümkes stürmischem Temperament hafteten Erinnerungen unter dem Einfluß eines neuen Eindrucks nicht lange. Er trug nichts nach. Mochte sich der Schwager damals im Elsaß auch komisch benommen haben, indem er gar nicht zum Vorschein kam — na[S. 310] — da saß er nun — reuig wie der verlorene Sohn — und es war gut. Und da erschien auch die Maxe! ... Famos ... sie tat auch, als sei nichts geschehen! ... Sie war eben eine Frau, wie man sie sich nur wünschen konnte ... wie die Prinzessin vorher zu ihm gesagt hatte: Auf Ihre Heirat, Herr von Glümke, trifft wirklich das Sprichwort zu: Was lange währt, wird gut! ... Sie lachte und reichte Erich von Logow so unbefangen die Hand, als hätten sie den hereingeschneiten Gast schon lange erwartet. Der selber war der einzige von den dreien, der ernst, fast gedrückt blieb.

»Wie's Ulla geht?« sagte er. »O, danke! ... Ganz gut! ... Es macht sich wenigstens! ... Und wo ich selber herkomm'? ... Aus Berlin! ... Da dacht' ich, ich überspringe hier auf der Rückfahrt einmal einen Zug, um euch zu sehen. Um sechs Uhr siebzehn muß ich weiter ...«

»Du wirst den Abend hübsch bei uns bleiben!« erklärte Olaf von Glümke mit großer Bestimmtheit. »Ich lade noch ein paar Leute ein! Für Damen bist du nicht, du oller Kopfhänger! ... Also ein Männertrunk! ... Aber der gehörig! Still! ... Abgemacht! ... Keine Widerrede! ... Was hast du denn in Berlin vorgehabt? ... Dich mal wieder ein bißchen beim Großen Generalstab in Erinnerung gebracht? ... Sehr recht!«

»Nein. Das hab' ich nicht!«

»Du warst bei keinem von den Herren? ... Auch nicht bei Onkel Bruno? ... Der kennt doch den Königsplatz wie der Fuchs seinen Bau! ... Erich ... nimm mir's nicht übel: du bist verrückt! Glaubst du denn,[S. 311] sie werden dich auf den Händen aus deinem Vogesennest dorthin zurücktragen?«

»Sie haben mich aus dem Generalstab 'rausgesetzt,« sagte Erich von Logow leidenschaftslos und hart. »Aber sie haben recht gehabt.«

Der General von Glümke warf seiner Frau einen ratlosen Blick zu. Was war nur mit dem Logow los? Freute sich der noch, daß er eigentlich ein wenig Schiffbruch gelitten hatte?

Da fuhr der fort, so unparteiisch, als spräche er nicht von sich, sondern von einem beliebigen Dritten: »Ich bin mit mir ins Gericht gegangen ... Was hilft es, sich Schwachheiten einbilden? Die trüben nur den Blick. Und da hab' ich gefunden: Ja. Ich hab' den Anforderungen nicht entsprochen, die man an mich stellen konnte, und die ich unter anderen Umständen auch erfüllt hätte. Also mußte ich fort und einem Besseren Platz machen. Da bin ich viel zu sehr Soldat, um das nicht einzusehen! Da beklage ich mich mit keinem Wort darüber ...«

»Na — das macht dir ja alle Ehre ...« meinte der General zweifelnd. Er wußte nicht: sollte er weiter fragen, was das eigentlich für hemmende Einflüsse gewesen? Nee — lieber nicht! Hand von so Geschichten! Ein Kind konnte sich ja auch sagen, was der einzige und alleinige Grund war: die unglückliche Ehe mit der Ulla, der unseligen Schlafmütze! Herr von Glümke lächelte zufrieden und dankbar: Gottlob! Seine Maxe war anders! ... Die brach nicht ihren Mann! ... Im Gegenteil: die gab einem Halt. Die hob einen. Gab Zuversicht und Lebensfreude! Vorwärts — nur[S. 312] immer vorwärts! ... Deubel ja ... was machte im Gegensatz dazu der junge Hauptmann vor ihm für ein ernstes und resigniertes Gesicht! Klug wurde man aus ihm nicht ...

Der Divisionsadjutant hatte sich melden lassen. Olaf von Glümke stellte die Herren einander vor und erhob sich.

»Du mußt mich eine Stunde entschuldigen, Erich! Hier der Major Gutgesell, mein chronischer Tyrann, mahnt an die Pflicht. Wir haben ein paar Herren aus Berlin und vom Generalkommando hier. Besprechung wegen der Kaisermanöver. Du weißt, sie werden dies Jahr besonders großartig. Eine ganze Armeeabteilung operiert zwischen Neckar und Main. Alles, was in Südwestdeutschland Beine hat, kommt mit. Ihr Elsässer auch. Und wir natürlich erst recht! ... Na ... ich werde sehen, daß ich es möglichst kurz mache! ... Maxe leistet dir unterdessen Gesellschaft! ... Schau zu, Schatz, daß er bei uns ein bißchen fideler wird ... auf Wiedersehen!«

Er eilte elastisch hinaus. Die beiden hörten, wie er im Flur seinen Generalstabshauptmann begrüßte: »Tag, mein Teuerster! ... Haben Sie den ganzen Schwamm beisammen in Ihrer Mappe? Schön! ... Dann man dalli! ...« Das Sporenklirren verlor sich gegen die Treppe hin. Maximiliane drückte in dem Schweigen, das zwischen ihr und Logow eingetreten war, auf den Knopf der elektrischen Klingel und beorderte den eintretenden Diener.

»Ich bin jetzt nicht zu Hause!«

Dann wandte sie sich an ihren Gast: »Sonst werden[S. 313] wir nämlich alle Fingerlang gestört. Das geht hier zu wie in einem Taubenschlag!«

Sie fühlte, daß Erich von Logow einen besonderen Grund haben müsse, um so plötzlich bei ihnen zu erscheinen. Aus seinem Gesicht ließ sich nichts erraten. Das war wie gewöhnlich, undurchdringlich in seinem harten Ernst. Und auch, was er sprach, waren zunächst keine großen Neuigkeiten. Er erzählte, daß er in Darmstadt gewesen und die verwitwete Frau von Ottersleben besucht hatte.

»Mama freut sich schon sehr auf dich! Sie sagt, du kämst im Herbst während des Manövers zu ihr ...«

»Ja. Es gibt ja einen Riesenrummel! ... In Darmstadt noch nicht so sehr. Der Kaiser wohnt in Mainz und dann in Frankfurt. Wo mein Mann mit seiner Division hingerät, wissen wir nicht! ... Es wird alles ganz kriegsmäßig. Es entscheidet sich immer nur von einem Tag zum anderen. Aber jedenfalls bin ich dann in seiner Nähe ...«

Der Hauptmann von Logow nickte zerstreut.

»Bei meiner Schwester in Kassel war ich auch!« versetzte er. »Deinen Bruder Otto hab' ich zufällig in Berlin auf der Straße getroffen. Schon als angehenden Agrarier. Er will jetzt im Frühjahr ernstlich auf die Gütersuche.«

»Da hast du ja die reinste Vetternreise im Lande gemacht?«

»Gott ... ich hab' eben überall Abschied genommen!«

Seine Stimme klang gleichgültig. Er wollte nach seiner Art um keinen Preis, auch nicht mit dem Zucken[S. 314] der Wimper, irgendeine Erregung zeigen. Maximiliane von Glümke zog erstaunt die blonden Brauen hoch.

»Abschied?«

Und nun sagte er, immer in derselben fast geringschätzigen Ruhe: »Deswegen war ich in Berlin. Die Geschichte ist von langer Hand vorbereitet und hat sich nun ganz plötzlich entschieden. Unter den Militärinstruktoren, die wir nach Chile geschickt haben, ist eine Stelle frei geworden. Die Wahl ist auf mich gefallen. Ich hab' mich schon dem chilenischen Gesandten in Berlin vorgestellt. Die Sache selbst geht telegraphisch durch das Auswärtige Amt und das Militärkabinett. Ich muß sofort hinaus. Heute über acht Tage schwimm' ich schon!«

Er sprach von der Fahrt über das Weltmeer so gelassen und obenhin, wie sie vorher von ihrer Spritztour als Manöverwitwe in die Rheinebene. Eine Sekunde war tiefe Stille zwischen ihnen. Dann frug die junge Frau mit leise zitternder Stimme: »Wie lange bleibst du denn da draußen?«

»Vorläufig drei Jahre! Es kann aber nach deren Ablauf auch verlängert werden. Gefällt's mir da drüben — finde ich den Wirkungskreis, den ich suche, so bleib' ich vielleicht dauernd dort und komme wenigstens endlich zur Ruhe!«

Er wurde lebhafter. Er hob den energischen dunkeln Kopf.

»Hier hab' ich die Ruhe nicht, Maxe, und werde sie nie haben! ... Der Karren ist nun einmal verfahren ... Ich fühl' es zu deutlich ... Gründlich verfahren ... Nach jeder Richtung. Ich hab' früher gedacht,[S. 315] es müsse, wenn ein Mensch nur ordentlich wollte, ihm alles im Leben nach Wunsch gehen! ... Jetzt hab' ich erkannt: das hängt alles von Dingen ab, über die wir zum guten Teil gar keine Macht haben ... Von Entschlüssen, die wir plötzlich fassen und hinterher gar nicht mehr verstehen ... Von Stimmungen ... die schwinden ... Aber ihre Wirkung bleibt ... es ist eine Macht über einem ... na ... kurz ... ich bin bescheiden geworden, Maxe ... Ich will mich gerade nur noch bei den Chilenen nützlich machen ..., weil es hier bei den Preußen nicht mehr recht geht ...«

Die Unruhe übermannte ihn. Er stand auf und schritt im Zimmer auf und nieder.

»Wenn einer von Haus aus ein Esel ist,« sagte er, »und hat nichts dazu gelernt — na gut — verbraucht muß der Kerl werden — er verschwindet eben schließlich geräuschlos in der Versenkung. Aber denk nur, was man von mir erwartet hat! Und mit Recht. Ich kann es leisten. Ich könnte es jetzt noch ... Ohne die Bleigewichte, die an einem hängen ... Ach ... das drückt einen nieder, das macht alles Mühen vergeblich ... Ich muß heraus aus allem ... ich muß fort ...«

»Ja, und was sagt denn Ulla dazu?«

»Ulla ...«

Er zuckte die Achseln und setzte sich wieder. Er wurde mit einem Schlage müde.

»Ulla weiß noch von gar nichts!« versetzte er. »Heute nacht bin ich daheim. Morgen vormittag sage ich es ihr ...«

»Später als mir und den anderen?«

[S. 316]

»Ja, es ist vielleicht nicht recht von mir! ... Aber es ist der Instinkt der Selbsterhaltung. Einmal wenigstens im Leben wollte ich mir die Kraft zum Handeln nicht durch ihre Mattigkeit und ihre Teilnahmlosigkeit lähmen lassen ...«

»Du mußt denken, sie ist krank ... oder wenigstens nie ganz gesund, Erich!«

Er überhörte es. Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen.

»Sie hätte es schon lange merken können — wenn sie eben nicht sie wäre! Schau mal: du warst im vorigen November noch nicht zwei Stunden bei uns im Haus, da frugst du mich: ›Was sollen denn die spanischen Vokabeln auf deinem Schreibtisch?‹ Ulla sieht sie seit Jahr und Tag daliegen! ... Glaubst du, das wäre ihr je aufgefallen? Sie hätte sich je mit einer Silbe erkundigt, wozu ich die brauche? ... Es ist ihr total gleichgültig! Alles ist ihr gleichgültig ... Nee ... Maxe ... Ich kann nicht mehr ... Ich ersticke einfach ... Ich muß ein Ende machen ...«

»Und was wird aus ihr?«

»Deswegen war ich ja bei deiner Mutter in Darmstadt. Mama wohnt da sehr nett — im Grünen, wie eigentlich die ganze Stadt liegt — gegen die Rosenhöhe hin ... in einer Villa ... Ulla ist bei ihr sehr gut aufgehoben. Beide sind dann nicht mehr allein ...«

Er lachte kurz und gezwungen.

»Ich weiß wohl, was du denkst, Maxe: Man schiebt nicht seine Frau so in einen Winkel und geht heidi über alle Berge. Ja — wenn es bei mir Leichtsinn[S. 317] wäre oder Abenteurerlust — aber es ist Notwehr ... blanke Notwehr ...«

»Ich sorge ja für sie, so gut ich kann!« setzte er halblaut hinzu, sich wie hilfesuchend gegen die junge Generalin vorbeugend. »Ich lasse ihr selbstverständlich die Zinsen meines ganzen Vermögens. Ich schicke ihr regelmäßig meinen Gehaltsüberschuß aus Chile herüber. Ich habe mir eine Lebensversicherung zu ihren Gunsten erwirkt. Was auch kommt, sie ist reichlich vor jeder materiellen Sorge geschützt. Sie hat ihre Mutter um sich, ihren Verkehr. Sie findet sich ja nach ihrer passiven Art in alles. Sie wird sich dort viel wohler fühlen als jetzt, wo wir uns direkt aneinander aufreiben. Und ich bin frei! ... Frei ... Ich kann dir nicht sagen, Maxe, was für eine Erlösung in dem Wort für mich liegt!«

»... Du denkst eben nur an dich ...«

»... Wenn ich's tue, geschieht es nur, weil man noch von mir etwas verlangt ... Weil ich selber die Verpflichtung in mir fühle, noch etwas zu leisten! Herrgott ... ich bin doch eben erst über die Mitte der Dreißig! Das Leben ist doch noch so lang. Ich will es mir doch nicht ganz zwischen den Fingern klein krümeln lassen. Aber deswegen muß ich einen Strich unter alles machen! ... Unter alles ... unter alles!«

Es klopfte. Der Diener trat ein. Maximiliane furchte die Stirne.

»Ich hab' doch befohlen, nicht zu stören!«

»Verzeihen Exzellenz! Es ist eine Nachricht von Exzellenz!«

Sie nickte, entließ den Mann und überflog das Blatt.

[S. 318]

»Mein Mann wird länger aufgehalten, als er dachte. Er schreibt: ›Halt mir ja den Erich bis zum Abend fest, da wir ihn einmal haben, damit er uns nicht entwischt!‹«

Sie zerriß den Zettel, warf ihn in den Papierkorb und sagte ernst: »Wenn du meine Meinung hören willst — die darf ich doch aussprechen, nachdem du mir das alles erzählt hast — du hast kein Recht, deine Frau zu verlassen! Ob deine Ehe glücklich oder unglücklich ist — ob Ulla gesund ist oder krank — es ist deine Frau! Du hast ihr vor dem Altar die Lebensgemeinschaft zugeschworen, und sie hat dir geschworen, dir zu folgen. Wenn du sie mit hinübernähmst, das wäre etwas anderes ...«

»Nein ... um Gottes willen ...«

»Aber sich einfach von ihr loszusagen, weil nicht alles so gekommen ist, wie man dachte ... ja ... das muß man eben tragen, Erich ... ich bin doch auch damit fertig geworden ... Und du bist ein Mann ... Gehört sich's denn für einen Mann, vor dem Schicksal zu fliehen und gerade, wenn dies Schicksal seine eigene Frau heißt? Gesteh es dir einmal selber ... Kannst. du das verantworten?«

Der Hauptmann von Logow stand auf und griff, um sich zu verabschieden, nach seinen Handschuhen, die neben ihm auf dem Stuhl lagen. Plötzlich kam ein unterdrücktes, leidenschaftliches Beben in seine Sprache.

»Ich hab' mir schon mehr gestanden, als ich dir gesagt hab', Maxe! ... Und ich darf dir auch nicht mehr sagen. Denke dir den Rest. Ich geh' jetzt. Ich kann nicht warten, bis dein Mann zurückkommt! Grüß[S. 319] ihn, bitte, von mir und entschuldige mich bei ihm! ... Wir sehen uns jetzt in diesem Augenblick zum letztenmal, Maxe, auf lange, lange Zeit. Vielleicht für immer. Wer kann's wissen? Und da, zwischen Tür und Angel, darf ich's doch sagen: du hast ganz recht! Mit dem Schicksal, das meine Frau mir bereitet, wär' ich schließlich irgendwie fertig geworden! Das hätt' ich getragen und mir gesagt: Man ist nicht zum Vergnügen auf der Welt! ... Aber was ich nicht ertragen kann, was mich verzehrt, was mir das Hierbleiben unmöglich macht — das ist der Gedanke an dich ... das bist du ... das ist deine Nähe ...«

Er legte die Hand auf die Klinke. Er stand schon halb in der Tür.

»Du, Maxe, treibst mich übers Meer! ... Gott helfe mir: ich kann wirklich nicht mehr anders! Ich muß. Laß es dir gut gehen! Bleib so glücklich, wie du bist! Ich bin froh, daß du wenigstens nicht in die Irre gegangen bist! Leb wohl!« —

Es war am anderen Mittag, drunten im Elsaß. In der kleinen Garnison. Frühlingsblau lugte der Himmel durch die weißen Fenstervorhänge, maigrün der Wasgenwald, ein schräger Sonnenstreif ließ die Stäubchen in der Luft flimmern und vergoldete das Gelb des Kanarienvogels im Käfig. Der schmetterte drauflos. Sonst war kein Laut im Hause. Ulla von Logow saß am Fenster und stickte. Draußen klirrte ein Säbel. Sie wunderte sich, daß ihr Mann so früh vom Dienst zurückkam. Eigentlich wollte sie ihn, als er eintrat, danach fragen. Aber schließlich war es ja gleich. Sie senkte das dunkle Haupt wieder über die Handarbeit.[S. 320] Er sah ihr gleichgültiges, klassisch-lebloses Profil. Er ging ein paarmal unruhig und unschlüssig im Zimmer auf und ab, ohne daß sie irgendwie darauf achtete, und frug dann, stehen bleibend: »Sind Briefe für mich gekommen?«

»Ich weiß nicht.«

Er zuckte die Achseln und trat nebenan an seinen Schreibtisch. Da lag ein ganzer Stoß — wohl zehnmal so viel als sonst — eine Depesche aus Berlin — ein Schreiben mit dem Aufdruck der chilenischen Gesandtschaft, Drucksachen von Firmen, Kataloge von Ausrüstungsgegenständen — seine Frau hatte wieder gar nicht beachtet, was der Bursche, wahrscheinlich vor ihren Augen, dahin gelegt. Sie träumte wirklich nur noch ihr Sein. Er seufzte. Dann kehrte er entschlossen zu ihr in das Wohnzimmer zurück. Die Sonne umgab ihr Haupt mit einem goldenen Strahlenschein. Es war schön wie immer. Aber ihm, vor dessen Augen noch Maxes blühendes blondes Leben stand, schien es älter geworden, wie von herbstlichen Schatten übertönt, krankhaft in seiner Blässe. Er räusperte sich.

»Da draußen exerzieren sie noch, Ulla!« sagte er. Und wies in der Richtung nach dem Exerzierplatz.

»So?«

»Aber ich bin vor der Zeit weg. Ich hab' meine Kompanie abgegeben. Ich bin beurlaubt.«

»Schon wieder?«

Er unterdrückte einen Verzweiflungsanfall angesichts ihrer Stumpfheit.

»Ja ... schon wieder ...,« versetzte er. »Und diesmal auf längere Zeit. Auf drei Jahre.«

[S. 321]

Das fiel selbst seiner Frau auf. Sie hob die schwarzen mandelförmigen Augen und sah ihn fragend an.

Er fuhr fort: »Und diese Zeit verbringe ich nicht hier und nicht bei dir. Erschrick nicht, Ulla! Wir müssen nun einmal offen miteinander reden und ruhig und herzlich ... Komm ... Gib mir einmal deine beiden Hände ... So ...«

Er hatte sich ihr gegenüber gesetzt und sah ihr ernst in das unbewegte Gesicht.

»Wir müssen uns wie zwei Kameraden betrachten, Ulla, denen es bisher leider Gottes auf ihrer Lebensreise zusammen nicht recht gut gegangen ist. Daraus soll keiner dem anderen einen Vorwurf machen. Es kommt alles, wie es muß. Die Reue hinterher ändert nichts. Sicher ist nur: das Glück hat in unserem Hause nicht gewohnt. Du bist kränklich, meine Karriere ist entzwei, unser Kind haben wir begraben, wir beide verstehen uns nicht und finden keinen Trost ineinander ... So geht das nicht weiter. Man sagt immer: Das Allheilmittel ist die Zeit! ... Ich glaube, das sollten auch wir zwei miteinander versuchen.«

»Du willst weg?« frug sie langsam, wie aus einem Traum erwachend.

»Ich will auf drei Jahre als Instruktor in chilenische Dienste, Ulla! ... Bitte ... höre mich an ... Das soll der Prüfstein sein! Besonders für mich. Vielleicht bin ich allein an allem schuld. Vielleicht weiß ich dich nicht recht zu nehmen. Vielleicht läutert mich das Leben draußen, und ich kehre als ein anderer Mensch zurück, und wir werden doch noch glücklich miteinander. Ich will es am heiligsten Eifer nicht fehlen lassen. Ich[S. 322] habe den besten Willen. Nur Zeit mußt du mir lassen, Ulla! Geduld mußt du haben! ... Und auch selber ein bißchen tapfer sein und die Prüfungszeit überwinden ...«

»Wo denn?«

Er beachtete ihre Frage nicht. Er hielt immer noch ihre wächsernen Hände in den seinen und sprach einfach und eindringlich und herzlich.

»Wir wollen uns recht oft schreiben, Ulla!... Vielleicht klärt das manches in uns — bringt uns aus der Ferne einander näher. Und wir wollen recht oft aneinander denken ... Und nicht mit Bitterkeit und nicht mit Trotz ... Sondern wir wollen in unseren Gedanken einander verzeihen und Mitleid miteinander haben — wir sind doch alle arme, schwache, sündige Menschen — und aus dem Mitleid heraus ein wenig Hoffnung — ein wenig Liebe! ... Die wollen wir hegen und pflegen! ... Wir wollen das alles groß auffassen ... als ein schweres Schicksal, in dem man sich aber über sich erhebt — nichts Alltägliches dazwischen — nichts Niedriges ... Nicht wahr, Ulla — du versprichst mir, daß du das auch so auffaßt?«

»Wo?«

Er schüttelte den Kopf zu ihrer beharrlichen Frage.

»Das ist ja gleich, wo jeder von uns wieder mit sich ins reine und innerlich mit dem anderen zurechtzukommen sucht. Das steht bei dir! Am besten wohl in Darmstadt bei deiner Mutter ...«

Er kam nicht weiter. Ulla entwand sich seinen Händen. Sie sprang empor und er erschrocken mit ihr.[S. 323] Sie lachte auf. Sie warf den Kopf zurück. Sie war ganz verändert.

»So mußte es kommen!« sagte sie mit funkelnden Augen. »Ich hab's ja gewußt ... das ist das Ende ... Das ist das letzte, was du mir noch antun konntest ...«

»Was hab' ich dir denn getan?«

Sie fuhr auf ihn los. Sie keuchte ihm ins Gesicht.

»... das ist der Schluß ... man wird einfach bei der Mutter abgestellt wie ein alter Koffer ... da kann man verschimmeln ... Und du amüsierst dich irgendwo da draußen ... Dort braucht ja niemand zu wissen, daß du eine Frau in Deutschland hast ... Deswegen hab' ich dich wohl geheiratet, he? ... Ich möchte wohl wissen, weswegen ich dich geheiratet hab'! Es war so dumm von mir ... So dumm! ... Aus Liebe nicht! ... Das bilde dir nicht ein ...«

»Sei still, Ulla!«

»... sondern ich hab's mir damals lange überlegt ... sogar mit der Maxe zusammen ... dem blonden Schaf ... und hab' mir gesagt: der bringt mich wenigstens unter die Menschen, ins Leben hinaus ... ich bin doch schön! Da soll man's auch sehen! Jawohl ... wie die Eulen haben wir gelebt in Berlin ... Kein Mensch bei uns als die Maxe ...«

»Hör endlich mit der Maxe auf!«

»... dann hierher ... in dies Jammernest ... weil du die Maxe im Kopfe hattest und nicht deinen Dienst ... Das mußt' ich büßen ... und wieder als Besuch die Maxe, bis ich sie aus dem Haus geschickt hab' ...«

»Laß das jetzt ...«

»Und nun, zu guter Letzt völlig in die Rumpelkammer[S. 324] ... Zu Mama nach Darmstadt ... Und du fährst mit deiner geliebten Maxe im Herzen nach Afrika oder Asien übers Meer ...«

»Hör auf! Rühre mir nicht daran! Oder 's gibt ein Unglück!«

»Und sie rauscht in Darmstadt bei uns herein — großartig ... als Exzellenz ... zwanzig Menschen hinter ihr ... und du bist der Dumme ... Und ich bin die Dumme ... Und sitze als elende Strohwitwe daneben und werd' noch ausgelacht hinter meinem Rücken, daß mein Mann mir ausgekniffen ist ... Großer Gott ... Wodurch hab' ich das nur verdient? Warum geht's nur der Maxe so gut? Und warum müssen wir beide ewig für sie leiden? ... Ich bin immer der Sündenbock ... Und hab' doch niemandem was getan!«

Ihre Aufwallung war verflogen. Die Tränen kamen wie der Platzregen nach Blitz und Donner. Sie warf sich auf den nächsten Stuhl. Ein Weinkrampf schüttelte sie. Ihr wildes Schluchzen übertönte das unbekümmerte Schmettern des Kanarienvogels. Sie stampfte mit den Füßen auf die Erde. Sie stieß ihren Mann, der sich über sie beugte, mit dem Ellbogen zurück.

»Laß mich!« murmelte sie zwischen den Zähnen und verstärkte ihre Tränen. Es waren seltsame, kindische, ihr sonst ganz fremde Klagelaute, die sich ihren Lippen entrangen. Sie preßte beide Hände an die Ohren, um Erich von Logows Worte nicht zu hören. Sie machte die Augen zu, um ihn nicht sehen zu müssen. Endlich hörte sie auf zu weinen. Sie war erschöpft. Sie wurde ruhiger. Er hatte solange gewartet und in düsteren Gedanken dagestanden. Nun hob er den Kopf[S. 325] und sagte: »Es tut mir leid, daß ich dir solchen Schmerz zufügen muß. Ich habe nicht gedacht, daß es dich so treffen würde ...«

Sie lachte wieder, mit nassen Wangen und feuchten Augen.

»Das glaub' ich! Wann denkst du denn je an mich? Du denkst ja nur an die Maxe ... An die denkst du bei Tag und Nacht ... Wo du gehst und stehst ... Meinst du, ich wüßte das nicht? Da müßtest du dich besser verstellen können ...«

»Ulla ... laß endlich den Namen ... hab' doch ein bißchen Erbarmen mit dir und mir ...«

»Und dann wirfst du mir vor, ich zerstörte unsere Ehe! ... Haha! ... Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre ...«

»Ich hab' das nie behauptet, Ulla! ... Ich hab' mit dir nicht gerechtet! Ich hab' mich nicht in Schutz genommen! ... Ich weiß, daß ich schuldig bin — nicht in Werken, aber in Gedanken. Das will ich ja eben sühnen ... Da drüben ...«

Er überlegte und setzte nach kurzem Kampf hinzu: »Zurück kann ich nicht mehr, selbst wenn ich wollte. Es ist alles schon abgemacht! ... Ich bin gebunden. Ende der Woche muß ich schon in Hamburg aufs Schiff ...«

»Ja ... beeile dich nur, von mir wegzukommen! ... Jeder Tag ist da zu viel!«

Der Hauptmann von Logow unterdrückte eine Bewegung des Zornes. Er fuhr mit unveränderter Stimme fort: »Aber vielleicht hast du recht mit dem, was du vorhin sagtest: ich hab' kein Recht, dich hier allein zu[S. 326] lassen. Ich will nicht schuld sein, daß du dich unglücklich und verraten fühlst! ... Also komm in Gottes Namen mit mir, Ulla! ... Oder noch besser ... folg mir in ein paar Monaten nach, wenn ich mich drüben ein bißchen eingerichtet habe!«

»Wo?«

»In Chile. Weißt du nicht, wo Chile liegt?«

»Irgendwo da drüben ...« Sie zuckte die Achseln. Ganz klar war es ihr nicht. »Es ist ja auch gleich, wohin wir zusammen vor der Maxe davonlaufen ...«

»Ja ... wenn du's nicht anders auffassen kannst ...«

Er ging finster in dem Zimmer auf und ab. Nach einer Weile wandte er den Kopf zu ihr und frug kurz: »Also du fährst mit?«

»Ist's denn weit von hier?«

»Natürlich ist's weit.«

»Und wo wohnen wir denn da?«

»Das weiß ich nicht!«

»Vielleicht auch wieder in einer ganz wilden, einsamen Gegend?«

»Es kann sein!«

»Und du bist auch wieder den ganzen Tag außer Hause?«

»Freilich hab' ich Dienst! Dort erst recht ...«

»Was sprechen denn da die Leute für eine Sprache?«

»Spanisch!«

»Davon versteh' ich doch kein Wort! ... Da hab' ich ja keine Menschenseele, mit der ich reden kann!... Da bin ich ja erst recht verraten und verkauft ... Wie fange ich's da mit den Dienstboten an? Hier bleiben sie mir ja schon nicht ...«

[S. 327]

»Herrgott, sei doch nicht so schlapp!«

»Und was mach' ich denn da, wenn ich wieder krank werde? Vielleicht ist da gar kein Arzt in der Nähe! Da sterb' ich und werd' im Urwald begraben! Dann seid ihr mich los!«

Er bemühte sich immer wieder, geduldig zu bleiben.

»Ich kann die Lebensbedingungen drüben nicht ändern!« sagte er. »Ich kenne sie nicht, aber natürlich werden sie nicht ein Viertel so schlimm sein, wie du dir das einbildest! ... Du mußt nur ein bißchen mehr Mut und Selbstvertrauen haben!«

»Nein. Ich fürchte mich davor!«

»Ulla!«

»Ich fürchte mich vor der Seefahrt ... Und ich fürchte mich vor den Leuten drüben! Ich fürchte mich vor allem auch vor dem Alleinsein mit dir! ... Ich bin ja dort ganz hilflos in deiner Hand! An mir läßt du dann alles aus ...«

»Nein, Ulla — das versprech' ich dir ...«

»Und dann wird's schlimmer wie je! Und die Maxe ist ja doch immer da!«

»Wenn du das Wort noch einmal aussprichst, verlass' ich das Zimmer!«

»... und ich seh' nicht ein, warum ich mich von der Maxe bis ans Ende der Welt jagen lassen soll, während sie hier herrlich und in Freuden lebt! ... Den Gefallen tu' ich ihr nicht! ... Hier ist's immer noch besser! Hier hab' ich wenigstens Menschen ... Die Mama ... Ich bleibe ...«

Es war eine Pause. Dann sagte er: »Wie du willst! ... Überleg es dir!«

[S. 328]

»Nein. Ich bleibe!«

Eigentlich fiel ihm ein Stein vom Herzen. Ihm graute nachträglich bei dem Gedanken, daß sie gemeinsam ihr Elend hätten übers Meer schleppen sollen. Er wartete die nächsten Tage hindurch auf eine Gelegenheit zu einer neuen Aussprache mit seiner Frau. Er hoffte, sie würde ihm von sich aus einen Anlaß dazu geben. Aber Ulla tat nichts dergleichen. Sie war etwas lebhafter als sonst und wirtschaftete mehr im Hause herum. Auf ihren Zügen lag dabei eine kalte Abwehr. Wenn sie mit ihm zusammen war, redete sie hartnäckig kein Wort, sondern starrte an ihm vorbei ins Leere. An einem Morgen hielt er's nicht mehr aus.

»Ulla — so können wir nicht auseinandergehen ... Wir müssen noch zusammen über die Zukunft einig werden! ... Ich schreibe dir vielleicht am besten von drüben, wie alles ist, und du kannst dir dann immer noch überlegen, was du tust!«

Sie erwiderte nichts. Nach einer Weile erhob sie sich und verließ das Zimmer. Nun gab er es auch auf. Den Rest des Tages verbrachten beide stumm in der kleinen Villa, in der schon überall halbgepackte Koffer, geöffnete Schubladen, gähnende Schränke die nahe Auflösung des Haushalts verrieten.

Am Abend war Abschiedsessen im Kasino. Erich von Logow war im Regiment nie so recht warm geworden. Er hatte, in der trüben Unruhe, die ihn seit Jahr und Tag erfüllte, nicht viel Verkehr mit den Kameraden gesucht, und in diesem Grenztruppenteil wieder, der hier wie ein Vorposten die Wacht am Ende des Reiches hielt, hatte man nie erwartet, daß er lange[S. 329] bleiben würde. Er stammte aus dem Generalstab. Er war ein Springer. Er kam und ging. So hatte die Feier nicht das Herzliche wie sonst in der großen Familie eines Regiments, wo man den Scheidenden seit so und so viel Sommern und Wintern als Kameraden kannte. Aber sie war trotzdem würdig und nett verlaufen. Der Oberst hatte gesprochen und den neuen Militärinstruktor ermahnt, auch da drüben in Südamerika den preußischen Waffenruhm in Ehren zu halten und die Chilenen auf die Höhe des alten Landsknechtsspruchs zu bringen:

»Wer im Krieg will Unglück ha'n,
Der fang' ihn mit den Deutschen an!«

und der Hauptmann von Logow hatte gedankt und gelobt, sein Bestes zu tun, und sein Glas bis auf die Nagelprobe auf das Wohl des Regiments geleert.

Sonst hatte er, nach seiner Gewohnheit, nur ganz wenig getrunken. Sein Kopf war frei, während er von dem Liebesmahl durch die stockdunkle Nacht nach seinem Hause vor der Stadt schritt. Der Wind pfiff über das weite Feld, die Pappeln rauschten rechts und links am Wege. Man mußte den genau kennen, um ihn nicht in der Finsternis zu verfehlen. Ein schwacher Lichtschein da drüben wies die Richtung. Dort brannte eine Kerze im Flur. Erich von Logow trat ein, legte Helm, Säbel und Mantel ab, und öffnete leise die Tür zum Schlafgemach. Es war schon spät. Er wollte Ulla nicht wecken. Aber das Zimmer war leer! Sollte sie aufgeblieben sein, um ihn zu erwarten? Das war doch sonst nicht ihre Art. Er ging hinüber in den Wohnraum. Auch da niemand. Aber nebenan, auf seinem Schreibtisch, lag im hellen, gelben Strahlenkreis[S. 330] der Lampe ein geschlossener Brief. Ohne Aufschrift. Offenbar von ihr. Er riß ihn auf. Es waren die Schriftzüge seiner Frau. Er las:


»Wenn wir uns schon trennen sollen, weil es Dir so beliebt, so will ich wenigstens nicht die sein, die zu Schimpf und Spott in dem leeren Haus sitzen gelassen wird. Dann will ich es wenigstens sein, die Dich verläßt und die zuerst das Haus verläßt, und Du magst dann selber den Schlüssel abziehen. Gib ihn bitte an Frau Hauptmann von Japorski. Sie hebt ihn schon auf und sieht in der Wohnung nach dem Rechten. Sie soll so gut sein und tüchtig lüften, damit die Nordseite nicht muffelt! Sonst habe ich mit dem Hauswirt Ärger, wenn ich zum Umzug zurückkomme. Vorläufig gehe ich zu Mama nach Darmstadt und bleibe, bis Du unterwegs bist. Ich fahre jetzt, während Du im Kasino bist, zum Abendzug auf den Bahnhof. Das habe ich mir schon seit Tagen überlegt. Weiter habe ich Dir jetzt nichts zu sagen. Du willst ja auch von mir nichts wissen. Also leb vorläufig wohl!

Ulla.«


Der Hauptmann von Logow faltete langsam den Brief zusammen. Das Frösteln der Einsamkeit überlief ihn. Draußen schwieg die Nacht. Das Haus lag still und verlassen und blieb es, bis er am nächsten Abend mit einem schweren Aufatmen das Flurtor hinter sich ins Schloß drückte. Am Vormittag hatte er sich überall abgemeldet. Eigentlich sollte er erst am kommenden Morgen fahren. Aber er wollte nicht die Kameraden an der Bahn haben, kein lärmendes Abschiednehmen vor allen, keine erstaunten und neugierigen Fragen nach seiner Frau, deren Fehlen verriet dann im letzten[S. 331] Augenblick manches, was sonst hier allen für immer ein Geheimnis blieb. So hatte er eben an den Regimentsadjutanten ein paar flüchtige Zeilen mit der Bitte um Entschuldigung gesandt, daß er so plötzlich ohne Abschied abreise, um sich mit seiner schon vorausgefahrenen besseren Hälfte bei deren Mutter zu treffen. Er stand vor dem Hause mit den geschlossenen Fensterläden, aus dem seine Frau schon vor ihm gegangen war; er blickte hinüber nach dem Kirchhof, wo sein Kind begraben lag — alles hier war eine große Trümmerstätte von Hoffnung und Glück. Er drehte ihr den Rücken und schritt dem Bahnhof zu. Die Abendsonne sank hinter den Vogesen und wies ihm in geheimnisvollem Leuchten den Weg gen Westen, übers Meer, in das neue Land.

Achtundvierzig Stunden später stand er an Bord des großen gelben Hamburger Dampfers, der langsam die Elbe hinabfuhr. Der Hafen lag schon hinter ihnen. Rechts glitten die Höhenzüge vorbei, die Parks und Schlösser, Flottbeck, die Teufelsbrücke, Blankenese mit seinem hohen Wartturm. Links ragte aus der weiten Ebene der Fischermastenwald, die niederen Dächer von Finkenwerder. Und breiter und breiter ward der Strom. Er weitete sich zum Haff. Dort, schon in der Ferne, über der unruhig gewordenen See, lag Cuxhaven. Ein paar Ozeanriesen der Hamburg-Amerika-Linie davor.

»Das ist die alte Liebe!« sagte jemand neben ihm und erklärte, so heiße dort der Pier — der äußerste des Festlandes — die Abfahrtsstelle über das große Wasser. In Erich von Logow klang das Wort nach: Alte Liebe ... ja ... das war der letzte Ruf aus der[S. 332] Ferne — das war es, was ihn in die Weite trieb. Darin war alles beschlossen — des Lebens Rätsel und des Lebens Qual. Er schaute zurück, und es lag stumm auf seinen Lippen: Du alte Liebe ... du ewig neue ...

Nun war der Küstenstreifen schon beinahe ganz verdämmert. Europa versank. Der Wind pfiff stärker und knarrte im Takelwerk. Die Möwen kreisten und schrieen. Das Schiff schwankte, und so weit das Auge reichte, rauschte grauzerpflügt das Meer ...

[S. 333]

16

»Morgen marschieren wir,
Ade — ade — ade — ade!
Morgen marschieren wir —
Ade — ade — ade ...
Wie schön schlug heut' die Nachtigall
Vor meiner Liebsten Haus ...«

Hunderte von rauhen Kehlen sangen, die Gewehre starrten kreuz und quer über den regennassen Helmen, es ging ohne Tritt mitten durch die Straßen von Darmstadt. Kriegsgemäß. Es war Manöver. Kaisermanöver. Dort im Süden, gegen den Neckar zu, stand der Feind.

In grauen Strähnen strömte der Herbstregen herunter. Der Boden war ein zäher Brei, aufgeweicht von Nagelstiefeln, Rossehufen und Kanonenrädern der endlos von Frankfurt her durchrückenden Kolonnen, die Bürgersteige, die Fenster und Balkons schwarz von Menschen. Undurchdringliche Schilddächer von Regenschirmen säumten die Wegkreuzungen ein. Über ihnen sah man nur die Pferdeköpfe und die Oberkörper der berittenen Offiziere vorbeigleiten. Maximiliane von Glümke versuchte, vom Darmstädter Bahnhof kommend, seit zehn Minuten vergeblich, den Schnittpunkt der Rhein- und der Neckarstraße am Zivilkasino zu überschreiten, nachdem ihr Suchen nach einem Wagen heute[S. 334] vergeblich gewesen war. Sie stak, das Reisetäschchen in der Hand, ihre Jungfer neben sich, mitten in der Masse. Vor ihr zog es immer weiter vorüber: Generale mit ihrem Stab — Lanzenwälder, Pausen, in denen nur das dumpfe Poltern auf dem Pflaster verriet, daß Artillerie durchpassierte, und wieder schwere, schulternde Infanteriemassen. Es war ohne Anfang, ohne Ende. Es schien das achtzehnte Armeekorps zu sein. Maximiliane erkannte durch die Lücken der Menschenmauern zuweilen die Uniformen der nassauischen und kurhessischen Regimenter — das Artillerieregiment Oranien — die Wiesbadener und Homburger Füsiliere. Jetzt eben entstand im Vorbeimarsch der Einundachtziger, der Frankfurter, ein Halt. Sie benutzte die Gelegenheit und ging mit der Sicherheit einer Soldatenfrau zwischen den Sektionen hindurch. Auf der anderen Seite der breiten Rheinstraße war auch noch alles voll von Menschen, die ganze Stadt in festlich verregneter Stimmung, aber man kam doch vorwärts. Beim weißen Turm trat die junge Generalin in einen Blumenladen ein und kaufte einen Strauß zur Begrüßung für ihre Mutter, zu der sie heute für einige Zeit auf Manöverbesuch kam. Während sie auf das Binden wartete, schaute sie durch die regenblinden Scheiben ins Freie hinaus. Soldaten ... immer wieder Soldaten ... auch hier ... nicht die gewohnten Truppenteile, die man im Frieden sah, sondern ganz sonderbare Formationen aus der probeweisen Mobilmachung eines Armeekorps mit kriegsstarkem Train — lange ernste Munitionskolonnen, rauchende Feldbäckereien auf Rädern, Reservehufschmieden, Ambulanzen mit dem roten[S. 335] Genfer Kreuz, fauchende Lastautomobile, dann, von Pionieren bewacht, eine Karrenreihe mit großen, darauf verpackten Trögen, ein Pontonbrückentrain, rechts, um die grauen Massen des Schlosses herum, am Theater vorbei bis in die Altstadt hinein, Hunderte von stillhaltenden Leiterwagen mit Heu und Stroh, von Odenwälder Bauern mit Vorspannpferden geführt — ein Bild wie aus dem Dreißigjährigen Krieg. Die junge Frau riß plötzlich die Glastür auf und rief: »Dorle ... Dorle ...!«

Eine kleine rundliche Dame und ein zwei Köpfe größerer, knochiger Herr in Zivil drehten sich um. Jawohl: sie waren es ...! Dorle Grotjan stieß einen Schrei des Entzückens aus und flog ihrer schönen Schwester entgegen. Ihr Gatte, der nun schon Hauptmann bei seinen dreißigsten Pionieren in Thorn war, küßte ihr, der Exzellenz, respektvoll die Hand.

»Ja ... unsere Festungsübungen an der Weichsel waren vorgestern zu Ende. Da sind wir rasch mal hier zu Muttern 'rüber!« sagte er ganz aufgeregt auf ihre Frage. »So was sieht unsereins nicht alle Tage ... Schau nur die Brückentrains ... der Neckar wird morgen an fünf Stellen zugleich von fünfzigtausend Mann überschritten! Großartig! ... was?«

»Ach, das ist noch nichts!« rief Dorle dazwischen. »Von der Rosenhöhe aus solltest du einmal sehen! ... Die ganze Rheinebene, bis Frankfurt hin — alle Straßen schwarz!«

Und ihr Mann ergänzte begeistert: »Das ist das elfte Korps. Und heute nacht ist das ganze bayerische Armeekorps mit Sack und Pack, Pferden ... allem ...[S. 336] in achtzig Zügen von München hier herüber. Sie schiffen sich eben zwischen Aschaffenburg und Frankfurt aus ...«

Das Ehepaar war wie berauscht. Die junge Exzellenz blieb kühler, an kriegerischen Trubel im großen Stil gewöhnt. Sie frug: »Wo ist denn der Kaiser?«

»Der Kaiser ist noch in Mainz! Das Hauptquartier geht morgen von dort direkt gegen den Neckar, in die Gegend von Ladenburg ... Der Großherzog von Hessen ist auch drüben in Mainz. Eine Menge Fürstlichkeiten! Wir waren gestern in Mainz ... Ich sage dir: die Stadt steht auf dem Kopf! Ein Menschengewühl ... ein Leben ... alles voll Fahnen ...«

»Dabei nichts mehr zu essen und zu trinken!« lachte Frau Dorle. »Die Leute übernachten im Freien!«

»Und wir kommen hier auch nicht von der Stelle,« sagte die Generalin etwas ungeduldig. Im selben Augenblick hatte ein höherer Offizier zu Pferde, ein früherer Untergebener ihres Mannes, sie erkannt. Er grüßte Maximiliane ehrerbietig und wetterte dann den nächsten Ulanenleutnant an, der, das Reservekreuz auf der Tschapka, sehr mißvergnügt, weil er und viele Leidensgefährten, statt vor der Front querfeldeinzusprengen, hier Fuhrknechte und Karren bewachen mußte und teilnahmslos von seinem durchnäßten Gaul über diese vierräderige Trübsal hinweg ins Graue blickte.

»Zum Donnerwetter, Herr ... wozu hat Sie denn der liebe Gott erschaffen und hierher gestellt, wenn Sie sich um nischt kümmern? ... Da steht Ihre Exzellenz womöglich schon seit einer Stunde und wartet auf Durchlaß ...«

[S. 337]

»Oh ... Pardon ...«

Der Reserveleutnant riß, zu plötzlichem Eifer erwacht, höchst eigenhändig den nächsten Karrengaul zur Seite. »Platz für Ihre Exzellenz!« befahl er. Hinter dem Wagen schrie ein Unteroffizier: »Platz für Exzellenz!« Andere Stimmen wiederholten es: »Platz für Exzellenz!« Niemand wußte mehr, wer die Exzellenz war. Aber es bildete sich eine Gasse, durch die hindurch die drei in ruhigere Straßen und zum Hause der verwitweten Frau von Ottersleben gelangen konnten.

Maximilianes Mutter wohnte mit ihrer ältesten Tochter außerhalb der eigentlichen Stadt gegen die Bessunger Kasernen zu. Es waren helle, freundliche Zimmer. Im vordersten stand, im eleganten Zivil, Otto von Ottersleben mit seiner Frau, und schaute tiefsinnig auf den Heereszug hinunter. Die Scheiben klirrten von dem dröhnenden Schritt der Bataillone, die Fensterrahmen zitterten unter dem Gerümpel der Geschützräder — jetzt setzte die Musik ein — ein Reitermarsch schmetterte durch Grau und Regen ... lieber Gott ja — so war man früher auch mit hinausgezogen, hatte sich den Landstraßendreck ins Gesicht spritzen lassen und die Flöhe im Bauernbett gezählt und im Stall drauflos gedonnert, weil der Einjährige Meier die Roßäppel nicht mit seinen eigenen verehrlichen Pfoten zusammenkratzen wollte. Jetzt war man ein freier Mann — konnte tun und lassen, was man mochte. Besaß sein eigenes Rittergut in der Ostmark. Aber auf Otto von Otterslebens hübschem Gesicht lag ein Schatten, während er sich von den Soldaten unten ab- und den Seinen im Zimmer zuwandte.

[S. 338]

Dort hatte Maximiliane inzwischen lachend die Mutter umarmt. Frau von Ottersleben erwiderte ihre Küsse. Dann entschuldigte sie die Älteste: »Ulla kommt gleich! Sie hat eben einen langen Brief gekriegt von ihrem Mann, aus Südamerika.«

»Wie geht's ihm denn?«

»Es scheint ganz gut, Maxe! ... Aber 's ist doch recht traurig! ... Da sitzt die arme Ulla nun hier ... Ich bin ja froh! Ich habe dadurch Gesellschaft! Ihr andern kommt ja doch nur alle Jubeljahre mal! ... Sogar du, Maxe!«

»Ja, eben wegen der Ulla, Mama!« sagte die junge Exzellenz, ernst geworden. »Ich bin ihr doch ein Dorn im Auge!«

»Warum denn nur, Kind?«

»Ich weiß nicht! ... Ich geh' ihr aus dem Weg, wo ich kann. Aber heute ist's mir gleich. Ich muß dabei sein, wenn mein Mann ... o Gott ... was werden die Leute draußen naß!... Er natürlich auch!... Er schont sich ja nie ...«

Schallend dröhnte es unten aus der grauen Flut von Helmen, Gewehrläufen und gerollten Mänteln:

»Der Hauptmann, der führt uns,
Er geht uns kühn voran.
Wir folgen ihm mutig
Auf blutiger Siegesbahn ...«

Und während die eine Kompanie da vorn im Regen verschwand, hallte schon der Chor der nächsten:

»Er führt uns jetzt
Zu Kampf und Sieg hinaus,
Er führt uns deutsche Brüder
Ins Vaterhaus!«

[S. 339]

Und der gestrenge Kompaniechef, der in seinem nassen Mantel vor den Seinen ritt, wandte wohlwollend den Kopf im Sattel zurück, zufrieden, daß seine Kerls trotz des Schweinewetters fidel waren, und die jungen Leutnants, die leichtfüßig, mit ihrem kleinen Tornister auf dem Rücken, neben ihren Sektionen schritten, sangen aus Langeweile mit, während es sich weit, weit in der Ferne in tausendstimmigem Chor verlor:

»Und wer den Tod
Im heilgen Kriege fand, ja fand,
Ruht auch in fremder Erde
Im Vaterland! ..«

Dann plötzlich Stille unten. In der Menschenmenge ein beinahe ehrfürchtiges Schweigen. Ein Generalkommando kam vorbei. Vorne der Kommandierende im Auto mit dem Chef und den Herren seines Stabes. Ein hellblauer, blondbärtiger, von Aschaffenburg herübergekommener Bayer ritt nebenbei und stenographierte sich im Gespräch mit einem der Adjutanten im Sattel Notizen in sein Taschenbuch. Dahinter die Ordonnanzoffiziere, die Stabsordonnanzen in schimmerndem Stahlhelm, berittene Burschen mit Handpferden, und weiter, zu Roß und zu Wagen, all das Gefolge: Militärintendanten, Stabsärzte, Kriegsgerichtsräte, Feldgeistlichkeit, Stabsveterinäre, Aktenfuhrwerk, eine Abteilung eines Telegraphenbataillons mit Sack und Pack — es dauerte lange, bis der Zug des Allgewaltigen vorbei war, und eben sagte Dorle Grotjan, die kleine Hauptmannsfrau, mit einem Anflug von Neid und Bewunderung zu ihrer Schwester: »So weit werdet ihr nun auch bald sein, Maxe!«

[S. 340]

»Oder wir gehn in Wiesbaden unterm Regenschirm spazieren!« lachte die junge Exzellenz. »Wir sind auf alles gefaßt!«

Neben ihr versetzte ihr Bruder Otto: »Und ich hab' manchmal umgekehrt förmlich wieder Lust, ein bißchen mitzumachen!«

Durch die Hülle des Millionärs und Dandys hindurch regte sich in ihm beim Anblick des Waffentreibens da unten das kriegerische Blut seines Stammes. Die Tür zum Nebenzimmer ging auf. Ulla von Logow kam herein, den Brief ihres Mannes in der Rechten. Sie ging auf Maxe zu und reichte ihr gleichmütig die Hand in einer Art von geistesabwesender Ruhe, die nichts Feindseliges an sich hatte. Sie erzählte ganz unbefangen von dem, was Erich von Logow ihr schrieb. Jeden Monat einmal kam ein Brief von ihm. Es stand ungefähr immer dasselbe drin, wie heute: Viel Dienst — viel Ärger — viel Strapazen — etwas Erfolg — annähernd so eben das, was er sich gewünscht und erwartet hatte. Ihr, seiner Frau, schien es mit der Gesundheit besser zu gehen. Sie sah wohler aus, sie war etwas lebhafter als früher und schlug selbst nach Tisch, als der Himmel sich aufzuhellen begann, ihrer Schwester Maximiliane, die sie seit fast einem Jahre, seit ihrer schweren Krankheit, nicht mehr gesehen, einen Spaziergang vor. Es war dabei etwas in ihren dunklen, ruhigen Augen, das hieß: Ich habe mit dir zu sprechen. Die beiden jungen Frauen machten sich fertig und traten vorsichtig, die Röcke zwischen den Regenpfützen raffend, hinaus in das Straßengewühl.

Ringsum war heller Jubel. Ein Lärm wie noch[S. 341] nie. Die einheimischen Truppen marschierten durch, die Regimenter der fünfundzwanzigsten Division, die bisher in Oberhessen im Manöver gewesen. Zwar die Kavalleriebrigade, die russischgrünen Dragoner mit ihren roten und weißen Krägen, war schon längst voraus in der Rheinebene, wo der Vortrab der Reiterschwärme seit dem Morgen mit dem Gegner plänkelte und seinen Vorpostenschleier zu zerreißen suchte, aber die ganze Straße hinunter war alles voll von den Hundertfünfzehnern und ihren weißen Gardelitzen und ihrem klingenden Spiel. Auf Hunderten und aber Hunderten von Helmen schimmerte unter dem hessischen Löwen die Jahreszahl »1621« des zweitältesten Regiments der Armee, das noch den Beginn des Dreißigjährigen Krieges gesehen, die langen Kerle der Leibkompanie grinsten und nickten in die Menschenmauern, Zurufe und Scherze flogen, Gejohle, Mädchengekreisch — die Babettchen und Sannchen am Küchenfenster winkten ihren Gardisten und Gardefüsilieren zu. Und hinterdrein fluteten die weißen Achselklappen der Gießener, die blauen Mainzer, die gelben Offenbacher — ferne Musik kündete das Nahen immer neuer Truppenteile — es hatte den Anschein, als höre das nun überhaupt nicht mehr auf, als würde, so wie ein Strom tagaus tagein durch sein Bett fließt, die deutsche Armee ohne Ende ihre bunten Fluten hier vorüberwälzen. Die beiden, Frau von Glümke und Frau von Logow, hatten eine Weile mit unwillkürlichem Sachverständnis dem Vorbeimarsch zugeschaut. Dann wandten sie sich ruhigeren Gassen zu nach der Altstadt und, an der verlassenen Kaserne des Leibgarderegiments[S. 342] vorbei, durch die Dieburger Straße hinaus ins Freie. Hier war es mit einem Schlag einsam und still: schwach violett, sanftgestreckt, zum Greifen nah, lagen in der klaren Luft die Odenwaldberge. Ein Sergeant in blauer Feldlitewka kam mit einer Meldung von dort, von Osten her, in rasender Eile auf einem knatternden Motorzweirad, heran und flitzte wie ein Schatten vorbei — dann zwei, drei Militärradfahrer — Es war hier wie ein Verklingen des großen kriegerischen Schauspiels in der Ferne — Nun rührte sich wieder nichts. Noch prangte das bunte Laub an den Bäumen und zeigten im Geäst auf den Feldern die Äpfel ihre roten Backen. Aber mehr als ein welkes Blatt kreiste bei jedem Luftzug zu Boden, deckte die Erde, daß man beim Gehen das herbstliche Rauschen unter den Füßen hörte, wie eine Mahnung: die grauen Tage sind nah. In dies leise, müde Knistern klangen jetzt von ferne her dumpfe, hallende Schläge. Sie waren viele Stunden weit entfernt. Man hörte sie nur, wenn gerade der Wind aus Südwesten kam. Dann war es, als grollte dort drüben über der Rheinebene ein Gewitter: die beiden Schwestern waren stehen geblieben und horchten, und Maxe sagte: »... Kanonen! ... Jetzt geraten sie schon ordentlich aneinander ...«

Und dann im Weitergehen: »Möchte nur mein Mann so recht tüchtig nach vorn 'rankommen! ... Unter den Augen von Majestät!«

»Er wird schon!« meinte Ulla phlegmatisch.

»Ja — wenn alle Leute die Dinge so pomadig ansähen wie du! ... Glück muß der Mensch haben! ...[S. 343] Gottlob ... Olaf hat's eigentlich immer! ... Er ist so veranlagt! ... Er zwingt sich's herbei ...«

Die blasse brünette Frau neben ihr nickte. Sie sagte gepreßt, in einem Ton, der ihre eigene Schicksalslast verriet: »Freilich ... du bist zu beneiden, Maxe ...«

Nach einer Weile setzte sie schleppend und traurig hinzu: »Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast!«

Sie waren dicht vor dem Waldrand der Fasanerie. Aus dem schoß jäh ein Automobil, stutzte an der Wegkreuzung und stand still. Ein älterer, vornehmer Herr in der Uniform des Freiwilligen Automobilkorps führte es. Neben ihm und hinter ihm im Wagen saßen gedrängt Generalstabsoffiziere mit umgeschnallten Feldstechern und Landkarten auf den Knieen. Er lüftete seine Kappe: »Bitte, meine Damen! Ist das der nächste Weg nach Darmstadt? ... Ja? ... Danke gehorsamst! Danke!« Und schon war alles wieder in Rattern und Benzindampf um die Ecke.

Ulla von Logow ließ im Weitergehen den Kopf hängen. Ihre dunklen, schwermütigen Augen hafteten am Boden. Sie sah ihre Schwester nicht an.

»Wenn man so zurückdenkt, wie das alles so gekommen ist, Maxe,« sagte sie. »Und wenn man sich mit dir vergleicht ... ich bin doch in einer recht elenden Lage — nicht? In einer lächerlichen: wenn ich Witwe wäre, so wär' ich frei. Wenn ich geschieden wäre, so wär' ich frei! ... Wenn ich du wäre oder die Dorle, so hätt' ich meinen Mann. So aber hab' ich keinen Mann und bin doch nicht frei! Ich hab' nur das Elend von beidem. Und weiter nichts! ... Das ist doch eine[S. 344] Lage, in der sonst niemand ist ... Ich kann mir das gar nicht erklären ... Ich hab' immer das Gefühl, daß irgendwie ein großes Unrecht an mir begangen worden ist!«

Sie kämpfte mit sich und setzte mit Überwindung hinzu, während es vor Bitternis um ihre Lippen zuckte.

»Siehst du, Maxe — so weit bin ich schon gekommen — so verlassen und überflüssig fühle ich mich ... daß ich mich schon an dich klammere ... An dich! ... Ich muß mir selber immer klar machen, was das heißt! ... Denn du bist doch meine natürliche Feindin im Leben ...«

»Ich bin deine Schwester, Ulla ...«

»Ach Gott ja ... deswegen gehen wir doch an dir zugrunde, er und ich — und es drückt mir das Herz ab, und ich kann es niemandem ausschütten als dir ... ausgerechnet dir ... ich muß ... wenn ich dich seh', muß ich von ihm sprechen! ... Ich hab' gar keinen Stolz — nicht?«

Sie lachte verzweifelt auf und fuhr fort: »Ja. Es war damals eine Vernunftpartie. Aber du hast nachher doch auch eine gemacht — sogar noch viel offenbarer — warum ist's nun bei dir damit so gut ausgegangen und bei mir so jammervoll? Das möcht' ich bloß wissen!«

»Vielleicht, weil ich vorher mein Herz hab' zum Schweigen bringen müssen!« sagte Maximiliane. »Das ist dir erspart geblieben! ... Du hast ja nie in deinem Leben wirklich geliebt — höchstens dich lieben lassen ... Du weißt nicht, was man da durchmacht ...«

Die beiden jungen Frauen schwiegen. Sie schritten[S. 345] unter den hohen Buchen des Waldes dahin. Hier merkte man nichts mehr von dem Krieg im Frieden draußen. Kein Mensch war zu sehen. Ulla schaute noch immer vor sich, auf die knorrigen Wurzeln, die quer über den Pfad liefen und den Fuß hemmten. Dann hob sie plötzlich den Kopf und sagte: »Du meinst, ich hätte nie geliebt! Weißt du, daß das ein schreckliches Wort ist, wenn's wahr ist?«

»Ja.«

»Aber es ist nicht wahr!«

Sie holte tief Atem.

»Weißt du, Maxe ... wie du damals anfingst, auf ihn Eindruck zu machen, da kam's über mich! Da fing ich an und wollt' ihn selber haben. Da war's schon zu spät. Da entglitt er mir. Es war ein verzweifelter, aussichtsloser Kampf all die Jahre — eigentlich nicht gegen ihn, sondern gegen dich. Du warst mein Verhängnis ... Sei nicht böse ... Ich mein' es auch
nicht böse. Du kannst ja nichts dafür. Ich hab' es wohl auch nicht richtig angepackt. Ich hatte Zeiten der Mutlosigkeit und Verbitterung ... Da hab' ich die Hände in den Schoß gelegt und die Dinge laufen lassen, wie sie wollten, und ihn durch meine Gleichgültigkeit erst recht wieder abgestoßen, zu dir hin ... immer zu dir ... ach Gott, Maxe — was hab' ich gelitten durch dich ... Und du warst unterdessen in Glück und Glanz!«

»Komm, wir wollen umdrehen, Ulla,« sagte die Generalin. »Es wird zu spät. Ich versäume sonst noch in der Stadt meinen Mann!«

Die beiden Schwestern schlugen den Rückweg ein.[S. 346] Nach kurzer Pause hob Frau von Logow wieder an: »Ja, dein Mann ... du hast einen Mann! Aber ich ... meiner ist fern ... und seit er fern ist, weiß ich erst ganz, was ich an ihm hab'! Glaub mir, Maxe — diese Zeit unserer Trennung — die hat aus mir einen anderen Menschen gemacht. Ich bin so weich geworden — so voll Sehnsucht ... ich fühle mich so verlassen ... ich lieb' ihn so ... ich hab' ihn schon die Jahre geliebt — aber nie so wie jetzt ... jetzt ist das alles erst ganz in mir wach geworden ... ich weiß jetzt, daß ich im Leben nie mehr etwas ohne ihn anfangen kann, nie mehr froh werden ohne ihn ... Ich denke nur an ihn ... ich zähle die Tage, bis die Post aus Südamerika kommt ... Gottlob ... seine Briefe sind immer lang und freundlich ... er ist gut zu mir übers Meer ... ich bin so glücklich, wenn ich sitzen und ihm schreiben kann ... ich rechne mir jetzt schon immer aus: In zweieinhalb Jahren ist's überstanden. Dann kommt er zurück. Dann hab' ich ihn wieder ...«

»Aber warum fährst du denn nicht jetzt gleich zu ihm hinüber? Es hält dich hier doch nichts?«

Ein tiefer Kummer legte sich über Ullas bleiche Züge.

»Ich hab' zwei, drei Ärzte gefragt! Immer dasselbe: Mit meiner Lunge geh' ich in dem Klima da drüben in kurzem drauf. Oder wenn nicht ganz, so doch halb! Darunter hat er schon hier genug gelitten. Was macht er erst dort mit einer siechen Frau, ohne rechte Pflege? Das darf ich ihm nicht aufpacken! Da verliert er wieder seine Spannkraft. Daran will ich nicht schuld sein. Ich muß schon hier bleiben und warten.[S. 347] Ich entziehe ihm ja dadurch nichts. Er braucht mich ja nicht. Nur ich ihn ...«

Ein warmer Schimmer durchleuchtete ihre großen dunklen Augen. Um ihre blassen Lippen spielte ein hoffnungsvolles Lächeln.

»Wenn er dann wieder daheim ist, dann kommt meine Zeit! Dann will ich alles daran setzen, um alles wieder gutzumachen. Dann muß er mein sein und bleiben. Ich möchte bloß leben bleiben, um das Glück zu erleben!«

Sie blieb stehen und faßte die Hand der Jüngeren.

»Und das, Maxe — das ist der Segen für mich, daß ich mich auf dich verlassen kann. Du hast ja alles in der Hand. Aber du hast ihn nie mit einem Blick, mit einer Silbe auf etwas anderes als auf seine Pflicht hingewiesen! Und das hat mir den Mut gegeben, jetzt mit dir so offen darüber zu reden. Ich weiß: wenn er zurückkehrt, wirst du, die du selbst so glücklich bist, mein Glück nicht stören ...«

»Da sei Gott vor!« sagte Maximiliane von Glümke leise und ernst.

Die zwei jungen Frauen blickten sich an und beugten sich dann, von der gleichen Eingebung ergriffen, mit einem schmerzlichen Lächeln gegeneinander und gaben sich einen stummen, schwesterlichen Kuß. Beide hatten Tränen in den Augen. Still kehrten sie in die Stadt zurück.

Dort war immer noch dasselbe Bild: Menschenmauern, über ihnen, in rastlosem Dahingleiten, die Züge der Pickelhauben und Gewehrläufe, Pferdeköpfe, eine in schwarzes Wachstuch gewickelte Fahnenstange[S. 348] — der Schellenbaum mit Glöckchengeklingel und Roßschweifwehen — Paukenschlag und Trompetengeschmetter — immer neue Regimenter und Bataillone. Von den Fenstern der Otterslebenschen Wohnung sah man nicht mehr auf sie hinunter. Alle standen und musterten ein paar sonderbare, kreisende Libellen fern in der Luft, über dem Waldsaum, der den Exerzierplatz hinter dem Bahnhof abschloß. Das waren Militärflugzeuge, die vom Griesheimer Sand herüberkamen. Sie flatterten, verschwanden wieder in der Richtung gegen den Rhein, und während noch die Blicke der Familie an den Luftseglern hingen, wandte sich Maximiliane mit einem plötzlichen leisen Aufschrei der Freude um und lief nach der Tür. Sie hatte draußen die Stimme ihres Mannes gehört. Fast zugleich stand er schon auf der Schwelle, streckte lachend die Arme aus und zog sie stürmisch an sich.

Exzellenz von Glümke war feldmarschmäßig gestiefelt und gespornt, so wie er eben aus dem Sattel gestiegen. Sein Gefolge hielt als ein stattlicher Reitertrupp, Generalstäbler, Adjutant, Stabsordonnanzen, Burschen mit Handpferden, vor dem Hause inmitten einer rasch zusammengeströmten Menge von Neugierigen. Er war seiner nachrückenden Division vorausgaloppiert. Ein Hauch von Herbstluft und Stoppelwind, von Frohsinn und Frische des Manövers umwitterte ihn. Seine Wangen waren gerötet. Seine blauen Augen blitzten. Jetzt, wo der Helm das angegraute Haar bedeckte, glich er in der Lebhaftigkeit seiner Sprache, dem Ungestüm seiner Art weniger einem preußischen General der schweigsamen, gemessenen[S. 349] Moltkeschen Schule als einem Napoleonischen Marschall, einem der verwegenen Troupiers, die auf Mord und Kaput die Truppen mit sich in das Feuer und zum Siege rissen. Er goß ein Glas Wein herunter, das ihm seine Frau gebracht, wischte sich den Schnurrbart und lachte.

»Na — nu geht's los! ... Eine Riesenwirtschaft ... Drüben am Main, wo ich herkomm', ist alles himmelblau von Bayern. Die sind noch zurück. Aber sie schließen mit einem Nachtmarsch auf. Morgen wird was an Pulver verknallt ...«

»Schade nur, daß du so weit hinten bist!« meinte Maximiliane betrübt.

Er verneinte eifrig.

»Schadet gar nichts, Schatz! Die Teten beißen sich doch am Feinde fest. Die kommen doch nicht vorwärts. Aber wir marschieren am Flügel auf ... Ich hab' so die Idee, daß wir uns bei Weinheim seitwärts in die Büsche schlagen ... das wäre ein Spaß: über den Odenwald urplötzlich morgens die Württemberger und Badenser aus ihren Biwaks kitzeln ... na ... Gott geb's!«

Er küßte seine Frau zum Abschied.

»Also hört mal ... wer von euch morgen was sehen will — meine Heldentaten im Gebirge könnt ihr doch nicht verfolgen — immer dahin, wo Seine Majestät ist ... in die Rheinebenelinie Heidelberg—Ladenburg—Mannheim — sag mal, Otto ... schämst du dich nicht an so 'nem Tag wie heute bis in die Knochen, als freiwilliger Ziviliste? Junger, gesunder Kerl und spielt den Schlachtenbummler und läßt sich von uns alten[S. 350] Leuten was vorschwitzen und vorgaloppieren ... Unter den Augen des Kriegsherrn?«

Otto von Ottersleben wandte sich finster ab. In der Tür erschien die Gestalt des Divisionsadjutanten.

»Ich bitte gehorsamst um Entschuldigung, gnädige Frau! ... Exzellenz: die Spitzen der Division sind schon...«

Von unten klang neue, rasch näherkommende Musik durch den ewigen, gleichmäßig schütternden Marschschritt der Bataillone. General von Glümke winkte.

»Ja ... ich komm' schon, mein lieber Gutgesell! Adieu, Kinder! ... Gott ... wird das morgen famos!«

Er eilte die Treppe hinab. Unten auf der Straße ertönten die gellenden Rufe: »Achtung!« Und pflanzten sich weithin über die marschierenden Kolonnen fort, um dem Divisionskommandeur den Weg links frei zu machen. In sausendem Galopp flog der General von Glümke mit seinem Stab an ihnen vorbei, gegen Süden, in der Richtung wider den Feind.

[S. 351]

17

Gegen Mitternacht hörte endlich der Durchzug des Heerwurms durch Darmstadt auf. Es wurde allmählich sonderbar still. Nur noch vereinzelte Nachzügler tröpfelten hinterher — Zahlmeister und geheimnisvolle graue Karren, die die Kriegskasse oder sonst etwas bargen, Offiziere, die noch hinter der Front mit dem Etappenwesen zu tun hatten, Telegraphenbeamte, Gendarmen zu Pferde und zu Fuß. Und schon sandte in den frühen Morgenstunden das Manöverfeld seine ersten Gefechtsschlacken zurück — einen Leiterwagen voll fußkranker Soldaten, Reservisten, Unteroffiziere, Einjährige, Gemeine bunt durcheinander auf dem Stroh, huflahme Gäule, die unwillig über das Pflaster hinkten, ein Bernerwägelchen mit einem an Kopf und Arm verbundenen Husarenleutnant, der beim Aussteigen vor dem Garnisonlazarett zu dem Assistenzarzt lachte: »Heute kriegen Sie noch mehr unter die Finger, Doktor ... Die Gäule stürzen bei dem nassen Boden wie die Deubels!«

Von dem Kampfe selbst merkte man in den Vormittagsstunden in der Stadt nur den fernen Kanonendonner. Von wo er kam, ließ sich nicht sagen. Das Wetter grollte überall. Es brummte aus den Odenwaldtälern, es böllerte an der Bergstraße, es dröhnte von der Rheinebene, selbst jenseits des Stroms, bis[S. 352] zum blauen Haardtgebirge hin murrte es tief und schwer, wie sonst bei elektrischer Schwüle im Hochsommer. Den ganzen Mittel- und Unterlauf des Neckars entlang, von Württemberg und durch Baden bis in die bayerische Pfalz, feuerten Hunderte von Geschützen. Viele Stunden weite Strecken gab es dazwischen, tiefe Waldeinschnitte des Flußbetts, in denen man nichts von dem Manöver sah, und auch in dem Teil der Rheinebene hinter Darmstadt, durch den Otto von Ottersleben sein elegantes Automobil lenkte, war es menschenleer. Der Kasten kostete ja jährlich eine Stange Gold. Aber wozu hatte man den reichen Schwiegerpapa? Zwei bebrillten Eisbären ähnlich, saßen er und seine Frau mit dem Chauffeur auf den Vorderplätzen, dahinter Maximiliane und die Grotjans, Ulla hatte nicht mitkommen wollen. Es regnete nicht. Aber der Himmel war grau, die Luft undurchsichtig. Schlechtwetterwind blies von Südwesten, von den Vogesen her. Man hörte überall da vorn die Schlacht, aber man konnte nicht erraten, wohin sie sich zog. Die Wälder von Obstbäumen und Hopfenstangen, die vielen Dörfer versperrten die Aussicht. Auf der niedrigen Hügelfläche von Lorsch stoppten sie unter dem Torbogen aus Karolingerzeit, der allein an die einstige Klosterherrlichkeit erinnerte. Auch von da sah man nichts als zwei oder drei große Fische in der trüben Luft schwimmen — lenkbare Luftschiffe, die über den Heeren kreuzten — dort, über dem Fabrikqualm von Mannheim, an seiner schlanken Weiße kenntlich, ein nachts von Metz durch Lothringen herübergeflogener Zeppelin, hier, eilig neckaraufwärts, gen Osten steuernd, je nach der Beleuchtung bald eisengrau,[S. 353] bald hellgelb schimmernd, die plumper geformten Parsevals und Groß'.

»Hier ist nichts los!« sagte Otto. »Weiter!« Er ließ den Motor laufen und wandte sich nach einer Weile befriedigt zu den anderen. »Na endlich doch mal Menschen!«

Die weite Wiesenfläche rechts vor ihnen war bunt von Kavallerie. In zwei, drei Staffeln hintereinander hielten in langen, in der Ferne verschwindenden Reihen die Regimenter, Dragoner, Husaren, Ulanen — eine ganze Division, die Mannschaft abgesessen, die Pferde mit träge hängenden Köpfen, an langen Zügeln, hinter der Front das eilige Hämmern und der heiße Hornspangeruch der Feldschmiede, eine Gruppe Veterinäre um einen am Boden liegenden, in Kolik um sich keilenden Gaul, am Weg ein Trupp Leutnants von den reitenden Batterien, von denen ein paar ihren einstigen Kameraden Ottersleben von der Militärtechnischen Akademie in Berlin erkannten. Einer der Herren meinte: »Was wir hier tun? Sie sehen's ja: vorläufig nischt!«

Und ein anderer setzte hinzu: »Wenn Sie was sehen wollen, Sie Zivilstratege, dann kantern Sie mit Ihrer Benzindroschke immer der Nase nach. Bei der Ladenburger Brücke vor uns ist der Hauptklimbim!«

Hier, gegen den Neckar zu, kam man allmählich in den Hintergrund der Schlacht. Große Munitionsparks standen seitwärts in den nassen, von Rädern kreuz und quer zerfahrenen Äckern, Gruppen von Neugierigen säumten die Straßen — ein Zug von Leiterwagen mit kriegsgemäß requirierten Balken und Holzwerk arbeitete sich, von berittenen Pionieroffizieren angetrieben, unter[S. 354] Geschrei und Peitschengeknall vorwärts, und der die Oberaufsicht führende Generalstabsoffizier, der gestern Maximiliane den Weg durch den Train am Darmstädter Schlosse freigemacht, sprengte heran und erwiderte lachend auf ihre Frage: »Bin leider nicht ganz auf der Höhe der Situation, Exzellenz! Habe die angenehme Aufgabe, mich hier mit diesen vierräderigen Angelegenheiten hinter der Front zu befassen. Aber was von da durchsickert: danach fällt die Entscheidung, ob wir die Neckarlinie forcieren, auf den linken Flügel ... Man rechnet da sehr auf den Herrn Gemahl, Exzellenz ... Wenn Exzellenz sich da den Hügel hinauf bemühen, da hat man einen guten Überblick! ... Gendarm ... lassen Sie bitte die Herrschaften durch! ...«

Als die drei Offiziersfrauen oben standen und die Ebene überschauten, machten sie erstaunte Gesichter. Sie waren sämtlich mit Heeresdingen vertraut. Sie wußten: so wie man sich ein Manöver gemeinhin vorstellte, so war es längst nicht mehr. Es gab keine Bajonettangriffe mit klingendem Spiel und wehenden Fahnen, keine Führer hoch zu Roß, mit gezogenem Säbel, keine Karrees, an denen die Reiterschwärme brandeten. Aber doch war ihnen der Anblick hier oben verblüffend: das ganze Schlachtfeld war leer! Die Dörfer, die Obstwälder, die Felder lagen wie sonst in der trüben grauen Herbstluft. In der hörte man wohl schweres, wie unterirdisches Dröhnen der Geschütze und dazwischen ein schwaches, rastloses, unsichtbares Gehämmer und Geplacker des Kleingewehrfeuers, so als stiegen fortwährend Hunderte von Blasen aus einem siedenden Kessel — aber dabei blieb diese unheimliche, rätselhafte[S. 355] Öde, diese scheinbare Abwesenheit von Mann und Roß, und der Generalstabsmajor Eberwein, der abgesessen und den Damen gefolgt war, erläuterte: »Streng kriegsgemäß! ... Alles platt am Boden — eingebuddelt wie die Maulwürfe ... in den neuen grauen Felduniformen ... bitte ... hier ist mein Glas, Exzellenz!«

Jetzt, mit bewaffnetem Auge, erkannte Maximiliane die dünnen, wie Herbstspinnweb über den Äckern hin eingenisteten Schützenschwärme, dahinten die großen dunklen, am Boden niedergeduckten Massen der Regimenter, hinter einem Hause, jedem Blick des Feindes entzogen, ein Stab — ledige Pferde, Offiziere um einen mit Karten bedeckten Tisch, vorn, bäuchlings im Kartoffelkraut, ein Adjutant, das Fernrohr vor dem Gesicht — wenn man schärfer hinschaute, wimmelte es auf einmal auf den Stoppeln hinter dem schwachen Dunst der Schützenlinie von Tausenden von bedächtig kriechenden Schnecken. Die Unterstützungstrupps schoben sich behutsam wie Indianer auf dem Kriegspfad vor. Über dem allen ruhte, unter dem bleigrauen Himmel, ein sonderbarer Schauer, ein atemloses Bewußtsein: wer nur eine Sekunde aufrecht steht und dem Feind das Antlitz zeigt, ist ein Kind des Todes ... ein Zweidecker flatterte wie ein großer, geängstigter Vogel über dem schweigenden Bild dahin, nach rückwärts, nach dem Hauptquartier. Der Generalstabsoffizier schirmte die Augen mit der Hand und beobachtete es.

»Donnerwetter — der Aeroplan kam quer über den Odenwald! Alle Achtung! ... Das sind Nachrichten von unserem linken Flügel. Wenn der nur ordentlich[S. 356] um den Königsstuhl herumlangt und den Feind auf die Flanken drückt, dann kriegen wir hier vorne auch Luft. Ja, ich muß mich nun beurlauben! Empfehle mich gehorsamst, Exzellenz ...«

Maximiliane von Glümke schaute, nachdem der Major Eberwein sich wieder auf sein Pferd geschwungen, stumm in den finsteren, eintönigen Ernst des Kriegsbildes vor ihr. Es fiel ihr ein: So wie dieser Generalstäbler da, so würde auch Logow jetzt hier herumreiten und im Vaterland seine Pflicht erfüllen, statt fern überm Meer gleich einem Landsknecht in fremdem Sold und Dienst, und würde es seinen Vorgesetzten zu Dank machen und wäre wie früher ein Muster an Schneid und Eifer für die anderen, wenn ich nicht wäre! Ich hab' ihn von hier vertrieben. Ich bin der stete Stein auf seinem Wege! Der Gedanke erfüllte sie mit einer plötzlichen unendlichen Traurigkeit. Es mochte auch die Umgebung sein: der schweigende Himmel — die schweigende Schlacht — die schweigenden Tausenden da auf der Erde — alles so seltsam — so unwahrscheinlich ... dann merkte sie: es war der Nachhall des Gesprächs mit ihrer Schwester gestern. Sie hatte der armen Strohwitwe so viel Trost gegeben, als sie vermochte. Aber ihr selber war zumut, als sei erst seitdem, seit diesen Worten im Walde, Erich von Logow ganz aus ihrem Leben weg, gestorben da drüben in Chile, gestorben für sie ...

Die anderen hatten sich neben dem Auto auf die Plaids gesetzt und frühstückten. Ihr Schwager, der biedere, lange, sommersprossige Pionierhauptmann, hob lachend und mit vollen Backen seinen Becher: »Prost,[S. 357] Maxe: die vierundfünfzigste Division macht's!« Sie lächelte dankbar. Sie dachte an ihren Mann. Sie fühlte sich plötzlich erlöst. Er war ja da. Sie hatte ihn, und er hielt sie. Er hatte sie nie gefragt, was hinter ihr lag. Sie verschlang die Hände im Stehen und schaute weich und traumverloren hinüber nach den fernen, rotschimmernden Sandsteinbrüchen von Heidelberg und weiter nach den Odenwaldshöhen, aus denen er jetzt seine Regimenter wie Ziethen aus dem Busch dem Feind in den Rücken führte und hoffentlich recht viel Ruhm und Ehre vor Majestät und der Armee errang ...

In der Nähe vorn entstand ein abscheuliches Rasseln und Knattern. Die Maschinengewehre traten in Tätigkeit. Man konnte deutlich sehen, wie da hinten in der Talsenkung die zweispännigen Wagen hielten, wie die Grauröcke die mörderischen Kugelspritzen Stück für Stück herabhoben, auf das niedrige Schlittengestell legten, es, paarweise auf dem Bauche rutschend, mit den Schultern in die Stellung schoben, wie dort das endlose Patronenband seitwärts abschnurrte und der Lärm der Mitrailleusen alles andere übertönte. Dabei war der Kanonendonner rechts immer stärker geworden. Dichte Rauchmassen ballten sich da zu weißen Wolken. Fernes Hurrageschrei erklang. Es schien, daß sich der Schwerpunkt des Treffens in den Neckar- und Rheinwinkel bei Mannheim hineinzog. Im Hintergrund ritt jetzt auch die Kavalleriedivision von vorhin in dieser Richtung ab. Die langen schimmernden Linien schaukelten im Trab. Die Trompeten schmetterten. Die prunkvollen Uniformen wirkten ganz unwahrscheinlich, wie Spiegelbilder[S. 358] vergangener Zeit, wie verklungene Reiterherrlichkeit von Hohenfriedberg und Roßbach, von Liebertwolkwitz und Mars-la-Tour, inmitten der Burentaktik, der wissenschaftlichen Nüchternheit einer modernen Schlacht. Otto von Ottersleben stand, die Hände in den Taschen des Automobilzivils und starrte tiefsinnig darauf hin. Sein Herz klopfte plötzlich: Da war die Lust der Waffen — die alten Regimenter — die deutschen Fürsten — das Reich in Wehr — und dazwischen er, ein Ottersleben, als Zaungast, als frühstückender Schlachtenbummler, und er sehnte sich wider Willen nach einem Gaul zwischen den Schenkeln, einem Säbel in der Faust, nach dem Brausen der Attacke, und dachte sich voll ärgerlichen Mißbehagens: Ich war doch eigentlich ein rechter Esel, daß ich im Frühjahr so über Hals und Kopf quittiert hab'!

»Otto! ... Otto!« rief eine helle Stimme. Maximiliane trat zu ihm, der Chinchillapelz hing ihr lose um die Schultern. Darunter leuchtete das Violett ihres Herbstkleides. Ein violetter Schleier umrahmte ihr blondes Haupt und flatterte mit den Zipfeln im Winde. Sie lachte — von dem Trübsinnsanfall von vorhin schon befreit. Er war ihr Bruder. Aber auch ihm ging es beim Anblick dieser leuchtenden blauen Augen, dieser hohen, schlanken Gestalt durch den Kopf: Was ist sie doch für eine schöne Frau! ...

Neben ihr hielt der Major Eberwein auf seinem rauchend nassen Gaul und rief ihr aufgeregt zu: »Machen Sie, daß Sie nach Mannheim kommen!«

»Über den Neckar?«

»Wir gehen schon überall hinüber! ... Rot baut[S. 359] ab nach allen Regeln der Kunst! ... Sie müssen eine Mordsschweinerei von uns Blauen besehen haben — da droben, auf ihrem rechten Flügel ... Nu bringen wir ihnen hier mit Macht die Flötentöne bei ... da sehen Sie doch nur ... da drüben bei Käfertal! ...«

Mächtige weiße Dampfwolken stiegen dort auf und überqualmten die Ebene. Man hörte keine einzelnen Kanonenschüsse mehr. Ein einziger ununterbrochener Donner rollte und brüllte aus den Schwaden, durch ihn das gellende, nervenrüttelnde Rattern der Kugelspritzen, das atemlose, tausendfache Hämmern der Magazingewehre, ganz von ferne, halb schattenhaft, ein gedämpftes Hurra aus unzähligen Kehlen — irgendwo blies es: »Geht langsam vor!« — Weithin widerhallten die Hörner: »Geht langsam vor! Geht langsam vor! Geht langsam und bedächtig vor!«

Der Generalstäbler schrie: »Sie kommen gerade noch zurecht! Der Kaiser und alle Fürsten sind schon vorhin durch Mannheim durch! ... Wie gesagt: Rot ist im Wurstkessel! ... Viel Vergnügen!«

Otto von Ottersleben drehte das Auto, beschrieb im Sechzigkilometertempo einen weiten Bogen hinten um die schwarzen Schlangen und Linien von Pickelhauben herum, die jetzt auf einmal, wie aus dem Boden gewachsen, wimmelten und tausendfach über alle Felder gegen Mannheim zogen, und raste nach kaum einer Viertelstunde über das Pflaster der pedantischen Stadt mit ihren sich unerbittlich rechtwinklig schneidenden Häuservierecken. Anfangs waren die statt mit Namen nur mit Buchstaben und Zahlen bezeichneten Straßen menschenleer. Aber bald wurden sie schwarz vom Gewühl.[S. 360] Eine Völkerwanderung strebte da hinaus ins Freie. Ganze Reihen von Automobilen schossen dahin, mit ihnen die Equipagen reicher Fabrikherren — Bauernwägelchen aus den Dörfern ... Taxameter ... Reiter, Radfahrer, Züge von Schuljungen unter Führung ihrer Lehrer, alles strömte in die Rheinebene ...

Um einen Hügel herum staute es sich da, tausendfach Kopf an Kopf. Seitlings, hinter der Gendarmenkette, standen, eine Musterkarte aller Herren der Welt, die fremden Militärbevollmächtigten. Man sah über der Menge das Käppi des Franzosen und die Hahnenfedern des Italieners, die schwarze Lammfellmütze des Russen und die Tschakos der Österreicher, den Messinghelm des Briten und den Fes der Türken und der deutschen Paschas! Dazwischen Uniformen, die selbst die preußischen Offiziere nicht kannten, ungewohnte Gesichter — gelbliche Südamerikaner, ein frierender siamesischer Prinz — ein chinesischer Mandarin, da — im Mittelpunkt des Staunens — drei kleine, schwarzgekleidete, rätselhaft lächelnde Japaner! Oben, auf der flachen Kuppe, war ein Gewimmel von Mann und Roß, als hielte da ein aufgelöstes Kavallerieregiment. Aber dieses Regiment bestand nur aus Generalen und Generalstäblern, die meisten Gesichter martialisch unter ergrauten Schnurrbärten verwittert, andere anscheinend viel zu jung für ihren hohen Rang, die Haussterne fürstlicher Herkunft auf der Brust. Ein paar gebieterische Greise mit Marschallsabzeichen ganz vorne trugen das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Sie hatten noch Gravelotte und Sedan mitgeschaut und mitgefochten.

[S. 361]

Durch die freigehaltene Gasse der Menschenmasse jagten Ordonnanzoffiziere auf und nieder. Reitende Feldjäger. Mannschaften der kaiserlichen Leibgarde. Dort oben, wo der weiteste Überblick war, zeichnete sich einsam die Reichsstandarte vom Nebelgrau des Himmels ab. Zwei, drei Offiziere hielten da, weit abseits von den anderen. Einer von ihnen war der Kaiser. Er beobachtete die Attacke. Heute hüllte nicht wie sonst der Staub die Reitergeschwader in hochaufschlagende Wolken. Man sah weithin, scheinbar unendlich sich in das feuchte Regengrau hinaus verlängernd, die langen, dünnen Linien — zwei, drei in Staffeln hintereinander, man sah sie langsam im Schritt anreiten, im Trab, im Galopp, mit eingelegten Lanzen und flatternden Fähnchen, man sah die Kommandeure mit gezogenem Säbel vor ihren Regimentern — diesen farbig schimmernden, über das Blachfeld hinschießenden blauen, roten, grünen, flatternden Riesenbändern, die sich in der Karriere des Anlaufs fächerartig aufblätterten und auseinanderzogen und durch erneuten Anprall der folgenden Geschwader ausgefüllt und weitergerissen wurden, man hörte das Attackengeschmetter von Hunderten von Trompeten, das Stampfen von Tausenden von Pferdehufen ... man erkannte die Lücken durch Stürze ... da ein Dutzend und mehr auf einmal kopfüber — ein Gekrabbel am Boden — gebrochene Lanzen — reiterlose Pferde — und jetzt da vorn weißlicher Dunst — das wütende Kugelspeien der Infanterielinien, der Hagel der Maschinengewehre, die Kartätschenlagen der Batterien ...

»Kei' Floh blieb' am Leben!« meinte tiefsinnig ein[S. 362] Bayer neben Maximiliane, und ein Preuße lachte: »Na ... ob mit oder ohne Attacke ... gewonnen haben wir den Tag! Wir haben den Roten tüchtig in die Suppe gespuckt! ... Ich glaube, hinter Heidelberg herum setzen die Schiedsrichter schon ganze Bataillone außer Gefecht ...«

»Wenn Glümke so weiter arbeitet wie bisher, dann gewiß!« nickte ein anderer höherer Offizier und klappte sich, durchfroren von langer Autofahrt, den Mantelkragen hoch. »Er hat rein den Deubel im Leib — er und seine Kerls ... Er kann sich zum heutigen Tage gratulieren!«

Maximiliane vermochte sich nicht zu halten. Sie wandte sich an den ihr unbekannten Oberst.

»General von Glümke hat es so gut gemacht — sagen Sie?«

Der Oberst lachte.

»Na — tadellos! ... Ich komm' eben von dort!«

Dann fügte er, immer noch lächelnd, hinzu: »Interessiert Sie der so?«

»Ich bin doch seine Frau!«

Im selben Augenblick nahm der Stabsoffizier eine andere Haltung an und verbeugte sich.

»Gestatten Exzellenz, daß ich mich vorstelle: von Herbersdorf!«

Neben ihm legte der bayerische Major die Hand an den Helm.

»Gestatten Exzellenz: Ritter von Raimoser!«

Dann berichtete der erste wieder: »Der Nachtmarsch heute durch den Odenwald ... Auf dem Krähenbergpaß stieg Exzellenz vom Pferd und half eigenhändig[S. 363] die Kanonen schieben. Vierzig Mann mit Hurra an jedem Geschütz. Da ging's! ...«

»Das sieht ihm ähnlich!« lachte die junge Generalin stolz.

Der Generalstäbler fuhr fort: »Und im Morgengrauen ... am Neckar ... Exzellenz ... die Gäule wollten nicht gleich in das kalte Bad — aber Ihr Herr Gemahl einfach zu Pferd — bis an den Sattel im Wasser, voraus. Alles hinterher — wir waren drüben, ehe der Feind noch abgekocht hatte — nein! Die vierundfünfzigste Division hat eine schöne Leistung hinter sich, das muß ihr der Neid lassen! ... Ich empfehle mich gehorsamst, Exzellenz! ...«

In der Freude ihres Herzens reichte Maximiliane von Glümke dem Oberst freundlich die Hand. Zugleich meldete ihr Bruder Otto: »Du, Maxe ... eben rief mich der olle Schaftenburg an ... du weißt: der Intimus von Papa und Onkel Bruno ... Er ist nun schon Divisionär ... Er hat mir aufgetragen, ich möchte dir gratulieren! Von heut ab hätte dein Mann die Anwartschaft auf ein Armeekorps sicher in der Tasche! Unter den großen Bonzen auf dem Hügel sei darüber nur eine Stimme!«

Es war ein ehrfurchtsvolles Schweigen. Dorle Grotjan sagte zu ihrem Mann: »Hans ... so weit bringen wir's nicht!«

Und selbst die kleine Frau von Ottersleben wurde plötzlich mißvergnügt: »Wir avancieren überhaupt nicht mehr, Otto! Wir von der Reserve!«

Ihr Mann ärgerte sich.

»Na ... hat's etwa der Logow mit all seiner Weisheit[S. 364] so wunderweit gebracht? Es kann doch nicht jeder Napoleon Konkurrenz machen! Die Maxe ist nun einmal der Glanzpunkt der Familie!«

»Kinder, ich kann doch nichts dafür!«

Die junge Generalin lachte.

In ihrem Inneren ergänzte eine ernste Stimme: ›Und ich hab' dafür bezahlt ...!‹ Dann war das wieder vorbei. Der Herbstwind trug es über die Stoppeln davon. Es verwehte im Blasen der Trompeten da vorn, dem Rauschen der vorbeimarschierenden Bataillone, dem fernen Geschützdonner, dem ganzen Glanz und stürmenden Lebensatem des Kriegs im Frieden. Wie gestern, so brach auch heute jetzt, bald nach Mittag, die Sonne durch das Gewölk. Sie überflutete mit ihren Strahlen die nassen Felder, die nassen Menschen und Pferde — sie trocknete die Generalsachselstücke und die Schulterklappen der Trainfahrer, die Geschützrohre und die Blechmündungen der Regimentskapellen, die Seide der Fahnen und die Leinwand der Lagerzelte, die Generalstabskarten wie das Biwakstroh. Sie beschien die dampfenden, atemlosen Reitergeschwader da vorne — die Husaren und Dragoner, die Ulanen und die grünen bayerischen Chevaulegers — die erdbefleckten Infanteristen, die pulvergeschwärzten Kanoniere, die starken Pioniere und kecken Luftschiffer und grünen Jäger, das ganze große deutsche Heer. Es kam allmählich Ruhe über die Hunderte von Schwadronen und Kompanien und Batterien. Der rote Feind war gegen Karlsruhe zu in Aufnahmestellungen zurückgewichen. Das Plackern des Kleingewehrs verstummte. Nur noch in langen Zwischenräumen rollte, wie von[S. 365] einem abziehenden Gewitter, da vorn der Donner der Geschütze. Für heute war die Schlacht zu Ende.

Es ging schon gegen Abend. Die letzten Strahlen der tiefstehenden Sonne flimmerten schräge fern drüben im Osten über den Hügelwellen des badischen Baulands. Dort lagerte Olaf von Glümkes sieggekrönte vierundfünfzigste Division. Sie hatte den Neckar längst im Rücken. Zur Linken blaute schattenhaft am Horizont über den schwäbischen Rebhügeln die Rauhe Alb. Aber aller Augen waren nach rechts gerichtet. Man war noch immer hart am Feind. Man wich ihm nicht von der Klinge. Er wurde den lästigen Seitendruck nicht los. Durch die breite, fruchtbare Lücke zwischen Königstuhl und Schwarzwald bedrohte man nach wie vor auf Karlsruhe zu seine rechte Flanke, zwang ihn zu immer weiterem Rückzug. Leicht konnte heut nacht ein verzweifelter Gegenstoß erfolgen. Man war auf der Hut. Fieberhaft arbeiteten die todmüden Truppen mit Schaufel und Spaten. Ganze Regimenter gruben sich geräuschlos in ihre Deckungen hinter den Hügelkämmen ein. Dichte Vorpostenketten spannten sich vorn als undurchdringliches Netz. In fliegender Eile wurde abgekocht. Wenn es erst dunkel wurde, sollte kein Schein eines Biwakfeuers, kein Lichtpunkt einer glimmenden Zigarre dem Feinde die Stellung verraten.

»... 'n Abend, Leute!«

»Guten Abend, Euer Exzellenz!«

Dröhnend scholl es, wo Generalleutnant von Glümke auf seinem dampfenden riesigen irischen Schweißfuchs die Linien abritt. Die Gesichter strahlten. Die gemeinen[S. 366] Soldaten lachten, die Einjährigen, die Unteroffiziere, die Herren Hauptleute und Leutnants. Alle waren stolz auf den heutigen Tag und auf ihren Führer.

Olaf von Glümke war am Flügel der Stellung angekommen. Er hob die Hand und winkte kameradschaftlich einer Gruppe von Offizieren zu, die vom Weg her stillstehend grüßten. Heute machte er keine Unterschiede. Sie hatten ihm alle, alle nach Kräften geholfen. Dann unterdrückte er ein leises Gähnen. Wenn er überdachte: Eigentlich war er seit gestern früh, seit sechsunddreißig Stunden, nicht mehr zur Ruhe gekommen. Sogar die Nacht durch im Sattel. Ein bißchen viel. Eine Sekunde fühlte er seine Jahre. Aber nur eine Sekunde. Dann leuchteten seine feurigen blauen Augen wieder in alter Kriegslust, und um seinen Mund spielte sein gewohntes verwegenes Lächeln.

»Ich will jetzt noch rasch zu den Vorposten da hinüber, mein lieber Gutgesell!« sagte er zu dem neben ihm haltenden Adjutanten und deutete gen Westen, wo sich die Sonne unheimlich blutrot zwischen den nachtdunklen Stämmen einer Baumgruppe abhob. »Schaffen Sie's noch über das infame Terrain? Ihr Schinder kommt wohl nicht mehr recht vorwärts?«

Der Adjutant hob die Hand an den Helm.

»... Wollen nicht auch Exzellenz vorher das Pferd wechseln? ... Exzellenz reiten es schon seit zehn Stunden. Es scheint mir auch nicht mehr ganz kapitelfest auf den Vorderbeinen!«

Olaf von Glümke lachte und klatschte dem Tier auf den Hals. Er sprach zu ihm wie zu einem guten Freund.

»Das könnt' dir passen, alter Schwede — was?[S. 367] Aber dir sollen heut mal deine Mucken gründlich vergehen! ... Nee — lieber Gutgesell — das dauert mir zu lang. Inzwischen wird's dunkel. Vorwärts!«

Er jagte über das steinige, von Baumstöcken und Wurzeln durchsetzte Blachfeld hin. Er kümmerte sich wenig um die Hindernisse. Er hatte in seinem langen Reiterleben schon andere überwunden. Sein Herz war leicht, seine Brust weit von dem heutigen Tag. Da hatte man doch, soweit es in dem ewigen faulen Frieden möglich war, gezeigt, was man konnte — da wußte man doch, wozu man auf der Welt war. Er richtete sich im Sattel auf. Er holte tief Atem. Ja — das war schön — diese Stunde — war wie eine Erfüllung des Besten in einem — den Wind um die Ohren, den Gaul unter sich, der Sonne und dem Feind entgegen, hinter sich, durch dick und dünn, die treuen Kerle, vor sich noch ein Jahrzehnt und länger einer glänzenden Karriere, dort drüben, am Rhein die schöne, junge, geliebte Frau — in seiner Seele, die sonst Handeln und nicht Sinnen hieß, stieg ein Gefühl der Andacht empor. Er dachte sich: ›Herrgott ... ich danke dir, daß du mich leben ließest ... Die Welt ist schön ...‹

In dem holperigen Weidegrund zu seinen Füßen aber hatte, unbekümmert um Krieg und Kriegsgeschrei, aus dem Dunkel des Schicksals heraus ein Maulwurf seinen Haufen aufgeworfen. Der ermüdete Gaul galoppierte unsicher. Er merkte zu spät die Gefahr. Er trat mit dem rechten Vorderhuf in die lockere Erde und brach durch und ging vornüber, und Roß und Reiter taten einen schweren Sturz ...

[S. 368]

18

Der Mond war noch nicht aufgegangen. Er stieg erst lange nach Mitternacht von Osten her über den kalten, sternklaren Himmel. Tiefe Nacht ruhte über der Rheinebene, und doch kein Dunkel. Da, wo sonst selten einmal der spärliche Lämpchenschein aus einem Bauernhaus die weite Finsternis unterbrach, da flammten heute Hunderte und Tausende von Lichtern, regelmäßig in feurige Linien und Staffeln geteilt, die Biwakfeuer des Heeres. Sie waren jetzt schon halb erloschen. Die Mannschaft schlief. Spärlich einmal fielen fern, ganz fern Schüsse durch die Stille. Aber im Rücken der Stellung war es auch jetzt lebendig. Ein Knattern und Knarren, ein Rasseln und Rumpeln war auf allen Straßen. Schwerfällig schoben sich die mächtigen Trainkolonnen durch die Nacht. Die Leiterwagen hielten im Dunkel nicht ordentlich Vordermann. Sie füllten, rechts und links fahrend, den ganzen Weg. Es war schwer, an ihnen vorbeizukommen. In kurzen Zeiträumen ließ Otto von Ottersleben immer wieder die Hupe seines Automobils ertönen, das mit seinen beiden Flammenaugen zornig in das Schwarz vor sich leuchtete, den Schlammboden in den Glanz einer Schneelandschaft verwandelnd.

An einem Kreuzweg hielt, in einen Mantel gewickelt,[S. 369] ein höherer Offizier, Mann und Roß wie ein Schattenriß vom Dämmern des Himmels abgehoben. Er rauchte eine Zigarre. Sie leuchtete eine Sekunde auf und erhellte sein bärtiges Gesicht. Der junge Sportsmann stoppte sein Auto. Er lüftete, die eine Hand am Steuer, mit der anderen seine Kappe.

»Ach ... Verzeihung ... Ich möchte um Auskunft bitten ... Ich fahre hier mit meiner Schwester, der Generalin von Glümke, durch die Nacht ... Es ist ein Gerücht verbreitet, Exzellenz von Glümke habe oben im Kraichgau ein Unglück mit dem Pferde gehabt ...«

»Oh ... doch hoffentlich nichts Ernstes, Exzellenz?«

Der Oberst sprach von seinem Rappen in das Dunkel des offenen Autos hinein, in dem er irgendwo Frau von Glümke vermutete.

Sie stand auf. Ihre Stimme zitterte.

»Ich weiß nicht! Ich will hin! In einer Stunde ist man doch dort! Aber mein Bruder behauptet ...«

»Erst müssen wir wissen, Maxe, wo die vierundfünfzigste Division augenblicklich steht!«

»Und das kann uns hier niemand sagen?«

Der Oberst zuckte bedauernd die Achseln.

»Hier in der Front kaum, Exzellenz! ... Das verschiebt sich ja unaufhörlich, in der kriegsmäßigen Lage, in der wir uns befinden. Da kennt man die Stellung der Truppenteile nur im Hauptquartier.«

»Dahin will ich ja eben!« rief Otto von Ottersleben.

»Fahren Sie nur immer noch weiter zurück — die große Straße entlang. Sie sehen schon von ferne die vielen Lichter!«

[S. 370]

Das Automobil schoß davon, daß der Kot weithin von den Pneumatiks spritzte. Nach kurzem wurde es vorn hell. Strohwische loderten an langen Stangen rechts und links vom Wege. In dem unsicheren Flackerschein huschten immer zahlreicher schattenhafte Reiter, Radler, Motorfahrer vorüber. Auf dem Kartoffelacker drüben waren Stimmen und Fackeln. Eine Telegraphenabteilung legte bei Nacht eine Kriegsdrahtleitung querfeldein. Nun zeichneten sich hohe Giebeldächer im Dunkel ab — Schartenmauern — Türme — Parkwipfel — ein schloßartiger Gutshof irgendwo mitten in der Rheinebene, alle Fenster des dreistöckigen Herrenhauses hell, als feiere man da drinnen ein Fest. Vor der Anfahrtsrampe brannten rechts und links Pechflammen. In ihre düstere Purpurglut getaucht, hielt da eine Wagenburg von Militärautomobilen, standen Dutzende von gesattelten Pferden, von Kavalleristen gehalten. Ein unaufhörliches Laufen von Unteroffizieren, Ordonnanzen, Burschen erfüllte treppauf treppab den Eingang. Einige Herren vom Luftschifferbataillon standen plaudernd seitlings, des Mondes und des neuen Aufstiegs harrend, und schauten bald hinüber auf das Feld, wo in verschwommenen Umrissen, von schwarzen Musketierklumpen an Tauen gehalten, der Riesenkörper eines Parseval frei in der Luft schwebte und im Nachtwind schwankte, bald wieder sahen sie nach rechts empor. Dort tönte, von unsichtbar hoher Stange, das Rasseln des Slabyapparats durch das Dunkel, der die drahtlosen Depeschen empfing und weitergab. Ein junger Leutnant trat zu den anderen heran und lachte.

»Wir fangen fortwährend Meldungen von drüben[S. 371] ab. Ganze Haufen! Aber der Deubel soll sie enträtseln ...!«

Das Ganze hatte nichts eigentlich Kriegerisches mehr an sich. Die Truppen waren ja auch alle viele Stunden weiter vorn. Bis hierher drang kaum mehr der Laut eines Kanonenschusses. Es war, als sähe man einen großen, wissenschaftlichen Fabrikbetrieb mitten in der Nacht in methodischer Tätigkeit. In den ersten Zimmern des taghell mit Lampen, Kerzen, Stallaternen erleuchteten Schlosses, das Maximiliane mit ihrem Bruder betrat, saßen Reihen von Offizieren, die Stirnen gerunzelt, den Bleistift in der Hand, Geheimtabellen vor sich, mit der Chiffrierung und Dechiffrierung von Depeschen beschäftigt. Nebenan tackten, von Unteroffizieren bedient, rastlos die Telegraphenapparate. Soldaten kamen und gingen, brachten die abgerollten, mit geheimnisvollen Chiffrebuchstabengruppen bedeckten Streifen und nahmen ebensolche Blätter entgegen.

Daneben, im großen Saal, war die Befehlsausgabe. Es standen da an die hundert Offiziere, die meisten die Adjutantenschärpe von der rechten Schulter zur linken Hüfte, die hohen Stiefel mit Kot bespritzt, die Gesichter übernächtig von Mangel an Schlaf nach der Mühe des Tages, alle stumm im Stehen in ihre Bücher notierend und stenographierend, was die Stimmen der Generalstäbler in ihrer Mitte langsam, nachdrücklich, durchdringend klar, diktierten. Ein Geruch von nassem Tuch, von Pferdeschweiß, von flackernden Dochten war in dem Raum. Unwillkürlich wandten sich all die scharfen, schnurrbärtigen Köpfe einen Augenblick vom Ernst zur Sache nach der ungewohnten Erscheinung einer schönen[S. 372] jungen Frau, hier mitten in der Nacht in den geheiligten Räumen des Armeeabteilungskommandos, in denen alle Linien von dem weit ausgedehnten Kampfplatz draußen im Spinnennetz zusammenliefen. Ein höherer Adjutant hatte die Generalin empfangen. Er verbeugte sich tief, eilte voraus und führte sie und ihren Bruder durch weitere Räume voll schreibender, mit dem Zirkel auf der Generalstabskarte messender, rechnender und brütender Offiziere bis in das vorletzte Gemach der langen Zimmerflucht.

Da waren Generale. Wohl ein halbes Dutzend und mehr. Grauköpfe und Kahlschädel. Derbe, altpreußisch-kriegerische Züge und glattrasierte, strenge Gelehrtengesichter. Sie saßen und standen — sie lasen und schrieben — sie blätterten nachdenklich in Stößen von roh mit Buntschrift ausgeführten Feldkrokis, die vor ihnen lagen — sie schwiegen und warteten auf etwas da drinnen, hinter der Tür links zum Allerheiligsten ...

Jetzt öffnete sich die. Ein eleganter Generalmajor vom Gardetypus trat heraus. Einen Augenblick sah man in das Innere, in eine große Stube, die bis aufs Letzte kahl ausgeräumt war. Kein Tisch, kein Stuhl in der Ecke war geblieben. Von der Decke sandte ein Kronleuchter seinen hellen Schein in alle Ecken und auf den Boden. Den deckte ein Netz aneinandergefügter Generalstabskarten — das ganze Manövergelände im kleinen, von der Kocher und Jagst bis über den Rhein, von dem Main bis an die Murg. Kleine bewimpelte Nadeln staken an einzelnen Stellen in den Plänen und zeigten den augenblicklichen Standort der Truppen an. Davor lag auf dem Bauch, die Ellbogen aufgestützt,[S. 373] den Kopf in den flachen Händen, jemand am Boden, lang auf den Holzdielen ausgestreckt. Man sah von hinten sein kurzgeschnittenes schlohweißes Haar, das Funkeln der goldenen Raupen auf den Schultern, das Glitzern der Sporen an den Reitstiefeln. Neben sich hatte er rechts und links auf der Erde ein brennendes Licht stehen, um besser die Karten lesen zu können. Das war der Höchstkommandierende. Sein Wille lenkte wie durch einen Fingerdruck auf einen elektrischen Knopf den ganzen mächtigen Apparat da draußen. Er sann über den morgigen Tag. Stumm lag er da und rührte sich nicht. Hinter ihm stand sein Adjutant und schwieg. Die Tür schloß sich.

Nebenan hatte der blonde Gardegeneral inzwischen erfahren, um was es sich handelte, und versetzte, halblaut — denn in diesen Räumen wurde nur flüsternd gesprochen: »Nach unseren bisherigen Meldungen, Exzellenz, hat Ihr Herr Gemahl allerdings leider einen bösen Sturz getan. Er liegt noch in dem Pfarrhaus des Dorfes, in dessen Nähe das Malheur geschah ...«

»Und was sagen die Ärzte?«

»Vorläufig nichts Bestimmtes, Exzellenz! ...«

Der Generalmajor zuckte vielsagend die Schultern und wandte sich an Otto von Ottersleben.

»Sie scheinen mir ja militärisch geschult: Ich werde Ihnen auf der Karte den nächsten, für Automobile praktikablen Weg dorthin zeigen und telephonisch Order vorausschicken, daß man Sie an der Heidelberger und der Eberbacher Brücke sofort durch die Trainkolonnen, die Sie da kreuzen müssen, durchläßt!«

Der Mond war aufgegangen. In silbernem Blau[S. 374] lag die Pfalz. Die Heidelberger Schloßruine träumte im Dämmerschein über der Neckarstadt, durch deren Gassen das aus der Rheinebene heranrasende Automobil in das Flußtal hineinschlüpfte, das Rauschen der Stromschnellen zur Linken, durch das schlafende, mittelalterliche Neckargemünd, vorüber an dem geheimnisvoll im Mondschein ragenden Geviert der Landschadenburgen — zuweilen, an den Neckarübergängen, plötzlich, jäh, aus der Nacht heraus, der Trubel des Scheinkriegs, Fackeln, lange Wagenzüge, Geschrei und ebenso rasch wieder tiefe Stille — Menschenleere — Mondschein — ein Reh über den Waldweg. Kühle. Herber Hauch von den Höhen, über denen wieder eine riesenhafte altersgraue Burgruine dräuend wie ein Drache zu Tal hing. Auf dem Fluß rasselte es in langer Lichterreihe und kläfften die Schifferspitze. Ein Schleppzug fuhr bergwärts. Er verlor sich um die Biegung. In den dunklen Massen des Waldes da oben kreischten und johlten unheimlich die unsichtbaren Nachtkäuzchen. Es war wie ein böses Vorzeichen. Weiter! Nur weiter! ... Aus der Odenwaldenge heraus, aus den ewigen, zeitraubenden Windungen des Flusses! Eine Schwenkung nach rechts. Dort drüben, über dem Massiv des Katzenbuckels, färbte sich der Himmel von feierlicher Röte. Lange Purpurstreifen zogen sich quer durch das Grau des Ostens. Die Sonne ging auf. Man ließ sie halb im Rücken. Man fuhr endlich den geraden Weg, den bisher die Berge versperrt, nach Süden, in das fließende Nebelgrau der Dämmerstunde hinein. Dann zerteilten sich die feuchten Schleier. Der Himmel blaute. Man konnte bei Tageslicht leichter die Karte und die Wegweiser[S. 375] lesen als bisher beim Windgeflacker des Wachsstreichholzes. Geräuschlos rollte das Auto über die weichen Ackerpfade. Ein einsamer Einjährig-Freiwilliger kam herangehumpelt, fußkrank, auf dem Weg zur Etappe. Er hatte Schmisse im Gesicht und trug einen Zwicker. Otto von Ottersleben rief ihn an: »Wissen Sie, wie's Herrn General von Glümke geht?«

»Ich fürchte, gar nicht gut. Es sagen's wenigstens alle im Biwak!«

»Ist's noch weit?«

»Dort sehen Sie schon den Kirchturm über dem Hügel!«

Hinter diesen Höhen war das Biwak des Gros' der vierundfünfzigsten Division. Die Truppen waren noch nicht angetreten. In langen Reihen schimmerten die Pyramiden der zusammengesetzten Gewehre. Die Mannschaften standen am Wege, gegen das Dorf zu, Tausende und aber Tausende, mit dem blauen Schein der Waffenröcke die Felder füllend, da und dort die Offiziere dazwischen, und überall war das gleiche, seltsam-ernste, wie angstvolle Schweigen. Das Automobil konnte nur noch ganz langsam fahren. Maximilianes Auge ruhte leer auf der menschenerfüllten Gasse vor ihr. Was war das nur alles? ... Diese Morgenröte hier ... das fremde Dorf ... die vielen Leute? ... Ihr schien es wie ein böser Traum der Nacht. Man wachte auf, und er war verflogen. Nein: das war Wirklichkeit. Da war die Kirche. Daneben das Pfarrhaus. Auf dem Platz davor, unter der herbstbunten Linde, Offiziere, Offizierspferde, Offiziersburschen, wieder Offiziere — auf den Torstufen — auf der Schwelle — im Flur. Hier kannte man die Frau des[S. 376] Divisionskommandeurs. Ehrerbietig machte alles Platz. Stumm hoben sich die manöver-dunkelbehandschuhten Hände an die Helmbänder. Sie stieg aus. Ihr Bruder stützte sie. Sie sah sich ratlos um. Es war solch ein sonderbarer Ausdruck in all den sonnengebräunten Gesichtern, solch eine drückende Stille ... Sie ging in das Haus — in einem ungläubigen Staunen: Sie hatte noch nie Männer weinen sehen. Aber die zwei, drei Offiziere, die da standen, hatten Tränen in den Augen, hier der Oberst von Mensingen, da der Divisionsadjutant, der Major Gutgesell. In der Ecke heulten die Glümkeschen Burschen, Mannhardt, der erste Pferdebursche, und Hinsch, der andere, als sie ihre Herrin erblickten. Und sie dachte sich befremdet: Was bedeutet das alles? und wußte es doch, noch ehe plötzlich der Divisionspfarrer vor ihr stand und stumm ihre Hand ergriff und langsam die Tür öffnete.

Die helle Morgensonne lag in trügerischem Rot auf dem ernsten Antlitz des Generalleutnants Olaf von Glümke. Ihn störte der Glanz des neuen Tages nicht mehr. Seine Lider waren geschlossen. Es war, als ob er schliefe, das von weißen Mullstreifen umwundene Hinterhaupt auf das weiße Kissen gebettet, die Orden auf der Brust, die weißbehandschuhten Hände, zwischen denen ein kleines Kruzifix lag, über dem Säbelknauf verschlungen, in einer feierlichen Ruhe, die von seinem Totenbett ausging und das Gemach erfüllte. Von draußen, aus dem Flur, tönte wieder Schluchzen, und weiterhin, im Freien, von den Feldern und Wegen ein unbestimmtes, tausendfaches Summen und Murmeln und Brausen von Stimmen. Dann trat der Generaloberarzt[S. 377] hastig über die Schwelle: »Rasch ... Wasser ... Ihre Exzellenz ist ohnmächtig geworden ...«

In einem Nebenraum bemühten sich die Ärzte, die Schwester und die Schwägerin um Maximiliane. Sie lag bewußtlos. Sie hörte nicht, wie fern ein dumpfer Kanonenschlag erscholl, zwei, drei — ein ganzes Geböller, stürmisch aufflackerndes Kleingewehrgeplacker bei den Vorposten — Hornsignale — ›An die Gewehre!‹ — ›An die Pferde!‹ — ›An die Geschütze!‹ — Ein Laufen und Rennen — ein Jagen von Adjutanten, von denen einer einem anderen durch Hufschlag und Säbeltanzen an der linken Pferdeflanke zurief: »Man merkt schon, daß Glümke nicht mehr kommandiert! Wir müßten schon seit zwei Stunden unterwegs und dem Gegner im Rücken sein ...«

»Ja, aber das Unglück ...«

»Wenn er noch hätte reden können, hätte er gesagt: Kinder ... Krieg ist Krieg! ... Kümmert euch nicht um mich ... Vorwärts! ... Spuckt den Roten gehörig in die Morgensuppe, daß sie noch einmal an mich denken! ...«

Nun brüllten da vorn schon überall die Kanonen. In langen Schlangen setzte sich die Division in Bewegung. Von der Rheinebene grollte es dumpf herüber. Luftschiffe und Flugzeuge erschienen schwimmend und suchend am Himmel — das Kaisermanöver ging seinen Gang, die Massen waren im Fluß — der Tod eines einzelnen konnte dies Widerspiel von Krieg und Tod nicht hemmen. Die Scheiben des Zimmers, in dem der General von Glümke ruhte, zitterten leise im fernen Donner der Geschütze.

[S. 378]

19

Und wieder war der Mai im Land ... der Mai im äußersten Osten des Reiches, mit kaltem Steppenhauch von drüben aus der russischen Weide, mit Nachtfrösten und Wetterschauern — aber doch der Frühling ... das erste Grün an Baum und Strauch, die ersten warmen Sonnenstrahlen vom blaßblauen Himmel.

Dort, fern am anderen Ufer der Weichsel, lag malerisch das altersgraue Thorn mit seinen Mauern und Zinnen aus der deutschen Ordenszeit, seinen spitzen Giebeln und Backsteinmassen mittelalterlicher Kirchen. Von ihnen klangen die Sonntagsglocken. Der Wind trug den Schall über das flache Land, er ließ da unten die lehmgelben Wellen des Flusses weiß aufheulen und pfiff ungestüm in dem Eisengitterwerk der Riesenbrücke, die einen Kilometer lang sich anscheinend fast unabsehbar über den Grenzstrom spannte.

Maximiliane von Glümke schritt auf ihr dahin, das blonde Haupt gegen den Sturm vorgeneigt, daß die Enden ihres blauen Schleiers flatterten: sie trug kein Schwarz mehr. Schon vor anderthalb Jahren hatte sie nach Ablauf des Trauerjahres den Flor abgelegt. Aber jetzt noch zeigte ihre Kleidung in ihrem einfachen tiefen Violett die Zurückhaltung der Witwe und der Exzellenz. Sie war mit dem kleinen Dampfboot über[S. 379] den Fluß gefahren und kehrte von ihrem einsamen Spaziergang in das Grotjansche Haus zurück, in dem sie, von Berlin aus, zu Besuch weilte. Sonntagsausflügler kamen ihr entgegen, polnische Bauern, Soldaten vom Infanterieregiment von Borcke, dessen Kasernen hinter ihr wie ein Brückenkopf halb in den Wäldern verborgen lagen, andere vom Regiment von der Marwitz, von den Ulanen, Fußartilleristen und Pioniere der großen Grenzfeste. Dann ein Keuchen und Poltern. Ein Eisenbahnzug rollte langsam vom Stadtbahnhof nach der Station Thorn hinüber. Eydtkuhnen-Berlin stand auf den Wagen. Fremdartige Gesichter sahen heraus. Die Brücke zitterte leise. Ein vorbeireitender junger Offizier hatte Mühe, sein schnaubendes Pferd auf den glatten Holzbohlen des Bodenbelags neben dem Schienenstrang versammelt zu halten. Er hatte nicht aufgepaßt gehabt. Beinahe wäre das Tier gestrauchelt. Maximiliane ging weiter. Der Zwischenfall hatte ihr einen Stich in das Herz gegeben. Er hatte sie an den Sturz und Tod ihres Mannes erinnert ... Vor zweieinhalb Jahren ...

Die Generalin von Glümke ging und ging. Wohl fünf Minuten schritt ihr Fuß schon über diese Brücke. Aber das andere Ufer schien immer noch gerade so fern wie zuvor. Ihr dünkte das, in der Schwermut der Frühlingsstimmung, wie ein Sinnbild des Seins. Man wanderte — man hatte keinen Gefährten zur Seite — da vorn verlor sich vor den Augen ein Ziel — man wanderte und erreichte es nicht ... Die Sonne tröstete mit mildem Strahl — da unten spielten die Wellen — Menschen kamen vorbei — lachend — schwatzend —[S. 380] im Sonntagsstaat — aber selber war man allein und wanderte, das Auge auf der Stadt da drüben mit ihren grauen Türmen, im Ohr die Glocken, im Herzen ein trübes, unbestimmtes Sehnen der Verlassenheit ... Sie blieb stehen und blickte zurück. Die dunklen Streifen am Horizont, keine zwei Stunden entfernt, das waren schon die Grenzwälder. Gleich dahinter begann das heilige Rußland. Dem Blick verborgen, dehnten sich davor in weitem Halbkreis die deutschen Forts. Sie trugen die Namen der Ordenshochmeister, von Hermann von Salza bis zu Dietrich von Plauen, all der Großen mit dem schwarzen Kreuz auf weißem Mantel, die trotz Tannenberg den Heiden und Slawen die Ostmark abgerungen. In Metz hießen die Forts nach den Helden des siebziger Kriegs. Metz ... der Abend im Garten der Villa in Montigny stand vor ihr — die rote Glut der sinkenden Oktobersonne zwischen den hohen Bäumen — damals hatte sich ihr Schicksal entschieden. Sie hatte ihr »Ja« nie bereut. Sie war glücklich gewesen mit ihrem Mann. Nun war das alles schon wieder vorbei, verschollen, verronnen wie die Wogen der Weichsel unter ihr.

Im Weitergehen schaute sie über das Geländer in die Tiefe: schwer wälzten sich da in rastlosem Schwall die Wellen. Graue Inseln oder Sandbänke lagen scheinbar da und dort verstreut in ihrer gelben Flut. Aber wenn man näher hinsah, waren es die kurzen plumpen Holzflöße der Flissaken, deren Räubergestalten da unten, in einer Buschlichtung des Überschwemmungslandes, um ein Feuer lagerten. Darüber hinaus verlor sich der Fluß in die Weite ... in den bläulich verdämmernden[S. 381] Horizont. Und ebenso endlos dehnte sich vor ihr die Brücke. Sie ging und ging, nun schon eine gute Viertelstunde, immer über den Strom, immer die Stadt vor Augen — in der Seele die Frage: Wozu das alles? ... Man wandert und wandert ... das ist das Leben ... und vor einem steht etwas wie ein Traumbild — und weicht zurück ... und schließlich ist das Leben zu Ende ...

Da war das Ende der langen Brücke. Die Straßen von Thorn. Sie überquerte den Marktplatz, wo sonst an Wochentagen die russischen Bauern mit ihren Gänsen unter den Armen standen. Vor dem Theater hielten Krümperwagen. Offiziersdamen holten sich da für den heutigen Sonntagabend ihre Eintrittskarten. Bald dahinter begann die Neustadt, in der die Grotjans wohnten. Ihre Schwester Dorle, die mollige kleine Hauptmannsfrau, empfing sie mit einem Seufzer der Erleichterung: »Na ... Gott sei Dank! Ich hatte schon Angst, die Kalbskeule wird zu braun!«

Die sonntägliche Kalbskeule — das war ein Ding von Bedeutung für den Familienkreis. Frau Dorle, ihr Mann, vier hungrige kleine Mäuler unten am Tisch. Er, der Hauptmann Grotjan, von den dreißigsten Pionieren, saß zufrieden in der Mitte der Seinen. Er war immer ein wenig befangen in Gegenwart seiner schönen Schwägerin, der Exzellenz. Und auch in Gedanken an ihre anderen Verwandten: Otto, den Millionär, und Peter, den kleinen Grenadier und glücklichen Bräutigam einer schlesischen Gräfin, und Onkel Bruno, den Divisionskommandeur, und Erich von Logow, den Weltumsegler, der jetzt eben, irgendwo auf[S. 382] dem Meere schwimmend, auf dem Rückweg von Chile in die Heimat war. Das alles stimmte nicht zu seinem schlicht bürgerlichen Sinn und Sein. Er kam sich manchmal wie ein Eindringling in die Familie vor. Aber es schmeichelte ihm doch. Er war der Generalin von Glümke dankbar, daß sie jedes Jahr seit dem Tod ihres Mannes auf eine Woche zum Besuch der Schwester von Berlin zu ihnen herüberkam. Es war dann immer eine eigene feierliche Stimmung im Hause. Es strahlte immer noch ein Glanz auch von dem Witwentitel ›Exzellenz‹ aus. Selbst Kraninski, der Bursche, ging auf den Fußspitzen und machte ein blöde andächtiges Gesicht.

»Bist du denn wirklich satt?«

Maximiliane nickte zerstreut. Sie dachte sich in der alten Schwermut, im Gefühl des Alleinseins, inmitten dieser Grotjanschen Gemeinsamkeit: ›Ach ja, Kinder — ihr seid satt! ... Euer Kreis ist geschlossen, euer Schicksal erfüllt. Ihr habt's gut ...‹ Und in ihr war wieder das Sehnen — die Unruhe — das Unbestimmte — Dunkel über dem Meer, wie Rauschen und Wandern von Wellen ...

»Du mußt eben vorlieb nehmen, Maxe! ... Bei dir daheim bist du's natürlich besser gewöhnt!«

Sie mußte halb lachen und strich sich mit der Hand die blonden Haare aus der Stirn.

»Ich? Mit meiner Gartenwohnung in Charlottenburg und einem Mädchen? Glaubst du, eine Generalswitwe sei bei uns mit ihrer Pension so auf Rosen gebettet? Und Schätze hat mein Mann mir nicht hinterlassen! Dazu hatte er eine viel zu sorglose Hand in[S. 383] Geldsachen. Ich komme gerade so mit Anstand durch. Aber auch nicht mehr!«

Der Tisch war abgeräumt. Dorle Grotjan las einen vormittags angekommenen Brief ihrer Mutter vor, die nach wie vor zurückgezogen in Darmstadt in ihrem Kreis von Generalinnen z. D. und Kommandeusen a. D. ihren Lebensabend verbrachte. Jeden Winter und Sommer kamen ein paar neue hinzu, blieben ein paar in aller Stille weg. So schlossen sich die Lücken, rollten die Tage in Frieden dahin. Sie schrieb:

»... daß Otto und seine Frau wieder einmal in Paris sind, habt ihr wohl schon gehört. Mir scheint, sie wissen jetzt, nachdem sie ihr Gut wieder verkauft haben, gar nicht mehr, was sie anfangen sollen. Aber eine große Freude habe ich vorige Woche gehabt. Ulla ist eingetroffen, auf der Reise vom Süden nach Hamburg, wohin sie ihrem Mann entgegenfährt. Sie ist immerhin frischer, als wie sie im Herbst nach Mentone ging. Es hat ihrer Brust gewiß gut getan. Es war ja nun schon ihr zweiter Winter an der Riviera. Sie freut sich so, endlich nach drei Jahren, ihren Mann wiederzusehen. Ich gönn' es ihr von Herzen! Möge nun alles gut werden, besser als in der trüben Zeit zuvor. Die Jahre waren für beide wohl eine harte Lehre. Husten tut sie freilich immer noch. Ich hoffe, sie nehmen im Militärkabinett darauf Rücksicht und stecken Erich jetzt nicht gleich nach seiner Heimkehr nach Ostpreußen oder an das Stettiner Haff oder sonst eine rauhe Gegend. Ihm soll der Aufenthalt da draußen ja vorzüglich bekommen sein — das sagen alle — neulich noch hörten wir über Berlin, wie zufrieden[S. 384] man mit seinen Leistungen gewesen sei — Ich denke mir immer, die Kinder kommen hier in meine Nähe, irgendwo an den Rhein. Das wäre zu schön!«

Es folgten noch Familiennachrichten aus dem weiten Geschwister- und Verwandtenkreis, von Onkel Wilderich, dem Husaren a. D., von dem Gerüchte umliefen, daß er trotz seiner grauen Haare auf seine alten Tage noch in Breslau auf Freiersfüßen ging, dann Langes und Liebes von der künftigen Schwiegertochter, der kleinen schlesischen Gräfin, die die Witwe bisher nur aus Briefen und Photographien kannte — noch ganz jung, blond — vom Lande — wenig Geld — aber gewiß das Rechte ... »Sie paßt auch so gut ins Regiment, so frisch von der väterlichen Klitsche hinein, und die Damen freuen sich schon alle auf sie, schreibt Peter. Der Junge ist im siebten Himmel!«

Und dann ein Nachwort: »Denkt euch: diesen Augenblick kommt eine Kabeldepesche aus Teneriffa! Erichs Schiff hat dort angehalten. So weit ist er nun schon auf dem Heimweg. Ulla ist außer sich vor Freude!«

Es war ein kurzes Schweigen nach dem Brief. Dann meinte Frau Dorle: »Wenn die beiden nur nicht in einem Vierteljahr wieder wie Hund und Katz miteinander stehen!«

»Beruf es nicht, Dickchen!« sagte ihr Mann. »Die Ulla hat auch für ihre Fehler gebüßt!«

Es erschien Besuch. Am Sonntagnachmittag ging es bei den Grotjans immer zu wie im Taubenschlag. Damen vom dreißigsten Pionierbataillon, die Kommandeuse, Frau Major Große selbst, Frau Hauptmann Paulitschek, Frau Leutnant Breitscheidt — es war ein[S. 385] Geschwatze und Gelache — Kirchturminteressen — Neuigkeiten von Bekannten aus Danzig und Metz, aus Köln und Magdeburg, aus Straßburg und Mainz, und wo überall Pioniere in den Festungsgarnisonen lagen — die junge Generalin, die zwischen den eifrig plaudernden und kaffeetrinkenden Damen saß, hatte gar kein Interesse an diesen Sachen. Aber sie wollte nicht, daß man ihr Schweigen als Hochmut auslegte, und beteiligte sich am Gespräch, so gut es ging. Es war nicht leicht. Sie war ja Witwe — eine gestürzte Größe, deren Lächeln niemandem mehr nutzte, deren Ungnade keinem mehr schaden konnte, aber immerhin — sie war Exzellenz — anders als die anderen — auch im Äußerlichen. Sie war immer noch die große Dame. Und um sie herum der leere Raum. Eigentlich überall im Leben. Es war immer ein Abstand zwischen ihr und den Dingen. Wieder empfand sie das Frösteln der Verlassenheit. Mit einer jungen Frau, die später als die anderen gekommen war, unterhielt sie sich ganz gut. Aber als jene harmlos fragte: »Steht Ihr Herr Gemahl bei den Gardepionieren, gnädige Frau?« und sie wahrheitsgemäß antworten mußte: »Er ist schon vor ein paar Jahren als Divisionskommandeur gestorben!« da wurde die Ahnungslose puterrot: »O, Pardon, Exzellenz!« und war von da ab nicht mehr recht aus sich herauszubringen.

Maximiliane war froh, als gegen Abend das Geschwurbel aufhörte und man noch einen Spaziergang unternahm. Sie gingen durch die sonntäglich belebten Straßen. Das weiche singende Westpreußisch schlug an ihr Ohr. Dazwischen polnische Laute. Von dem[S. 386] Hügelgelände der alten Festung schauten sie auf die Stadt nieder: es war einsam da oben, dem Zivil der Zutritt zu dem Bollwerk verwehrt, das längst schon seine militärische Bedeutung an den stundenweit entfernten Fortgürtel abgetreten hatte. Die Kasematten dienten jetzt zur Unterkunft von Infanterie und lagen heute, wo alles bunte Tuch ausgeschwärmt war, still und verlassen. Die Gräben waren zu Schießständen eingerichtet. Auf den leeren Geschützbänken darüber wuchs das Gras. Die beiden Schwestern hatten sich, die anderen weit vorausgehen lassend, dahin gesetzt. Rundherum lag weit im Abendrot, am Horizont schon im Dämmern verschwimmend, die Ostmark. Trotzig wie in alten Ordenszeiten, hielt da drüben Thorn die Wacht an der Weichsel. Es war eine Stimmung ähnlich der am anderen Ende des Reiches, wo dräuend der St. Quentin über Metz und Mosel hinweg gen Westen, nach Frankreich blickte. Hier im Osten war nicht die lachende, üppige Hügelgegend Lothringens. Platt, einförmig, schon wie im Vorahnen der endlosen russischen Ebenen und Wälder, dehnte sich das Land. In breitem Band schlängelte sich die Weichsel dahin. Ihre Krümmungen glänzten silbern im Abendlicht. Über der Riesenbrücke, die sie überspannte, ballten sich kleine, wandernde Dampfwolken in der Luft. Ein Verbindungszug rollte von der Stadt zur Hauptstation am anderen Ufer. Maximiliane sah darauf hin und sagte dann: »Morgen reise ich nun auch wieder ab, Dorle!«

»Bleib doch noch ein bißchen! In Berlin hast du doch auch nichts verloren!«

»Nein. Aber irgendwo muß man doch sein!«

[S. 387]

Die jungen Frauen schwiegen und blickten in den feuerroten Sonnenball, der langsam, feierlich, in Glut gebadet, in der Grenzlinie zwischen Himmel und Erde versank. Dann frug Dorle Grotjan: »Warum bist du eigentlich gerade nach Berlin gegangen, Maxe?«

Die schöne junge Generalin zuckte die Achseln.

»Weißt du, Dorle ... in der ersten Zeit — da war mir überhaupt alles gleich ... Da war ich so ... ich weiß nicht, wie ich's nennen soll ... Trauer ist zu wenig ... Ich war so aus allen Himmeln gerissen ... Ich hab' alle Leute immer nur erstaunt angesehen ... Ich hab' gar keine Menschen vertragen können ... ich war ja das ganze erste Jahr auf Reisen ... aber du könntest mich totschlagen, wenn ich dir noch recht sagen könnte, wie und wo ... Und da sah ich schließlich ein, daß ich mich irgendwo seßhaft machen muß ...«

»Aber warum nicht zusammen mit Mama und Ulla?«

Maximiliane von Glümke beugte den blonden Kopf vor und strich die Falten an ihrem Rock glatt.

»Liebes Kind: Ulla und ich — das ist ein Kapitel für sich. Es ist besser, wir sind nicht beisammen! Und dann: ich kann doch nicht so einfach wieder quasi als Haustochter in Mamas Darmstädter Bekanntenkreis untertauchen! Ich kann doch nicht da so eine Nebenrolle spielen, wie Ulla. Ich bin doch schließlich Exzellenz!«

Es war dabei ein unwillkürlicher Hochmut in ihren Worten und in ihren Zügen. Sie fuhr fort: »Eigentlich ist's ja ein Widerspruch! Man schmückt sich als Frau von dreißig mit einem Titel, der einem Mann von fünfzig gebührt — man wird dadurch selber älter[S. 388] vor der Zeit oder kommt sich wenigstens so vor — ja — aber was soll ich machen? Ich hab' die Gesetze nicht erlassen, nach denen ich meinen Platz in der Welt einnehmen muß ...«

Dorle Grotjan machte eine lebhafte Bewegung, als wollte sie etwas sagen. Aber sie besann sich und schwieg.

Ihre ältere Schwester schloß: »Und diesen Platz finde ich eben noch am ersten in Berlin, weil man da nicht auf einen bestimmten Kreis angewiesen ist, sondern sich wenigstens die Menschen aussuchen kann, mit denen man umgeht. Ich hab' da wirklich sehr netten Verkehr gefunden!«

»Freilich: wenn du dich da wohl fühlst ...«

»Eigentlich ist's langweilig!« sagte Maximiliane. »Aber das liegt an mir! ... Mir ist, ich möchte sagen, vor zweieinhalb Jahren mein Daseinszweck in der Hand zerbrochen. Ich steh' und krieg' ihn nicht wieder zusammen. Ich weiß nicht recht, was ich mit mir anfangen soll, geschweige denn mit anderen! ... Darum können die mir auch so wenig helfen ... So furchtbar viel bin ich auch nicht mit Menschen zusammen. Ich lebe, bei Licht besehen, recht einsam. Wie jeder, der in Berlin nichts zu tun hat. Dort ist das Gemeinsame die Arbeit. Man muß Pflichten im Leben haben, Dorle! Das ist das ganze Geheimnis!«

Maximiliane malte mit ihrer Sonnenschirmspitze im Sand vor ihren langen schmalen Lackschuhen Kreise und Striche und sagte dann unvermittelt: »Ich will dir was gestehen ... Ich bin ja noch nicht entschlossen ... aber ich denke seit einem Jahr schon ernstlich daran, Diakonissin zu werden!«

[S. 389]

Die Jüngere schlug entsetzt die Hände zusammen.

»Du?«

»Ja!«

»Maxe! Ich glaub', du bist verrückt!«

»Wieso? ... Wie ich in Straßburg war als junges Mädchen bei Onkel Bruno, da stand ich auch schon ganz dicht davor, gerade wie mein Mann um mich anhielt ...«

»Ja, damals ... Ein Mädel ohne Geld ... eine Waise ... Und sonst noch allerhand auf dem Herzen ... da war's weiter kein so großes Kunststück ... Aber jetzt, in deiner Stellung ... du bist doch selbst so stolz auf deinen Rang und Titel ...«

Die Generalin von Glümke sah nachdenklich in die Ferne.

»Seinen Stolz muß man eben opfern, Dorle! ... Das ist's ja! Es muß nur ein Ding sein, das das Opfer wert ist. Groß genug dazu! ... Man muß nicht hinabsteigen auf eine andere Stufe im Leben, sondern alles hinter sich lassen, mit einem freien Entschluß, auf einmal. Das könnte ich wohl, weil das etwas Ganzes ist!«

»Na ... vorläufig bist du ja noch nicht so weit!« lachte Dorle. Sie nahm die schwermütige Anwandlung der schönen Schwester nicht ganz ernst, und jene nickte selbst: »Ich sag' dir ja: ich weiß es noch nicht. Ich habe ja noch ein langes Leben vor mir. Mir ist nur das eine klar: so ganz leer wie jetzt darf es nicht bleiben. Ich muß ihm einen Inhalt geben!«

Nun konnte Frau Dorle Grotjan das, was ihr die ganze Zeit schon auf Herz und Lippen lastete, nicht länger an sich halten: »Zu komisch! ... An das Nächstliegende denkst du wohl gar nicht, Maxe?«

[S. 390]

»An was denn?«

»Herrgott: daß du noch einmal heiratest!«

Ihre Schwester hörte es nicht oder wollte es nicht. Sie blieb bei ihrem Gedankengang.

»Ich hab' mich diesen Winter schon im Kultusministerium erkundigt!« sagte sie. »Wegen meiner Diakonissenpläne. Oder vielmehr: wenn — dann würde ich Johanniterschwester werden! Die Ausbildung geht da schneller. Nur ein Jahr. Und wo wir die Menge Johanniterritter in unserer Verwandtschaft haben! Da nehmen sie natürlich Rücksicht — auch darauf, daß man schließlich doch auch als Exzellenz und Generalin zu ihnen kommt. Ich kann da vielleicht mit der Zeit einen größeren Wirkungskreis erhalten ... Oberin werden, oder ...«

Frau Dorle schüttelte ratlos den Kopf.

»Ich denk' immer, ich hör' nicht recht! ... Wenn ich mir vorstelle, du in der Schwesternhaube ... eine große Dame wie du ...«

»Eben deswegen! Ich habe viel vom Leben und der Welt gehabt! Mehr als andere! ... Und dies Leben und mein Schicksal hat mich ernst gemacht. Ich bin doch nicht mehr das dumme, blonde Mädel von vor acht oder zehn Jahren, wie wir drei es damals waren! ... Ich bin doch ein gereifter Mensch geworden und hab' Zeit genug gehabt, über vieles nachzudenken. Jetzt bin ich immer noch jung. Ich seh' gut aus. Die Leute freuen sich, wenn ich komme. Aber man wird älter! Was tu' ich denn in späteren Jahren? Soll ich denn da ewig noch, in dreißig oder vierzig Jahren, als die vor undenklicher Zeit mit achtundzwanzig verwitwete[S. 391] Exzellenz Soundso herumlaufen und dem lieben Herrgott die Tage stehlen?«

»Heiraten sollst du!«

»... da will ich mich doch lieber nützlich machen,« schloß Maximiliane, als hätte sie nichts von den Worten der Schwester vernommen. »Das kann mir wirklich niemand verargen!«

Die junge Hauptmannsfrau faßte die lange, schmale, weiße Hand der Älteren und hielt sie zwischen ihren eigenen, molligen, rundlichen Patschen.

»Nützlich macht man sich, wenn man glücklich macht, Maxchen! Dazu hast du doch das Zeug wie wenige. Es ist ja jammerschad' um dich! ... Du mußt dich jetzt an den Gedanken gewöhnen, wieder zu heiraten! ... An Bewerbern kann es dir doch in Berlin nicht fehlen! Es war doch gewiß schon mehr als einer da!«

Die Generalin mußte über die Naivität der kleinen Grenzbewohnerin lachen.

»Einer, Dorle?« sagte sie. »Eine Legion! Ich kann mich gar nicht vor ihnen retten! Sie laufen mir das Haus ein! Ich mach' schon, wenn ich Einladungen annehme, bei meinen Freunden zur Bedingung, daß ich nur verheiratete. Leute zu Tischherren kriege! ... Nein, was das betrifft, da hätt' ich wirklich die Wahl ...«

»Ja, da wähl doch in Gottes Namen!«

Maximiliane von Glümke war wieder ernst geworden. Sie machte ihre Rechte frei, legte die Hände im Schoß zusammen und versetzte ruhig: »Du vergißt immer — und mir scheint, ihr alle vergeßt es immer ein wenig, wenn ihr euch meinen Kopf zerbrecht: meine Ehe ist sehr, sehr glücklich gewesen. Ich kann es wirklich[S. 392] jetzt hinterher noch, wo die Zeit alles geklärt hat, mit gutem Gewissen sagen. Ich habe nie, auch nur einen Augenblick, die Stunde bereut, wo ich ›ja‹ gesagt hab', trotz des Altersunterschieds. Aber daß die Ehe glücklich war, war eben ein Glück. Das kehrt so leicht nicht wieder!«

»Das kommt nur auf den Zweiten an!«

»Ja eben, Kind! ... Ich kann dir nur wiederholen: ich war in einer äußerlich glänzenden Stellung. In meiner Zeit als Mädchen hatte ich in der Hinsicht nur zu gewinnen, jetzt als Witwe hab' ich auch viel zu verlieren! ... Soll ich mir die Stellung bewahren, die ich jetzt inne habe ... so muß ich jemanden zum Mann nehmen, der schon in hohem Amt und Würden ist! ... Es gibt ja solche Leute in der Armee und in der Verwaltung, die es so eilig hatten, Karriere zu machen, daß sie darüber das Heiraten vergaßen, bis sie eines schönen Tages vor dem Spiegel ihre grauen Haare entdecken! ... Solche großen Tiere kommen wohl auch in meinen Gesichtskreis. Für solch eine Vernunftehe dank' ich! ... Für eine zweite! ... Da bleib' ich lieber frei und behalte, was ich ohnedies schon hab'!«

»Es gibt doch auch noch andere Menschen auf der Welt!« sagte Dorle.

»Kind, das verstehst du nicht ... Man kann sich nicht von heute auf morgen umkrempeln wie einen alten Handschuh und in kleine Verhältnisse zurück. Wenn man gewöhnt war, daß die Damen einer ganzen Division einen zuerst grüßten, daß der Regierungspräsident einen zu Tisch führte und Fürstlichkeiten[S. 393] einem die Hand küßten ... und dann hinterher ... nein, so bescheiden bin ich nicht ...«

»Aber das hängt doch nur davon ab, Maxe ...«

»Es wäre ein Unrecht an dem Zweiten! Ich habe Angst, was da alles kommen könnte! ... Nein, lieber nicht! Lieber schon die Einsamkeit, da bin ich wenigstens nur für mich verantwortlich! ... Warum lachst du denn auf einmal so dumm, Dorle?«

»Ach ... ich denke mir so mein Teil!«

»Was heißt das?«

Frau Grotjan legte der Generalin die Hand auf die Schulter.

»Du hast ganz recht, Maxe! ... Du bist noch nicht so weit! ... Du mußt warten, bis der Richtige kommt!«

»Woran erkenne ich denn den?«

Die Schwester lachte wieder.

»Daran, daß du dich in ihn verliebst, du Unglücksgeschöpf ... Aber gründlich verliebst! Bis über die Ohren! ... Das fehlt dir! ... Das ist dein ganzes Unglück! ... Verlieb dich nur mal recht herzhaft, Maxe! Dann sind deine Diakonissengeschichten gleich beim Kuckuck! ... Dann ist dir's auch ganz gleich, ob er Hauptmann oder General ist. Du, Hand aufs Herz, Maxe: Hast du denn wirklich gar nichts da im Herzen drinnen?«

»Nein!« erwiderte Exzellenz von Glümke. In einem plötzlich kalten und gleichgültigen Ton, vor dessen Abwehr ihre Schwester verstummte, und stand auf. »Sag mal: wo ist dein Mann denn eigentlich hingeraten, und die Kinder?«

»Irgendwo voraus! Laß sie doch nur!«

[S. 394]

»Nein. Ich finde, es wird kalt hier!« sagte Maximiliane mit sonderbar unbewegtem Gesicht und frostiger Stimme und knöpfte sich die Jacke zu. »Die Sonne ist auch schon unter! ... Komm — wir wollen nach Hause!«

Der Abend verlief still und gemütlich. Die Grotjans waren die rechten Heimchen am Herde. Natürlich erschienen auch wieder Kameraden mit ihren Frauen. Das Pionierehepaar konnte sich dies offene Haus leisten, trotz seiner beschränkten Mittel. Denn hier war die Einfachheit noch an der Tagesordnung, das berühmte altpreußische Butterbrot, dessen Name sonst wie eine Sage aus verklungenen spartanischen Zeiten in den modernen Wohlstand der Armee hineinklang, noch leibhaftig auf der Schüssel zu schauen. Hinterher tranken die Herren Bier, die Damen Tee. Die Herren saßen im Zimmer rechts, die Damen im Zimmer links. Die einen sprachen vom Dienst, die anderen von den Dienstboten. Maximiliane hörte mit geistesabwesendem Lächeln den Hausstandsorgen um sie herum zu. Ihre Gedanken waren wo anders. Es war eine Unterströmung in ihrer Seele — eine Nachwirkung des Gesprächs von vorhin — die alte Traurigkeit und Ruhelosigkeit ... Und dann, mitten in der Nacht, schlug sie die Augen auf. Sie hatte Herzklopfen. Sie konnte nicht schlafen. Dies unermüdliche, hastige Hämmern raubte ihr alle Ruhe. Dabei war gar kein Grund dazu vorhanden. Sie wußte wenigstens keinen. Sie sah in das Dunkel vor sich empor. Im Wandern ihrer Gedanken hörte sie wieder die Worte ihrer Schwester: ›Warum heiratest du eigentlich nicht?‹ Das war der[S. 395] Schlüssel zu dem ganzen Sein und Schicksal. Es stand einer zwischen ihr und dem Leben und trat immer wieder in ihren Gesichtskreis und kam jetzt wieder zurück. Sie wollte nichts von ihm sehen und wissen, und doch ... was sie vorhin sich und der Schwester verschwiegen und verneint, das sprach jetzt zu ihr die Stille der Mitternacht: ›Ich liebe ja doch, wenn ich's auch zehnmal abgeleugnet hab' ... Ich lieb', solange ich zurückdenken kann, lieb' ich den einen! ... Ich hab' ihn fern von mir gesehen, losgelöst, nur noch ein Bild heiliger Erinnerung, in den Jahren meiner Ehe ... Jetzt, in meiner Einsamkeit, ist er wieder da ...‹

Sie stand auf, ging vorsichtig durch das dunkle Zimmer zum Fenster und schlug den Vorhang zurück. Draußen lag heller Mondschein auf den breiten, hellen Straßen und Plätzen der Thorner Neustadt. Drüben schimmerten in dem blauen Dämmern die Dächer und Höfe der Fußartilleriekasernen. Einsam schildernde Posten vor dem Tor. Der Pfiff einer Lokomotive vom nahen Stadtbahnhof. Und in ihrem Ohr, durch das ewige Hämmern des Herzens, etwas wie ein Rauschen — wie Wellenstrudeln und Windeswehen — und vor ihren Augen etwas Unbestimmtes — eine Rauchwolke dort am Horizont — ein Dampfer fern auf dem Meer — er war in voller Fahrt — er näherte sich — er hatte schon Teneriffa im Rücken ... bald legte er im Heimatshafen an.

Sie atmete schwer auf. Sie sagte sich: Gottlob — wenn auch Logow jetzt wieder nach Deutschland kommt, unsere Wege kreuzen sich nicht. Sie werden ihn irgendwo an den Rhein bringen. Mama schreibt das nicht umsonst.[S. 396] Sie hat schon ihre Quellen. Da bleibt er. Da mag er mit Ulla so glücklich sein, als er vermag. Vielleicht finden sich jetzt die beiden! Ich will das einzige dazu tun, was in meinen Kräften steht: ich will seine Nähe fliehen. Es ist zu seinem Besten. Und zu meinem eigenen erst recht ...

Am anderen Morgen merkten ihr die Verwandten nichts von den durchwachten Nachtstunden an. Sie nahm heiter und unbefangen Abschied von dem Grotjanschen Hause, küßte die Kinder, beschenkte die Dienstboten und fuhr dann mit dem Ehepaar auf dem Krümperwagen über die große Brücke hinüber, nach der Hauptstation. Dort gingen sie auf dem Bahnsteig auf und nieder und warteten auf den von Rußland herkommenden Zug. Draußen auf dem freien Gelände zwischen Bahnhof und Fluß war ein Kommen und Gehen zu den nahen Kasernen. Offiziere zu Fuß und zu Pferd. Ein Hauptmann sah den Pionier und seine Frau, blieb grüßend stehen und rief hinüber: »Haben Sie schon 's neueste Militärwochenblatt gelesen, Grotjan?«

»Nee!«

»Gestern abend erschienen! Warten Sie ... Ich hab's bei mir ... da ist nämlich was drin, was Sie auch interessiert! ... Sie sind doch nahe verwandt mit dem Logow, dem bisherigen Chilenen?«

»Ja. Unsere Frauen sind Schwestern!«

»Na — da sehen Sie ... Glück muß der Mensch haben!«

Er trat heran und zeigte dem andern eine Stelle in der Zeitung, und Maximilianes Schwager las halblaut: »Von Logow, Hauptmann à la suite der Armee,[S. 397] bisher in chilenischen Diensten, vom 25. Mai ab in den Großen Generalstab versetzt!«

»Donnerwetter ja!« sagte er, gab dem Hauptmann, der sich mit erneutem Gruß entfernte, das Blatt zurück und wandte sich, über sein ganzes langes, ehrliches Gesicht von neidloser Genugtuung strahlend, zu den Damen. »Na — das gönn' ich dem Logow! ... Das gönn' ich ihm von Herzen! ... Da muß er sich ja riesig wieder herausgemacht haben in Südamerika! Nun hat er wieder seinen Stein im Brett!«

»Einsteigen!« schrie der Schaffner. Der D-Zug aus Eydtkuhnen war eingelaufen. Maximiliane von Glümke nahm in ihrem Abteil Platz und ordnete mechanisch ihre Sachen. Dann beugte sie sich zum Fenster hinaus. Unten standen die Geschwister und freuten sich noch immer über die gute Nachricht. Sie waren stolz auf den Schwager.

Der Hauptmann Grotjan rief: »Na ... grüß den Erich schön von uns! Du wirst ihn ja nun bald zu sehen kriegen! ...«

»Ja ... ich weiß es nicht ...« sagte die Generalin von Glümke. Sie war blaß geworden. Die fröhlichen Leutchen da unten beachteten es nicht.

Der Pionier lachte: »Wieso? Wo ihr jetzt beide in Berlin wohnt — die Logows und du ... Du, hör mal: Erich und seine Frau müssen jetzt uns auch hier in Thorn besuchen! ... Schärf es ihnen jedesmal ein, so oft du mit ihnen zusammen bist! ... Vergiß es nicht ...«

»Ich werde daran denken ...« Die Stimme der jungen Frau war tonlos. Die Räder knarrten. Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte in der Richtung nach Berlin.

[S. 398]

20

»Ich finde es ers—taunlich,« sagte John Bannersen, in seinem kaltblütigen und nachdrücklichen Deutsch von der Waterkant, und zündete sich seine Nachtischhavanna an, » ... ich finde es offen ges—tanden ers—taunlich, wie ein Mensch in deinem Alter dies Nichtstun jahraus jahrein aushält! Als ich in den Dreißig war, mein lieber Otto, da hab' ich drüben in New Orleans im Baumwollgeschäft Blut und Wasser geschwitzt! Das war kein S-paß! ... Aber du denkst: wozu hat der alte Mann da hinten seinen Arnheim s—tehen? Tja ... Aber wenn der Kasten nun mal verschlossen bleibt? ... Was dann, min Jong?«

Otto von Ottersleben stand am offenen Fenster des Arbeitszimmers seines Schwiegervaters. Draußen im Vorgarten der Charlottenburger Villa leuchtete das Sommergrün des Juni in der Sonne. Finkenschlag und Sperlinggezwitscher klang aus dem Laub der Lindenreihen auf der Straße, die ihren Schatten über den heißen Asphalt warfen. Sein hübsches Gesicht war verdüstert. Er drehte sich um und versetzte heftig: »Ich kann nichts dafür, Papa! Du weißt doch, was für gräßlichen Ärger ich mit dem Gut gehabt hab'! ... Der Verwalter hat gestohlen ... ich hab' jedes Jahr ein kleines Vermögen zugesetzt ... da hab' ich[S. 399] schließlich verkaufen müssen — wenn auch mit Verlust.«

»Eingeseift haben sie den Herrn Leutnant a. D.!« nickte der alte Herr. »Das kommt davon, wenn man seine Branche im S—tich läßt. Ich bin nun schon 'n büschen schlecht auf den Augen, aber ich will dir jetzt noch auf der Liverpooler Baumwollbörse im arbitrationroom auf zehn Schritte sagen: Das ist good middling und das ist fine — da macht mir keiner was vor! ... Du aber vers—tehst nichts von Landwirtschaft. Seit vorigem Herbst sitzt du nun wieder mit Frau und Kindern in Berlin! Und was nun weiter ... Hm?«

»Ich weiß nicht!«

»Dat 's ja nun wohl slimm!« versetzte John Bannersen phlegmatisch, entsandte wieder eine Weile blaue Havannawolken aus den Tiefen seines Klubstuhls und wurde plötzlich in einer ganz breiten und gelassenen Art ungemütlich. »Ich hätte mich als junger Mensch geschämt. Ich hätte lieber Säcke im Hafen getragen oder Holz gehackt, als den ganzen Tag unserm lieben Herrgott die Zeit s—tehlen!«

»Verzeihung, Papa ... Diesen Umgangston bin ich nicht gewohnt!«

»Das glaub' ich!« sagte John Bannersen mit unerschütterlicher Ruhe. »Ich hab' auch lang genug gewartet. Ich hab' jahrelang s—till zugesehen, ich übers—türze nie etwas. Aber nun ist meine Geduld zu Ende. Leuten, die nicht arbeiten wollen, hänge ich den Brotkorb höher. Du vers—tehst ...«

Sein Schwiegersohn biß sich auf die Lippen in hilflosem Widerwillen gegen diese plebejische Auffassung[S. 400] seiner Existenz. Er machte eine verächtliche Handbewegung und zwang sich zu hochmütiger Ruhe.

»Du entschuldigst, Papa, wenn ich dir auf diese Verkehrsformen nicht folge! Sie sind mir zu vulgär!«

Der Baumwollschwiegervater lächelte mit breitem Behagen.

»Geldverdienen ist immer vulgär! Geldausgeben immer fein! Nicht wahr? Aber ich s—pare das Geld lieber für meine Enkel. Ich leg' es testamentarisch fest, s—tatt daß ich es Leuten geb', die es verplempern. Wenn du, ein kräftiger Mensch, dich dein Leben lang von deiner Frau und deinen Kindern ernähren lassen willst ...«

»Adieu!«

Otto von Ottersleben war schon an der Tür. Herr Bannersen erhob sich erstaunt aus dem Sessel.

»Ja, wenn du freilich mitten aus einer ruhigen geschäftlichen Bes—prechung davonläufst ...«

»Adieu! Ich hab' genug gehört!«

Der junge Mann schlug dem Schwiegervater die Tür vor der Nase zu, der drinnen breitbeinig stehen blieb und ihm, die Hände in den Hosentaschen, voll Seelenruhe nachsah, und trat verstört in ein Nebenzimmer. Dort saß seine Frau mit ihrer Mutter. Sie schluchzte. Ihr niedliches Gesichtchen war verweint und verwaschen. Sie flog an seine Brust.

»Otto! ... Mama sagt ... Papa gibt von heut ab nur noch die Hälfte! Er sagt, wir täten nichts!«

»Er sagt noch viel mehr!« versetzte Otto von Ottersleben wütend und schob Adda sanft zur Seite. Er wollte nur fort aus diesem Hause, in dem man ihn so behandelte![S. 401] Er mußte jetzt mit sich allein sein, um sich klar zu werden, was er sich schuldig war. Er küßte seine Frau auf die Stirne.

»Auf nachher, Adda! Wir treffen uns bei Maxe und gratulieren ihr zum Geburtstag! Also in 'ner Stunde! ... Adieu! ...« Er stürmte davon und lief ziellos, düster, mit dem Spazierstöckchen wippend durch die sonnenhellen Straßen Berlins. Überall wimmelte es von Menschen. Alle schienen etwas zu tun zu haben. Sie gingen ruhig, mit geschäftlich gespannten Mienen. Er sagte sich trotzig: ›Gottlob, daß ich nicht so zu schuften brauch' wie die Spießer!‹ aber ihm war nicht wohl dabei zumut. Ihm war, als antwortete ihm die breite schwere Stimme des Schwiegerpapas: ›Dafür bist du eine Drohne. Du wirst schlecht behandelt und mußt es dir gefallen lassen!‹ ... Und in ihm war ein sonderbar katzenjämmerliches Gefühl, inmitten dieser Stadt, in der alles vom Morgen bis zum Abend, vom Kaiser bis zum Kärrner tätig war.

Er blieb unschlüssig stehen. Er hatte keine Lust, jetzt schon seine Schwester, die Exzellenz, aufzusuchen. Da saß alles voll Frauenzimmer, es wurde durcheinandergeschwatzt und Geburtstagskuchen gegessen. Dazu war er nicht in der Stimmung. Er fühlte das Bedürfnis, sich an irgend jemandem festzuhalten, mit einem vernünftigen Menschen zu reden. Hier in der Nähe wohnte sein Onkel Bruno, der Generalleutnant. Er war lange nicht bei ihm gewesen. Er hatte, als verwöhnter Gentleman von Paris oder der Riviera heimkehrend, eine unbestimmte, ein wenig geringschätzige Scheu vor diesem nüchternen, altpreußischen Haus.[S. 402] Aber heute schien es ihm, in seiner Gekränktheit und Ratlosigkeit, wie eine Heimat. Er stiefelte entschlossen drauf zu und war froh, als ihm gemeldet wurde, Exzellenz seien daheim und würden sich sehr freuen.

An dem General Bruno von Ottersleben waren die Jahre scheinbar spurlos vorübergegangen. Es war immer noch dieselbe aufrechte, breitschulterige, ein wenig schwere Gestalt, dieselben klugen, etwas grobgeschnittenen Züge voll ruhigen Wohlwollens und unerschütterlicher Festigkeit. So hörte er die Klagen an, in denen sein Neffe ihm das Herz ausschüttete und wütend schloß: »Wenn der Olle mir so kommt ... mir so ... sozusagen mir nichts dir nichts die Temporalien sperrt ... ich lass' mir von dem alten Rauhbein nichts gefallen ... da kennt er mich schlecht! Aber ich sitze ja rein auf dem Pfropfen ... Wovon soll ich denn leben ... zum Kuckuck ... mit Frau und Kindern? ... Ich bin ja ganz in seiner Gewalt! Schließlich wird er noch verlangen, ich soll in sein Geschäft eintreten ... Baumwolle zupfen ... hol' mich der Deubel ... ich bin doch ein Ottersleben ...!«

Der Blick des Generals lag ruhig prüfend auf dem aufgeregten, auffallend hübschen jungen Mann. Er musterte sein Äußeres von Kopf bis zu Fuß — den eleganten blauseidenen Knoten des Selbstbinders, der aus dem Schlitz des hohen Stehumlegkragens hervorquoll, die geblümte Phantasieweste unter dem taubengrauen Cutaway, die bunten Sockenzwickel zwischen dem aufgekrempelten Beinkleid und dem ausgeschnittenen Lackschuh. Er verstand nicht das Geringste von diesen Dingen vom Zivil, er ahnte nicht, daß dies Ganze ein[S. 403] aus dem Rahmen einer Schneiderzeitung gestiegenes Musterbild der Mode war — für ihn bedeutete es nur ein Gleichnis, und er sagte, nachdem der andere geendet, ruhig: »Dein ganzes Unglück ist, daß du falsch angezogen bist, Otto!«

»Ich? Wieso?«

Der Neffe sah erschrocken an sich hinab. Sein Onkel fuhr fort: »Du sagst selbst, du bist ein Ottersleben! ... Ein junger, gesunder, kräftiger Ottersleben. Also solltest du von Gottes und Rechts wegen die Uniform tragen. Dann wäre dir gleich wohler ...«

»Ich bin doch Reserveoffizier bei dem Kü...«

Der General unterbrach ihn mit einer Handbewegung und fuhr fort: »Hänge du mal den grauen Schwalbenschwanz und die Fastnachtsweste, die du anhast, an den Nagel und geh und suche dir wieder eine Uniform — ich will dir helfen ... und wir werden leicht eine finden — aber ... eine blaue, mein Sohn, mit schönem schwarzen Kragen ...«

»Ich soll wieder Artillerist werden?«

»Paß mal auf!« sagte der General gelassen. »Wenn du das erste Mal kommandiert hast: ›Erstes Geschütz: Feuer!‹ — wie nützlich du dich gleich nach dem Knall wieder auf der Welt fühlst. Jetzt weißt du ja nicht, wozu du eigentlich da bist. Und wir anderen offen gestanden noch weniger!«

»Ja, aber ich in einem Artillerieregiment ... mit dem rasenden Geld ...«

»Wozu brauchst du denn das rasende Geld? Hat dein Schwiegervater nicht seinerzeit der Form wegen das Kommißvermögen für dich einzahlen müssen?«

[S. 404]

»Ja ... das schon ... aber ...«

»Gut! Dann leb doch mal von den Zinsen des Kommißvermögens! Wenigstens eine Zeitlang! Pfeif ihm auf seinen sonstigen Krempel! Dann bist du wahrscheinlich der einzige Mensch, der dem alten Herrn seit fünfzig Jahren imponiert hat!«

»Ja, aber ... meine Frau ist doch so verwöhnt ...«

»Stell sie doch mal auf die Probe! Sie hat dich doch lieb! Es wird schon gehen! ... Deine Tante da drinnen und ich, wir haben in unserer Leutnantszeit überhaupt nicht gewußt, was warmes Abendbrot ist ... Und wir leben auch noch ... Das ist nicht so schlimm ...«

»Aber es wäre doch furchtbar schwer, Onkel ...«

Exzellenz von Ottersleben langte nach Mütze und Säbel. Er wollte in den Grunewald reiten. Unten auf der Straße harrte der Bursche mit den Pferden.

»Ja, wenn das alles so leicht wäre, lieber Neffe!« sagte er, »dann könnt' es jeder! Das sind eben die Kraftproben! Sieh zu, was in dir steckt! Vielleicht mehr, als du glaubst und man dir zutraut! ... So — nun weißt du meine Meinung. Ich muß jetzt fort! Adieu, Mutter!«

Frau von Ottersleben war so wenig gealtert wie ihr Mann — eine große, blonde, hausmütterliche und hausbackene Exzellenz mit den frischen Wangen und dem glatten Scheitel einer ländlichen Pfarrersfrau. Ihre beiden Söhne von der Garde-Infanterie, Günter und Busso, waren aus der fernen Kaserne zu einem Nachmittagsbesuch gekommen und eben im Begriff, sich zu verabschieden. Otto von Ottersleben schloß sich ihnen an. Er hatte die beiden jungen Leutnants lange[S. 405] nicht gesehen. Nachdenklich schritt er zwischen ihnen auf der Straße und hörte den Vettern zu. Der eine, der ältere, büffelte schon fleißig auf die Kriegsakademie hin ... Man mußte sich beizeiten heranhalten bei dem schlechten Friedensavancement! Der andere hatte sich mit Einwilligung des Vaters zum Dienst nach Südwestafrika gemeldet, um einmal ordentlich Feldsoldat zu sein. Beide machten einen straffen, festen Eindruck. Sie wußten genau, was sie wollten. Und Otto von Ottersleben konnte sich nicht helfen: Wieder beschlich ihn, zwischen diesen Grünschnäbeln, ein sonderbares Gefühl der eigenen Zwecklosigkeit, und in seinem Ohr klang es wie aus weiter Ferne: ›Erstes Geschütz: Feuer!‹

Die Leutnants begleiteten ihn zu Maximiliane, um da auch ihre Geburtstagsaufwartung zu machen. Die Zimmer der verwitweten Exzellenz waren voll von Blumen und voll von Menschen. Es war ein Gedränge und Gelächter um den Geburtstagstisch mit seinen einunddreißig Lichtern, ein Kommen und Gehen. Die beiden Leutnants hörten, während sie vorgestellt wurden, klangvolle Namen, Titel und Würden. Die junge Witwe hatte sich in Berlin einen hübschen Kreis geschaffen. Sie war, so ungezwungen und einfach sie sich auch bewegte, immer noch in jedem Salon der Mittelpunkt, wie einst an der Spitze der Division. Man räumte es ihr als etwas Selbstverständliches ein, so wie sie mit ihrem hohen, schlanken Wuchs die meisten anderen Damen überragte. Sie war etwas blaß, aber heiter. Busso von Ottersleben beugte sich über ihre Hand und murmelte ernst: »Maxe ... du wirst immer noch alle Tage schöner! Wo soll denn das hinaus?«

[S. 406]

Sie entzog dem Schwerenöter ihre Rechte.

»Busso — das ist 'ne gräßliche Art! Schrecklich, wenn sich ein Mensch dümmer anstellt, als er ist! Weißt du denn gar nichts Besseres?«

»Ich?« Der junge Krieger richtete sich auf und wurde stolz. »Ich weiß wohl, was ich tu'! Ich geh' doch nach Südwest! ... Es ist schon entschieden!«

Das Wort Südwest zündete. Die Umstehenden traten interessiert hinzu. Eine alte Dame klagte: »Ach Gott ... die Schutztruppe! ... Wieviel Herren haben wir da schon gelassen!«

»Dazu sind wir da, gnädige Frau!«

Und ein alter General nickte.

»Nur immer 'raus! Ist den jungen Leuten sehr gesund!«

»Nicht wahr?« meinte der angehende Schutztruppler eifrig. »Das hab' ich mir eben auch gesagt! ... Wenn ich nur zum Beispiel an den Erich Logow denke! In was für 'ner Verfassung ist der vor drei Jahren hinüber nach Chile! Und nun wieder so famos zurück! ... Gesund ... Fidel ... Wieder im Großen Generalstab ... in allem tiptop ... Findest du nicht auch, Maxe?«

»Ich weiß nicht. Ich hab' ihn noch nicht gesehen!«

»Wieso? Er ist doch schon seit drei Wochen in Berlin!«

»Aber bei mir war er nicht!«

»Komisch! Hat dir Ulla nicht verraten, warum?«

»Ulla war auch noch nicht da!«

»Hört mal, Kinder: ihr seid aber merkwürdig! Da würde ich doch an deiner Stelle einmal ...«

Maximiliane von Glümke schnitt ihm das Wort ab.

[S. 407]

»Laß sie doch machen, was sie wollen! Ich lass' mir keine grauen Haare drüber wachsen. Hast du schon Peters Braut guten Tag gesagt?«

Der kleine Grenadier, Maxes jüngster Bruder, war aus seiner schlesischen Garnison mit seiner künftigen Frau und ihrer Mutter herübergekommen. Die kleine Gräfin war ein niedliches Ding, mit rundem Stupsgesicht und großen Kinderaugen. Sie und ihr Verlobter saßen Hand in Hand. In acht Wochen sollte auf dem elterlichen Schloß die Hochzeit sein. Jetzt eben wurde in Berlin die bescheidene Aussteuer besorgt, und Edith Spalck, die Braut, sprang plötzlich stürmisch empor und faßte die Hausfrau um die Taille.

»Also, Maxe ... du kommst mindestens acht Tage vorher zu uns hinüber! Du mußt's mir versprechen! Du hast doch sonst nichts zu tun!«

Die junge Exzellenz lächelte. Es lag einen Augenblick ein schmerzlicher Schatten auf ihrem schönen Gesicht.

»Da hast du recht, Edith!« sagte sie. »Ich weiß wirklich nicht, wozu ich auf der Welt bin! Was bringen Sie da, Minna?«

»Eine Depesche, Exzellenz!«

Sie war aus Darmstadt, von der Mutter: »Tausend Glückwünsche und herzliche Grüße an Dich und die anderen Kinder und die liebe Edith und den guten Erich! Eure alte Mama.«

»Danke schön!« versetzte die kleine Gräfin Spalck, die vor wenigen Wochen erst als Braut in den Familienkreis getreten war und noch nicht mit allen Zweigen[S. 408] der Verwandtschaft Bescheid wußte. »Aber wer ist denn Erich?«

Maximiliane von Glümkes Züge blieben unverändert.

»Erich ist mein Schwager Logow!« sagte sie. »Aber wie du siehst, ist er nicht hier, und so kann ich ihm die Grüße nicht bestellen! ... Guten Tag, Onkel! ... O, die schönen Blumen!«

Der Oberstleutnant a. D. Herr Wilderich von Koninck, der in der geöffneten Flügeltür erschien, hatte etwas Feierliches an sich. Er war Bräutigam auf seine alten Tage. Neben ihm wandelte seine Erwählte. Groß, blond, von stattlichen, frauenhaften Formen, nicht mehr jung, nicht mehr hübsch, aber sehr energisch. Sie wurde den Damen als Fräulein von Hornschuh vorgestellt. Hinter ihr machten die Leutnants vergnügte Gesichter, und Busso murmelte: »Na ... der Olle steckt fest im Eisen!«

Herr von Koninck setzte sich mit seinem Brigittchen — so nannte er die strenge, die Länge eines Potsdamer Flügelmanns erreichende Braut — neben Maximiliane und erzählte ihr seine Zukunftspläne, und daß sie in Anbetracht der Sandwege auf ihrem märkischen Gut kein Auto anschaffen, sondern bei den ollen ehrlichen Gäulen bleiben würden, und von der anderen Seite berichtete ihr ihr Bruder Otto von den Feindseligkeiten, die der Schwiegervater plötzlich aus heiterem Himmel eröffnet. Und die junge Witwe hörte zerstreut zu und nickte, den Kopf müde von den vielen Geburtstagsbesuchen, die sich jetzt allmählich verloren. Es wurde leerer in dem kleinen, blumengeschmückten[S. 409] Zimmer. Auch die alte Gräfin Spalck mit ihrer Tochter und dem zukünftigen Schwiegersohn empfahl sich. Maximiliane stand noch im Gespräch mit ihr auf der Schwelle, da hörte sie draußen eine Stimme — die Männerstimme eines Neuangekommenen, der gedämpft mit dem Mädchen redete — drei Jahre hatte sie diese Stimme nicht gehört und erkannte sie auf den ersten Ton. Ihr Herzschlag stockte. Sie zwang sich, ein unbewegtes Gesicht zu machen. Sie blieb immer noch plaudernd mit dem Rücken gegen die Tür und gab der kleinen Gräfin einen Abschiedskuß und meinte auf deren Frage lächelnd: "Für wen ich die Kuchenstücke da einpacke? ... Für Ottos Kinder!« und vernahm im selben Augenblick, wie jemand hinter ihr rief: »Na, endlich! Da ist der Logow ja ... na — nu mal 'ran, du oller Deserteur! Wo hast du denn die Ulla gelassen?«

Sie wandte sich um. Da stand er. Ihr erster Eindruck beim Anblick seiner gebräunten Züge war eine Erleichterung, eine selbstlose Genugtuung. Wie gut sieht er aus!... Wieviel frischer und freier! Das allzu Harte an ihm hatte sich da draußen in die Ruhe eines Mannes ausgeglichen, der viel von der Welt gesehen und sich in ihr bewährt hatte. In seinen dunklen Augen lag ein kaltblütiges Kraftbewußtsein. So hatte sie ihn nur einmal, vor langen Jahren, gesehen — es schoß ihr durch den Kopf — wenige Tage hindurch — als er innerhalb von vierundzwanzig Stunden zum Hauptmann befördert, in den Generalstab versetzt und Ullas Bräutigam geworden war. Sie fühlte einen Stich im Herzen. Sie lächelte und streckte ihm die Hände hin.

[S. 410]

»Ich dachte, ihr beiden hättet mich überhaupt schon ganz vergessen, Erich!«

Sie merkte, wie schwer es ihm fiel, vor den anderen auf ihren leichten Ton einzugehen. Und doch: es war ein Segen, daß andere im Zimmer waren. Sie wäre sonst geflohen. Sie spürte es. Sie hätte es nicht ausgehalten. Es erschreckte sie. Sie hatte weniger Widerstandskraft, als sie gedacht. Er sah ihr grade ins Gesicht und sagte scherzend: »Hab' du mal meinen Dienst, Maxe!... Jetzt geht das Schuften wieder los!... Na ... du kennst ja die Generalstabsarbeit! Du warst ja schon einmal als Mädel mein Adjutant!«

Er lachte dabei. Er beherrschte sich. Sie auch! Aber in ihr war bei seinen Worten der Schmerz, der verzweifelte Schmerz: Nun hub das wieder an. Nun war das bißchen Frieden vorbei. Nun stöhnte wieder der Sturm und schüttelte zwei Seelen.

»Gott ... das ist so ewig lange her!« meinte sie. »Das ist mir schon wie aus einem anderen Leben! ... Sag mal: Wo steckt denn Ulla?«

Er zuckte die Achseln.

»Sie liegt wieder auf der Nase! ... Sie läßt dich herzlich grüßen ... Es ist immer die alte Geschichte! Ich verderb' euch nur damit die Feststimmung. Laß mal lieber schauen, was du Schönes gekriegt hast, Maxe!«

Er trat mit ihr in den Nebenraum, in dem der Geburtstagstisch stand. Außer ihnen war niemand im Zimmer. Vor dem Kuchen mit den Lebenslichtern blieb er stehen. Aber er achtete nicht auf den bunten Tand von Rosen, Handarbeiten, Fruchtkörbchen, Büchern, der ihn umrahmte. Er legte einen Busch weißer[S. 411] Lilien, den er bisher, ohne daran zu denken, in der Linken gehalten, achtlos zu den übrigen Blumen, und schaute Maximiliane an. In diesem Augenblick sahen sie sich erst wirklich wieder. Beide wurden blaß und ernst.

»Setz dich doch endlich!« sagte sie.

Er nahm auf dem Sofa Platz. Sie neben ihm. Die Tür zu dem anstoßenden Gemach stand offen. Dort hatte man sich um Otto gedrängt, der seinen Zwist mit dem Schwiegervater dem Familienrat unterbreitete. Die hier innen hörten, wie die kleine Frau Adda leidenschaftlich ausrief: »Ich geh' mit meinem Mann durch dick und dünn! ... Da werden wir eben in Gottes Namen Artilleristen!... Ich verkauf' meinen Schmuck. Das Auto auch. Papa soll nur sehen!«

Und sie mußten, trotz der zitternden Spannung zwischen ihnen, lächeln, und Erich von Logow sagte: »Ich wär' froh für deinen Bruder, wenn ich ihn wieder in Uniform sähe. Das Nichtstun taugt den Teufel was! ... Man muß sich Aufgaben stellen — so schwer wie möglich — und sie zu lösen suchen! Was darin für ein Segen liegt, das hab' ich in den drei Jahren erkannt ... Ich hab' allen Grund, mit der Zeit da drüben zufrieden zu sein ... Wie ich neulich so frühmorgens zum erstenmal nach drei Jahren die europäische Küste wiedergesehen hab', da hab' ich gar nicht begriffen, daß das noch derselbe Kerl sein sollte, der damals so verzweifelt ins Aschgraue hinübergefahren ist! Jetzt hab' ich, gottlob, meine alte Spannkraft wieder!«

»Bewahr sie dir nur, Erich!« versetzte sie leise mit einem kaum merklichen Zucken um die Lippen. »Bewahr sie dir ja!«

[S. 412]

Sein Antlitz hatte sich plötzlich verdüstert.

»Ja ... und nun sieh mal, wie das geht: Ulla hatte mir versprochen, mich in Hamburg zu erwarten. Sie ist auch rechtzeitig aus dem Süden dorthin gereist ...«

»Ja. Mama hat es mir geschrieben.«

»Nun stand ich, wie das Schiff im Hafen festmachte, ganz vorne — unten auf dem Kai alles schwarz von Menschen — und hab' mir die Augen ausgeschaut. Umsonst! Im Hotel hab' ich Ulla dann getroffen. Im Bett. Wieder krank! Der rasche Klimawechsel war ihr zu viel gewesen!«

»Ach, du Armer ...«

»Da war man so grade im Mai wieder daheim in Deutschland — bei blauem Himmel — ganz geladen mit gutem Willen und Hoffnungen auf die Zukunft ... Und gleich die erste Nacht mußte ich im Hotel wach sitzen und Ulla pflegen, bis ich sie wieder nach Berlin bringen konnte. Ja — da spürte man wieder die alte Kugel am Bein ...«

»Du mußt Geduld haben, Erich!«

»Wenn sie's nur mit mir haben! Schau: jetzt haben sie's noch einmal mit mir versucht. Ich bin wieder im Generalstab. Ich hab' noch einmal die Klinke zur großen Karriere in der Hand. Versag' ich diesmal, ja, dann sagen sie sich: ›Der Mann hat zu viel anderes im Kopf! Für den ist das zu schwer!‹ Und stecken mich einfach in die Front. Da kann ich dann mein Bataillon drillen und sachte meinen Abschied nehmen und grau und alt werden an Ullas Krankenbett ...«

Plötzlich wurde er leidenschaftlich.

»Und was das Schrecklichste ist, Maxe: Sie verzehrt[S. 413] sich auf ihrem Krankenbett auch noch vor Eifersucht! ... Vor grundloser, sinnloser Eifersucht! Denn wir beide, du und ich, haben uns doch seit Jahren nicht mehr gesehen und keine Zeile miteinander gewechselt! Das hab' ich ihr geschworen, und sie glaubt es mir auch. Aber es ist ihr nicht genug. Sie will bis in meine Gedanken eindringen. Ich soll ihr eigen sein mit Herz und Seele! ... Sie quält sich und mich bis aufs Blut. Und macht uns beide krank und elend! ... Das ist der Grund, warum du mich heute zum erstenmal siehst! ... Einmal mußte ich ja schließlich kommen!«

Er reckte sich in den Schultern und hob den dunklen energischen Kopf.

»Eine Zeitlang geht's ja! Da hält der Kraftvorrat vor, den ich heimgebracht hab'! ... Aber schließlich höhlt es einen aus, Tropfen um Tropfen, man wird mürbe. Man sieht's kommen! Ich weiß nicht, warum ich dich auch noch damit quäle! ... Du kannst doch nicht helfen. Aber dir muß ich das alles sagen! Du bist ja das alles!«

»Schweig!« versetzte sie hastig, hart und leise. Von nebenan näherten sich Stimmen. Otto von Ottersleben und seine Frau traten über die Schwelle. Er schwenkte die Rangliste, in der er schon nach für ihn passenden, billigen Artillerieregimentern gesucht hatte.

»Na, adieu, Schwesterchen!« sagte er aufgeregt und erhitzt von dem großen Entschluß, mit dem er kämpfte. »Und vergiß in Zukunft deine darbenden Verwandten da unten bei den Kassuben oder Masuren nicht! Wir gehen jetzt dem Hungertuch entgegen! Der olle Bräsig[S. 414] hat ganz recht: Die Armut kommt von der Poverteh! Macht nischt! Auch recht! Mal was Neues im Leben!«

»Also willst du wirklich wieder eintreten!«

»Nu grade! Und wenn der Schwiegerpapa zehnmal vor Schreck vom Stengel fällt!« Der hübsche junge Mensch stand lässig und trotzig lächelnd vor seinem auf dem Sofa sitzenden Schwager, schaute auf dessen Achselstücke hinunter und machte plötzlich große Augen. »Du, Mensch ... seh' ich denn recht? ... Du trägst ja die dicken Epauletten ...«

»Ja. Seit vorgestern bin ich Major!«

Major! Ein Aufschrei ging durch das ganze Zimmer. Otto von Ottersleben legte dem andern beinahe feierlich die Hand auf die Schultern.

»Herrschaften: er ist doch offenbar ein Kirchenlicht vor dem Herrn! Man sieht's ihm nicht an, aber in der großen Bude müssen sie's ja wissen! Wieviel Vorderleute hast du denn diesmal übersprungen?«

»Ein paar Hundert!«

»Na, Gott segne deine Studia!« sagte der Oberleutnant der Reserve von Ottersleben in stiller Wehmut, beim Gedanken an seine eigene rückständige Laufbahn.

Die übrigen drängten sich um den neuen Major. Es war ein Händegeschüttel und Glückwünschen. Alles machte frohe Gesichter. Erich von Logow lachte mit. Er war aufgestanden. Seine Augen blitzten. Unruhig spielte der Ehrgeiz über seine energischen Züge. Sein häusliches Elend war vergessen. Er war in dieser Minute ganz Offizier. Ganz Wille und Selbstbewußtsein.[S. 415] So blieb er, während sich allmählich der Schwarm der Besucher verlor. Nun gingen endlich die letzten. Er fand sich mit Maximiliane allein. Die sinkende Sonne schien schrägen Strahls durch die offenen Fenster. Draußen verblaßte der blaue Sonnenhimmel über den Dächern und Telephondrähten Berlins. Sie standen nebeneinander auf dem Balkon und schauten hinaus in diese steinerne Weite, in der zu Hunderttausenden und Millionen die Menschen gleich ihnen lebten und ihr Leid trugen. Um sie grünten und blühten auf dem schmalen Sims umher die Blumen. Ein süßer, schmeichelnder Duft stieg von ihnen auf, umwehte sie in dem lauen Abendwind. Maximiliane hätte gewünscht, daß ihr Gast sie jetzt verlassen möge. Aber sie wagte es ihm nicht zu sagen. Es schien ihr wie ein Eingeständnis von Schwäche. Die durfte er bei ihr vor allem nicht sehen. Sie wollte von etwas Gleichgültigem zu reden anfangen, da drehte er den Kopf zu ihr und sagte rasch: »Verzeih ... ich hab' vorhin immer nur von mir gesprochen ... das kommt davon, wenn man sich so in sein Schicksal verbockt und verbiestert! Man kommt davon nicht los!«

»Sprich mir nur von Ulla, wenn es dir das Herz leichter macht!«

Er schüttelte das Haupt, als wollte er sagen: Es hilft ja doch nichts! Dann frug er, nach einer Weile, vor sich hin: »Nun bist du schon lange Witwe, Maxe ...«

»Bald werden's drei Jahre!«

Sie verstummten wieder. Endlich versetzte er: »Denke dir: ich hab' es erst beinahe nach einem halben Jahr erfahren: so tief im Innern war ich damals in Chile. Seitdem hab' ich so oft an dich denken müssen ...«

[S. 416]

Er brach ab und fügte dann hinzu: »Das heißt: vorher ebenso oft!«

Sie machte eine Bewegung, vom Balkon zurückzutreten. Er verstand sie. Er murmelte: »Ja, ja ... ich bin schon still ...«

Wieder war um sie nur das Fächeln des Windes, von der Straße her das unbestimmte Brausen Berlins. Dann forschte er trocken, anscheinend wieder völlig Herr seiner selbst:

»Wie lebst du nun denn so eigentlich, Maxe?«

»Du siehst's ja, Erich! Ich kann nicht klagen!«

»Also bist du zufrieden?«

Sie zeigte ihm ein ruhig lächelndes Gesicht.

»Es ist mir ja noch manches geblieben nach dem Schicksalsschlag! Vor allem die Erinnerung an einen Menschen, der's so gut mit mir gemeint hat und mich so geliebt hat wie gewiß keiner wieder auf der Welt. Ich bin viel durch ihn geworden, — glaub mir! Das wirkt jetzt noch nach. Das hat mir die Kraft zum weiteren Leben gegeben. Ich hab' die Trümmer gesammelt. Es ist doch hier ganz nett um mich — nicht?«

Er nickte.

»O gewiß,« meinte er. »So für die erste Zeit ... bis das Schwerste überwunden ist ... Aber dann ...«

»... aber dann?«

»Du kannst doch nicht immer so weiterleben ... Das kann dir doch nicht genügen!«

Ihre Stirn blieb heiter, ihre Augen klar.

»Was soll denn noch Großes kommen? Ich erwarte mir nichts mehr.«

»So? Nun — das freut mich!«

[S. 417]

Er sprach es bitter und wandte sich ab. So setzte er hinzu, während es düster unter seinem Schnurrbart zuckte: »Aber ich glaub' es nicht, Maxe!«

Maximiliane von Glümke lächelte wieder.

»Glaub ruhig daran, was du von mir siehst und hörst! Woher willst du denn sonst etwas wissen? Und nun wird's Zeit. Geh heim zu Ulla und grüße sie schön von mir!«

Er erwiderte nichts.

»Und richt ihr aus, ich käme morgen nach ihr schauen und wünschte gute Besserung. Adieu jetzt, Erich! Sie wartet gewiß schon auf dich!«

»Ich geh' ja schon ...«

Erich von Logow sprach es finster und zerstreut, ohne sich von seinem Platz zu rühren. Endlich trat er vom Balkon in das schon halb dämmerige Zimmer zurück. Da blieb er wieder stehen. Sein Auge irrte ziellos durch den kleinen, von Blumenduft und Geburtstagsschmuck erfüllten Raum. Es schien, als suche er nach einem Anlaß, noch länger zu verweilen. Die junge Exzellenz stand vor ihm und wartete, daß er sich verabschieden würde. Plötzlich seufzte er schwer auf.

»Wenn man so denkt, Maxe .... ein einziger Fehltritt im Leben ... oder vielmehr eine wahnsinnige Blindheit in der entscheidenden Stunde ... Und nun bis an sein seliges Ende darunter leiden zu müssen ... jahraus ... jahrein ..., wo man alles so viel besser und schöner hätte haben können ...«

»Gute Nacht, Erich!«

[S. 418]

»... siehst du ... wenn ich darüber nachdenke, dann verlier' ich wieder allen Mut, alle Kraft ... Es ist gräßlich ... Es erscheint einem alles so unnütz, was man tut und soll ... fremde Pflichten von außen, wo man mit sich selber nicht fertig wird! ... Sei du froh, Maxe, und danke deinem Schöpfer, daß du dies Kunststück fertig bringst ...«

»Gott sei Dank hab' ich meine Ruhe gefunden!«

Er schaute sie wieder wie vorhin zweifelnd an.

»Eigentlich sieht dir's gar nicht ähnlich! Du warst doch früher so wie ich: Alles oder nichts! Freilich, das Leben nimmt einen hart in die Lehre. Man wird bescheiden. Oder sollte es wenigstens endlich sein ... Also adieu, Maxe!«

Die Generalin von Glümke wollte klingeln, um das Mädchen draußen zu benachrichtigen, daß der letzte Besucher ginge. Da trat diese eben über die Schwelle. Sie brachte einen Brief. Maximiliane öffnete ihn und sagte, während jene sich zurückzog: »Von der Dorle! Die Grotjans lassen dich auch schön grüßen, Erich, und dir zum Major Glück wünschen. Sieh mal an: da wußten die das schon in Thorn!«

»Das ist ja kaum möglich!«

»Doch: da steht's!«

Sie zeigte ihm mit dem Finger die Stelle. Er blickte über die Schulter und versetzte plötzlich: »Was ist denn da für eine Nachschrift?«

»Wo?«

»Da am Rand ...«

Er las rasch, halblaut, die paar Zeilen vor: »Was[S. 419] machen denn deine Diakonissenpläne? Denkst du wirklich noch daran, der Welt zu entsagen? Hoffentlich nicht! Nochmals tausend Grüße! Dein getreues Dorle.«

Die junge Frau ballte hastig den Brief zusammen, als wollte sie ihn verstecken. Eine flüchtige Röte schoß über ihre Wangen. Erich von Logow blieb eine Zeitlang stumm. Endlich frug er mit trockener Kehle: »Was heißt denn das, du willst Diakonissin werden?«

»Nein, Johanniterschwester!«

»Das ist doch dasselbe!«

»Ungefähr ja.«

»Ich denke, du fühlst dich hier ganz wohl ...«

Sie gab keine Antwort.

»Du behauptest doch, du seist so zufrieden ...«

Sie hatte sich von ihm abgewandt. Er sprach langsam: »Mir scheint, mit deiner Seelenruhe ist es doch nicht so weit her, Maxe ...«

Zum erstenmal verlor sie die Fassung. Sie warf gereizt den Kopf in den Nacken.

»Das geht dich nichts an, was ich tu' und lasse! Gar nichts ... verstehst du?«

»O ja, ich verstehe.«

»Du hast daraus keine Schlüsse zu ziehen ...«

»Ich tu' es doch!«

Er trat näher. Sie wich vor ihm zurück. Er folgte ihr. Er stand dicht vor ihr. Beide waren sie geisterbleich geworden in der Dämmerung. Maximiliane von Glümke nahm ihre äußerste Kraft zusammen.

»Geh!« sagte sie heiser. »Zum letztenmal: geh zu deiner Frau!«

[S. 420]

Diesmal gehorchte er. Er gab ihr nicht die Hand. Er drehte sich schweigend um und nickte ihr auf der Schwelle durch das Zwielicht traurig zu, wie einem Kameraden. Sie rührte sich nicht. Sie holte kaum Atem. Sie stand unbewegt, wie eine Statue, bis er das Zimmer verlassen. Dann stürzte sie auf das Sofa nieder und barg, aufschluchzend, das Antlitz in die Hände.

[S. 421]

21

Es war eine der nüchternsten Stadtgegenden, in der Major von Logow diesmal sein Berliner Heim aufgeschlagen, im Nordwesten draußen, zwischen der Spree und Altmoabit, mit dem Blick auf Kohlenlager und Speicherschuppen, die den trüben Spiegel des Flusses verdeckten. Aber auf dessen anderer Seite, kaum zehn Minuten entfernt, lag das Generalstabsgebäude. Und zudem: die Wohnung war billig. Das fiel jetzt auch ins Gewicht. Denn Ullas Leiden kostete Geld. Immer mehr Geld, jahraus, jahrein.

Und ihre Schwester Maximiliane dachte sich, während sie am nächsten Morgen durch den Tiergarten zu dem Krankenbesuch gen Norden ging, — selbst gesund, straff und mit flüchtigen Schritten: wenn nicht einmal dieser wunderbare Mai ihr neue Lebenskraft bringt, wann — wann soll sie denn dann je genesen?

Um sie war frisches Grün, blauer Himmel, goldene Sonne. Sie hatte den Großen Stern und das Schloß Bellevue hinter sich gelassen und auf der eisernen Brücke die Spree überquert. Nun stand sie vor dem Logowschen Haus, einer grauen Mietskaserne wie tausend andere. Da wohnten sie zwei Treppen hoch. Sie brauchte nur zu klingeln und hinaufzugehen. Sie fand die Kranke sicher daheim. Und sicher allein.[S. 422] Ohne ihren Mann. Den hielt der Dienst den ganzen Tag außer Hause fest.

Und doch zögerte sie in einer unbestimmten Scheu. Irgend etwas hemmte sie, auf den Knopf am Haustor zu drücken. Der alte Schuhmacher, der da drinnen mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch saß, blinzelte aus seiner Portierloge neugierig zu ihr heraus. Sie zauderte noch immer. Es war wie eine jähe Anwandlung von bösem Gewissen. Ein Schuldgefühl. Eine Erinnerung. Sie dachte sich: Jedesmal, wenn ich die Schwelle der Logows überschritten hab', hab' ich Unglück in ihr Haus gebracht. Immer war ich das Trennende. Immer trat ich zwischen ihn und sie, zwischen Gesundheit und Siechtum, zwischen Kraft und Schwäche. Soll ich denn ewig das Werkzeug ihres Verhängnisses sein? Und des meinen dazu?

Da hinten, fern, kam ein Offizier um die Ecke. Er schritt langsam auf sie zu. Am Ende war es Logow selbst. Er hatte ein wichtiges Aktenstück daheim vergessen und holte es sich. Oder er schaute nach seiner Frau. Eine plötzliche sinnlose Angst ergriff sie. Sie kehrte um. Sie eilte von dem Hause weg, als ob sie da ein Verbrechen hätte begehen wollen, und in entgegengesetzter Richtung den Bürgersteig hinunter. Erst nach ein, zwei Minuten warf sie, den Fahrdamm überschreitend, einen bangen Seitenblick zurück. Der Offizier setzte immer noch ruhig seinen Weg fort. Er hatte die Logowsche Wohnung längst hinter sich. Er war untersetzt und rundlich und trug einen grauen Schnurrbart. Es war lächerlich, daß sie sich in ihm ein Trugbild ihres Schwagers Erich vorgespiegelt hatte.

[S. 423]

Aber das wiederholte sich heute den ganzen Tag. Immer wieder stand Erich von Logow vor ihr. Er hatte heute viele Doppelgänger in Berlin oder wenigstens Menschen und Dinge, die sie ständig an ihn erinnerten. Sie erblickte auf dem Rückweg von der Spreebrücke aus das Dach des Generalstabsgebäudes und fragte sich: Ob er wieder die Mobilmachungsarbeiten unter sich hat, mit den eingerahmten Vierecken, wie damals? Sie sah, während sie in der Leipziger Straße Besorgungen machte, ein paar Offiziere mit karmesinroten Beinkleiderstreifen aus dem Kriegsministerium treten, und es ging ihr durch den Kopf: ›Das sind wohl Kameraden von ihm. Aber er sieht besser aus, frischer!‹ Sie nahm zu Hause die Zeitung zur Hand mit dem bewußten Vorsatz: ›Ich muß doch einmal nachschauen, ob seine Beförderung schon drin steht!‹ Und zwang sich, die Seiten umzublättern, und ertappte sich darauf, wie sie unter den Depeschen nach Neuigkeiten aus Chile suchte, als könnte unter ihnen vielleicht noch, als Nachhall seines dortigen Wirkens, sein Name genannt sein.

Sie saß bei Tisch, den Kopf in die Hand gestützt, und ließ die Speisen unberührt wieder abtragen. Diese einsame Mahlzeit stimmte sie so trübe, trüber wie je. Man war so allein, so mutterseelenallein. Draußen lockte der Maientag. Sie machte sich wieder zurecht und ging spazieren und beneidete alle die Menschen, die zu zweien waren, und wenn auch nur ein Pärchen aus dem Volk da Hand in Hand auf der Bank saß, oder eine Arbeiterfrau ihrem Mann das Mittagbrot auf den Bauplatz brachte und neben ihm[S. 424] stand, während er schweigend löffelte. Alle diese Leute waren glücklicher als sie, die Exzellenz. Jeder von ihnen hatte seinen andern. Sie hatte nichts. Jeder von ihnen sah sein bißchen Tagwerk und Abendfrieden vor sich. Ihre Stunden waren leer. Es war ganz gleichgültig, was sie trieb, heute, morgen, immer. Sie rief keine Pflicht. Niemand verlangte nach ihr. Außer dem einen! Immer dem einen. Und sie nach ihm. Sie hemmte mitten auf dem Weg ihren Schritt und schloß die Augen, daß die Frühlingshelle um sie in einem dumpfen, rötlichen, geheimnisvollen Dämmern verschwand. Seit gestern, seit sie ihn wiedergesehen, war alles, alles wieder wach ...

Zu Hause blieb sie vor dem Bild ihres verstorbenen Mannes stehen und schaute ernst, mit ineinandergelegten Händen zu den ritterlichen, leise gefurchten Zügen des Generals von Glümke hinauf, als müsse sie vor allem seine Verzeihung erbitten für das, was in ihr war, immer gewesen war, schon ehe er gekommen. Sie lächelte schmerzlich und nickte ihm zu und sagte sich: ›Nein. Ich habe mir nichts vorzuwerfen! Ich war dir treu! Immer! Du hast mich nie gefragt und es nie wissen wollen, wer der erste in meinem Leben war. Aber daß einer dagewesen, das wußtest du wohl! Ich hab's in deiner Nähe, unter deinem Schutz, verschmerzt und vergessen. Daß es jetzt in der Witwenstille wieder auflebt, da kann ich nichts dafür. Ich hab' dich von Herzen lieb gehabt, so, wie ich dir versprach. Geliebt hab' ich im Leben nur einen, einen andern — vorher — und nun wieder mit alter Macht. Ich bin dir aus tiefstem Herzen dankbar.[S. 425] Dein Bild steht verklärt vor mir. Es tröstet mich noch aus der Ferne. Aber ich kann von Erinnerung nicht leben. Ich bin zu jung. Das Sein verlangt sein Recht.‹

Es kam Besuch. Nachzügler mit Geburtstagsglückwünschen. Befreundete Damen. Maximiliane von Glümke saß mit ihnen zusammen und bot ihnen Tee an und hörte zu und sprach selber und lachte und frug sich dabei innerlich voll Staunen: Was soll das nur? Warum tu' ich da mit? Es ist ja alles so leer, so nichtig. Es kann doch nicht immer so weiter gehen! Auf einmal wurde ihr klar, daß sie diese ganzen letzten Jahre nur in einem Zwischenzustand gelebt hatte, in einer unbewußten Erwartung, daß Erich von Logow wiederkäme und sie dann erst dem Schicksal würde standhalten müssen. Bis dahin hatte sie sich schonen und unter dem Trauerschleier die Tage verträumen können. Sie zuckte zusammen. Da wurde schon wieder sein Name genannt. Ihre Tante, die Generalin von Ottersleben, sprach ihn aus. Sie erwähnte seine Beförderung in ihrer gesunden, hausmütterlichen Art.

»Mein Mann und ich haben den Erich gestern noch unseren Jungens als Vorbild hingestellt!« sagte sie. »Und dabei kann er einem so leid tun! So viel Erfolg im Dienst und so viel Elend daheim! Bruno meint auch, er habe es doppelt so schwer wie andere!«

Dann glitt die Unterhaltung wieder auf andere Familiennachrichten und Neuigkeiten aus nahen und fernen Garnisonen hinüber. Nur in Maximiliane zitterte es nach. Sie konnte es kaum mehr erwarten, bis ihre Gäste gingen. Und als endlich die letzten[S. 426] weg waren, aus diesem kleinen, netten Kreise, den sie sich in Berlin geschaffen, und an dem sie sonst ihre Freude hatte, da wußte sie wieder nicht, was sie mit sich nun anfangen sollte. Und sehnte sich Menschen herbei, nur um nicht allein zu sein, und sehnte sich doch nur, in neuem wilden Schluchzen in der Dämmerung nach dem einen, dem, wenn er kam, ihre Tür verschlossen geblieben wäre ...

Endlich hielt sie sich und diesen Zustand nicht mehr aus. Sie wollte sich ablenken. Sie fuhr in das Theater. Eine befreundete Familie hatte eine Loge im Opernhaus. Da saß man still im Dunkel. Aber da unten auf der Bühne, im »Fliegenden Holländer«, sang wieder der Steuermann vom Schiff herauf mit heller, wohltönender Stimme:

»Über turmhohe Flut vom Süden her —
Mein Mädel, ich bin da!«

und sie biß die Zähne zusammen und krampfte die Hände ineinander und hatte, als der Vorhang fiel und es hell wurde, zwei Tränen auf den bleichen Wangen, und ihre Freundin meinte erstaunt: »Herrgott, Maxe — das hab' ich gar nicht gewußt, daß du so musikalisch bist!«

Sie zwang sich zu lächeln.

»Ich hab' ein bißchen Kopfweh,« sagte sie. »Seid nicht böse, wenn ich nachher nicht mit zu Borchardt komme! ... Ich will lieber gleich nach Hause und mich hinlegen!«

Daheim fand sie einen Brief. Der Bursche von Frau Major von Logow habe ihn gegen Abend abgegeben, meldete ihr das Mädchen. Sie las:


[S. 427]

»Liebe Maxe!

Erich hat mir gesagt, du wolltest heute zu mir kommen ... Ich hab' den ganzen Tag gewartet. Aber Du bist nicht gekommen. Warum nicht? ... Bitte, komm! Wir müssen uns sprechen. Ich kann nicht zu Dir. Ich liege fest. Ich bin wieder ganz elend. Sonst wäre ich schon bei Dir gewesen. Erich hat Dir's ja ausgerichtet. Komm recht bald. Komm, wenn Du kannst, morgen! Bitte, bitte ... Ich habe heute bitterlich geweint, weil Du nicht gekommen bist. Ich bin schon manchmal wie ein kleines Kind, so schwach.

Tausend Grüße von Deiner armen kranken Schwester

Ulla.«

»Nachschrift: Bitte, komm, wenn Du kannst, vormittags. Gegen Abend bin ich immer so dumm. Da hab' ich immer ein wenig Fieber und schreib' dann so konfuses Zeug wie jetzt!«


Genau um die gleiche Zeit wie tags vorher stand Maximiliane von Glümke wieder vor der Mietskaserne in Moabit. Diesmal brauchte der alte Pförtner auf seinem Schustertisch nicht lange zu warten. Sie klingelte entschlossen und stieg die zwei Treppen hinauf und harrte in dem Salon, bis sie der Kranken gemeldet wurde. Ein schwermütiges Lächeln spielte um ihre Lippen, während sie sich umsah. Wie gut kannte sie diese Gegenstände umher, die mit den Logows von einer Garnison zur anderen gewandert waren. Da nebenan, in dem offenstehenden Arbeitszimmer: die beiden Granatsplitter von Wörth als Briefbeschwerer auf den Generalstabsakten, die beiden Bronzebüsten der beiden Kriegsgötter, Napoleon I. und[S. 428] Friedrich der Große, rechts und links auf dem Schreibtisch, darüber der Stahlstich des alten Kaisers im breiten Eichenrahmen. Alles weckte Erinnerungen. Da trat das Mädchen wieder ein.

»Gnädige Frau lassen Exzellenz bitten!«

Ulla von Logow sah nicht eigentlich wie eine Leidende aus. Von dem weißen Kissen, in dem sie, in einem weißen Morgenkleid auf der Ottomane ruhend, ihr dunkles, klassisch wie eine antike Gemme geschnittenes Haupt gebettet hatte, hoben sich die großen, mandelförmigen Augen in einem feuchten Glanz, die Wangen in einem leisen Rot ab, während sie ihre Rechte der schlanken blonden Schwester entgegenstreckte. Die kannte diese Zeichen trügerischer Gesundheit. Es hätte des kurzen, trockenen Hustens der jungen Frau in den Polstern nicht bedurft. Sie setzte sich an Ullas Lager und hielt ihre alabasterne Hand zwischen den ihren. Etwas von der strömenden Sonnenwärme draußen war noch um sie, ein Hauch von Licht und Lenz und Leben. Ulla von Logow atmete das tief ein. Dann frug sie leise: »Warum bist du denn gestern nicht gekommen?«

»Ich wußte nicht, ob es dir recht sein würde!« »Ich bin froh, wenn sich ein Mensch um mich kümmert ... Ich bin immer allein. Ich lieg' so da. Ich bin's schon gewohnt. Es ist nicht schön, Maxe!«

»Danke!« sagte sie dann matt und nahm aus den Händen der Generalin einen Blumenstrauß entgegen und senkte mit einem schwachen Lächeln ihr Antlitz in das Duftgewirr von Rosen, Maiglöckchen und Veilchen.[S. 429] »Das ist lieb von dir! Du bist selber wie ein Stück Frühling, Maxe!«

Die Leidende sah die andere seltsam vergeistigt an.

»Entsinnst du dich, Maxe, wie wir noch Mädels waren — Gott ... 's ist so ewig lange her — bald zehn Jahre — da war ich die Schönheit der Familie. Alles hat sich um mich gedreht. Es war unrecht von den Eltern. Auch an mir. Ich hab' ja denken müssen, daß Gott weiß was aus mir werden würde. Nun bin ich in den Dreißig und schon verblüht ... Wenn ich in den Spiegel schau, wird mir so jämmerlich herbstlich zumute ...«

»So mußt du nicht denken, Ulla! Es kommt doch nicht bloß auf das Äußere an!«

»Bei mir schon! Was hab' ich denn sonst gehabt? Ich hab' mir immer eingebildet, wenn man so ausschaut wie ich, gehört man in die große Welt, unter Menschen in die Salons. Nie hab' ich das gehabt. Sogar darum hat mich das Schicksal geprellt. Immer hab' ich allein gesessen — hier in Berlin und unten in den Vogesen und in Darmstadt bei Mama und in Hotels und Sanatorien im Süden — immer unnütz — immer das fünfte Rad am Wagen — und du warst inzwischen das Sonntagskind! Dir flog alles zu ... es ist so seltsam, Maxe, wie das Schicksal spielt.«

»Ich hab' weiß Gott dem Schicksal auch meinen Tribut bezahlt!«

»Ja. Das hast du. Du bist Witwe. Aber vor dir liegt noch das Leben. Vor mir nicht. Du bist gesund. Ich werd' es nie mehr ganz ...« Frau von Logow hustete, sah ihrer Schwester in das ernste, schmale,[S. 430] schöngeschnittene Gesicht und sagte dann langsam: »Weißt du: Man hat Zeit, nachzudenken, wenn man so die Nächte schlaflos daliegt. Ich war ja ein furchtbar oberflächlicher, selbstsüchtiger, eitler Mensch. Durch das Nachdenken wird das ein bißchen besser. Man kommt ein wenig über sich selbst hinaus. Man sieht freier. Wenn man so viel zu leiden hat wie ich, begreift man allmählich manches.«

»Arme Ulla!« sprach die junge Exzellenz sanft, beugte sich nieder und küßte die Ältere. Die machte sich leise frei und fuhr fort: »Lieg' mal immer so mit wachen Augen im Dunkel — und draußen ist alles still ... Da geht einem manches durch den Kopf ... Man frägt sich manches ... Ich hab' mich gefragt: ›Es muß doch eine Gerechtigkeit auf der Welt geben. Warum geht es nun zum Beispiel mir so schlecht und der Maxe so gut?‹«

»Ach ... Ulla ...«

»Doch, doch. Es geht dir immerhin noch sehr gut! ... Du bist so viel und hast noch so viel. Dich hat das Leben in jeder Hinsicht reich gemacht — auch in seinen Schmerzen — mich nur arm! Es war für mich immer nur eine große Enttäuschung — ohne Anfang und ohne Ende. Und siehst du, wenn ich mich da gefragt hab', warum werd' ich bestraft und meine Schwester nicht? da hab' ich das jetzt erkannt — so viel klarer und so viel strenger gegen mich bin ich allmählich geworden: Weil sie in ihrem Leben nie eine Schuld auf sich geladen hat: Ich aber wohl!«

»Ulla ...«

»... ich hab' den zum Mann genommen, den sie[S. 431] geliebt hat! Und hab's gewußt und bin über sie weg. Das rächt sich, Maxe! Das rächt sich unerbittlich an uns beiden, seit Jahren und Jahren ... Immer weiter und weiter! Aber vor allem an mir!«

»Wollen wir wirklich darüber reden, Ulla?«

»Ja. Wir müssen!«

Die Kranke stützte sich mit einer plötzlichen Bewegung auf den Ellbogen und hob sich empor. Ihre Stimme war gepreßt und zitternd. »Wir müssen einmal!... Die Angst drückt mir sonst das Herz ab ... Ich will dir ja nicht bloß diese Beichte ablegen, Maxe, daß ich unrecht an dir gehandelt hab'!... Ich will ja mehr von dir!«

»Wer weiß, ob du damals an mir unrecht getan hast!« sagte Maximiliane von Glümke. »Er wäre ja doch an mir vorbeigegangen ... Er hat mich ja noch gar nicht gesehen ... damals ...«

»Einerlei, was er damals fühlte oder nicht ... aber was du fühltest, das hätte mir heilig sein müssen als Schwester! ... Da hätt' ich verzichten müssen!... O doch: Eine Entschuldigung hätte es für mich gegeben: wenn ich ihn geliebt hätte ... so heiß ... so mit allem, was in einem ist ... so wie du ... aber das war ja nicht!... Ich wollt' ihn bloß haben!... Daß eine andere sich nach ihm verzehrte, das hat mir seinen Besitz nur noch erhöht! Ich war schlecht damals, Maxe! ... Da lieg' ich nun!«

Die Jüngere schüttelte stumm das Haupt. Ulla von Logow wiederholte, erschöpft in die Kissen niedergleitend: »Da lieg' ich!... Ich werd' auch wieder aufstehen und mich wieder hinlegen! Das geht so[S. 432] fort. Das ist mein Leben. In dem hab' ich rein gar nichts mehr, keine Freude und keine Hoffnung und keine Zerstreuung. Weißt du, was ich den Tag über tu'? Er ist heute früh um acht Uhr in den Dienst! Am Nachmittag um fünf kommt er wieder. Bis dahin zähl' ich die Minuten, bis ich seinen Schritt höre — siehst du: dort an der Wand hängt die Uhr — und freu' mich darauf wie ein Kind auf Weihnachten. Da setzt er sich dann eine Stunde zu mir und hält meine Hand und ist immer lieb und gut. Da bin ich dann so glücklich, so glücklich, Maxe, daß ich weinen könnte!... Und abends, nach dem Essen, eh' er sich wieder an den Schreibtisch setzt, da ist er auch eine Zeitlang bei mir und liest mir etwas vor und wir plaudern ... Die paar Stunden — das ist mein Tag — das ist mein Leben, Maxe! ... Das andere ist ein dummes Hinvegetieren! Das rechne ich nicht. Nur das bißchen Zeit, wo ich ihn hab'! Für mich! Ganz für mich! Ich lieb' ihn ja so heiß ... Ich lieb' ihn so wahnsinnig ... Er ist mir alles auf Erden ...«

Die junge Generalin schwieg erschüttert. Ihre Schwester fuhr mit einem verzweifelten Lächeln um die Lippen fort: »Ich lieb' ihn! Und er hat mit mir Geduld! ... Er pflegt mich! Aber mehr als Pflicht ist's bei ihm nicht und tut mir doch so wohl, Maxe!... Es hat sich alles ins Gegenteil verkehrt ... bitte ... bitte ... bleibe, Maxe! Ich weiß: ich tu' dir weh! Aber es muß gesagt sein!«

»Ich geh' nicht weg!« versetzte Maximiliane ruhig. »Sprich nur weiter!«

Die Kranke holte tief Atem.

[S. 433]

»Gott straft mich mit dem, Maxe, was ich gefehlt hab'! ... Ich hab's an der Liebe fehlen lassen! ... Nun hat er sie mir auferlegt! ... Nun weiß ich, wie's tut. Und was ich dir angetan hab' seinerzeit ... Und was ich ihm angetan hab' und noch tu'! ... Ich weiß ja, wie er unter mir leidet ... Und man ist doch so grausam, wenn man liebt ... Und vielleicht auch grausam, wenn man krank ist ... Ich kann mir nicht helfen: ich klammere mich an ihn! ... Jetzt, wo ich so schwach und elend und schmerzbeladen und von Gott und der Welt verlassen bin, ist er mein einziger Halt — mein einziger Trost ... ich würde verzweifeln ... ich würde wahnsinnig werden — ohne ihn ... Ich weiß gar nicht, was ich täte ... bei dem bloßen Gedanken daran steht mir das Herz still ... ich brauch' ihn, Maxe ... ich brauch' ihn ... ich hab' auf ihn gewartet, mit Zittern und Beben, diese drei langen, furchtbaren Jahre, in denen hab' ich viel bereut und will's nun besser machen. Ich brauch' ihn, Maxe!«

Sie starrte bang und fiebernd, mit weitaufgerissenen Augen, der Schwester ins Gesicht. Die hatte sich erhoben und sagte nur ruhig: »Es nimmt ihn dir ja auch niemand, Ulla!«

Aus den angstvollen Zügen unter ihr wich die Spannung. Es war wie ein Schimmer von Erlösung in Ullas dunklen Augen — eine Weichheit und Dankbarkeit. Sie lächelte in einem jähen Umschwung ihrer Stimmung.

»Gott sei Dank! Es gibt nur einen Menschen, der ihn mir nehmen kann! Und der tut es nicht! Du warst mir immer eine gute Schwester, Maxe! Du hast[S. 434] immer gewußt, was deine Pflicht war, und hast sie untadelhaft erfüllt und immer alles aufgeboten, was in deiner Macht lag ... Ich hab' es dir früher schlecht gedankt und war hart und häßlich gegen dich. Aber jetzt hab' ich einsehen gelernt, wieviel ich dir schuldig bin und immer schuldig sein werde. Auch in Zukunft!«

Sich von der Ottomane aufrichtend, legte sie, in ihrer Schwäche nach einer Stütze suchend und in schwesterlichem Zutrauen den Arm um die andere. In ihrem weißen Gewand stand sie, hell von der Frühlingssonne beschienen, mitten im Zimmer. Es war eine gläubige, träumerische Hoffnung auf ihrem Gesicht. Sie legte die abgemagerten Hände ineinander. Sie sagte innig: »Schau, Maxe: Ich hab' so jetzt das felsenfeste Zutrauen: die Zeit der Prüfungen ist bald vorbei, und nun kommt es besser mit Erich und mit mir! ... Er findet allmählich den Weg zu mir zurück. Es hat eine Zeit gegeben ... lang ist's her ... da hat er mich so unendlich geliebt ... ich hab's verscherzt ... durch meine eigene Schuld ... aber es kann doch wiederkehren ... nicht wahr? ... wenn ich es so von Herzen bereue ... wenn ich mir so recht Mühe gebe ... wenn ich zum lieben Gott drum bete ... nicht wahr? ... sag doch ja, Maxe ... mach mir nur ein bißchen Mut ...«

Frau von Logow hustete und fuhr in leidenschaftlicher Verklärtheit fort: »Ich gewinn' ihn mir wieder! Ich fühl' es! Ich bin schon auf dem Weg. Ich merk' es an tausend kleinen Zeichen. Es ist bei ihm nicht bloß Mitleid, nicht bloß Pflichtgefühl, daß er so gut zu mir ist. Er kann sich doch nicht verstellen! Das kommt bei[S. 435] ihm aus dem Herzen! Das wird wachsen ... Tag für Tag ... Maxe ... warum sprichst du denn kein Wort?«

Maximiliane schwieg. Sie fühlte an ihrer Brust das Zittern der Schwester. Verängstigt, schwach, liebebedürftig, vertrauend hing die ihr am Halse. Und legte ihren Kopf an den ihren. Und lachte mit nassen Augen und schluchzte mit lächelnden Lippen und entwaffnete sie, indem sie das Beste in ihr wachrief: »Nicht wahr, Maxe ... du ... du tust nichts, um das zu stören. Du bleibst so stolz und rechtlich wie bisher. Und gönnst mir mein Glück. Endlich ein bißchen Glück! ... Wenn ich nur das von dir weiß, dann bin ich schon ganz ruhig. Niemand außer dir kann mir im Leben was zuleide tun! Und auf dich verlass' ich mich so ganz! ... Du hast dich immer so bewährt! ... Du bist meine gute, liebe Schwester ... Vor dir hab' ich keine Scheu! Du begreifst, was es heißt, wenn ich bei dir um meinen Mann bitte! ... Du gibst ihn mir! Du läßt ihn mir! Nicht wahr?«

Immer noch hielt sie die Jüngere zitternd umfangen. Die fühlte die Last an ihrer Schulter und hatte Mühe, selbst aufrecht zu bleiben. Sie löste sich leise aus den Fesseln der beiden Arme und half der Kranken, sich erschöpft wieder niederzusetzen. Dann sagte sie: »Sei unbesorgt, Ulla! ... Du sollst kein Hindernis auf deinem Weg finden. Es wird alles Nötige geschehen!«

»Du brauchst ja gar nichts Besonderes zu tun, Maxe! ... Verstehe mich um Gottes willen nicht falsch. Es ist nur ...«

»Doch! Ich schiebe einen Riegel vor! Der hält!«

[S. 436]

Die junge Frau beugte sich nieder und küßte die ältere Schwester noch einmal. Sie war ebenso ruhig, wie jene zwischen Lachen und Weinen schwankte.

»Erlaub, daß ich nun gehe, Ulla! ... Gute Besserung ... Auf Wiedersehen!«

Die Generalin von Glümke verließ das Zimmer. Draußen auf dem Treppenflur blieb sie eine Sekunde stehen, stützte sich an dem Geländer und schloß die Augen in einer Schwächeanwandlung, die blassen Züge von Schmerz versteinert. Dann hörte sie Schritte. Ein Herr kam die Stufen herauf. Er warf einen forschenden Blick auf die hohe, elegante Gestalt und grüßte dann sehr höflich. Sie erkannte den Hausarzt der Logows, der Ulla schon bei ihrem ersten Aufenthalt in Berlin vor Jahren behandelt hatte. Sie frug: »Wie geht's eigentlich meiner Schwester?«

»Entschieden besser, Exzellenz! Ich habe jetzt mehr Zuversicht als je. Die Rückkehr ihres Mannes hat sie belebt — in ganz unerwarteter Weise. Psychische Einflüsse tun da oft Wunder. Wenn diese Krise jetzt überwunden ist, dann sind wir, denk' ich, endgültig über den Berg ... Ganz robust wird die gnädige Frau ja nie werden. Sie wird sich immer schonen müssen. Aber innerhalb dieser Grenzen, wenn wirkliche grobe Dummheiten, wie schwere Erkältungen und derlei vermieden werden, liegt eigentlich kein Grund vor, warum sie nicht so alt werden sollte wie Sie oder ich ... Ich habe die Ehre, Exzellenz ...«

»Guten Morgen, Herr Doktor!«

Maximiliane von Glümke winkte draußen vor dem Hause das nächste Automobil heran, fuhr nach Westen,[S. 437] in der Richtung nach Charlottenburg. Dort bewohnte ihr Onkel, der Oberstleutnannt a. D. Freiherr von Koninck seit seiner Verabschiedung ein Junggesellenheim. Nicht mehr auf lange. Er war schon mit einem Fuß auf dem Standesamt und erwartete jetzt eben, nur noch vierzehn Tage vor der Hochzeit, den Besuch seiner Braut und ihrer Mutter, die ihn zu Besorgungen abholen wollten, und steckte, das Klingeln draußen hörend, mit einem zärtlichen »Brigittchen?« den Graukopf durch den Türspalt und machte große Augen, als die schlanke blonde Dame in dem Halbdunkel gelassen sagte: »Ich bin's bloß, Onkel! ... Die Maxe! ... Hast du 'nen Moment Zeit für mich?«

»Für solchen Besuch immerzu!« Der alte Schwerenöter lachte. »Bitte Euer Exzellenz gehorsamst, einzutreten! ... Wie kommt solch Glanz in meine niedere Hütte?« Er änderte, da er Maximilianes ernstes Antlitz sah, den Ton und frug besorgt: »Aber ... verzeih ... Ist irgend etwas passiert?«

»Nein. Gar nichts! Sag mal, Onkel Wilderich, ... du bist doch irgend so ein großes Tier im Johanniterorden — nicht wahr ...«

»Ja ... das heißt ... ich hab' in der Ballei Brandenburg ...«

»Also jedenfalls kannst du da, wenn du willst, für jemanden ein gutes Wort einlegen?«

»Frägt sich nur, wer es ist!«

»Ich!«

Herr von Koninck musterte seine schöne Nichte erstaunt: »Du? Was willst du denn? Na — komm mal, bitte, mit in mein Arbeitszimmer!« Da blieben[S. 438] sie lange Zeit. Seine Braut, Fräulein von Hornschuh, und ihre Mutter, die inzwischen erschienen, mußten warten. Endlich kam Maximiliane von Glümke wieder heraus. Sie begrüßte freundlich die beiden Damen und verabschiedete sich. Es war ihr nichts Besonderes anzumerken, und Frau von Hornschuh sagte mit merklicher Schärfe zu ihrem künftigen Schwiegersohn: »Ich weiß nicht, ob das unbedingt nötig war, uns hier quasi antichambrieren zu lassen ...«

Der Freiherr von Koninck machte eine abwehrende Handbewegung. Der alte Husar war für seine Verhältnisse ungewöhnlich ernst, fast ergriffen. Er wandte sich an seine Verlobte: »'s ist doch eigentlich eine komische Welt, Brigittchen!« versetzte er. »Wo die einen anfangen, hören die anderen auf! ... Wir beide, du und ich, wir packen jetzt erst das Leben ordentlich bei den Hörnern, und die Maxe, die so viel jünger ist als wir, und es am wenigsten nötig hätte, die sagt ihm so gewissermaßen Ade ... Sie will bei den Johanniterschwestern eintreten — ich hab's ihr in die Hand versprechen müssen — und gleich jetzt auf der Stelle ...«

»Sie wird sich schon noch besinnen!« meinte Frau von Hornschuh.

Aber Maximilianes Onkel verneinte: »Da kennen Sie sie flach, verehrte Schwiegermama! ... Ich kenn' sie doch von klein auf. Die tut's! ...«

[S. 439]

22

Ein Wirbel von Schneeflocken segelte mit dem Strom von kalter Winterluft durch das halbgeöffnete Fenster in die Stube des Krankenhauses. Der Lärm Berlins drang herein, das Klingeln der Straßenbahn, das Getute der Hupen, das Kratzen und Scharren der Schneeschaufler. Die Gardinen blähten sich in dem frischen Hauch, der die Patientinnen dritter Klasse in ihren Betten — je vier an jeder Längsseite des Raums — nicht treffen konnte und nur den nächtigen Brodem des Zimmers zerstreute. Aber es rührte sich trotzdem in den Lagern und seufzte und gähnte.

»Schwester Maximiliane!«

»Ja!«

»Wieviel Uhr ist's denn?«

»Sieben Uhr!«

»Au fein! ... Da jiebt's bald Frühstück!«

Die Diakonissin strich lächelnd dem blassen vierzehnjährigen Mädchen mit der Hand über den Scheitel.

»Du kriegst doch nur Milch, Elschen!«

»Aber ik hab' doch so Hunger, Schwester!«

»Wenn man so arg Typhus gehabt hat wie du, muß man brav sein und fasten, bis man wieder ganz gesund ist. Dann bekommst du wunderschönen Apfelkuchen mit Schlagsahne! Paß nur auf!«

[S. 440]

»Ach ja!« sagte das Kind hoffnungsvoll und beruhigte sich. Die Probeschwester trat zu dem nächsten Bett und drehte die Patientin sanft an den Schultern auf die Seite.

»Sie sollen nicht immer auf dem Rücken liegen, Frau Dubberke! ... Der Herr Sanitätsrat will's doch nicht ... so ... nicht wahr ... es geht schon ...«

»Et muß jehn!« meinte schnaufend die korpulente Frau aus dem Volke. »Ick muß doch bald heim! ... Wat mein Oller is, der ... haben Sie ihm auch janz jewiß wieder geschrieben, Schwester?«

»Gestern hat er eine Postkarte bekommen ... Haben Sie nur Geduld, Frau Dubberke! Sehen Sie: danebenan — da sind wir noch lange nicht so weit ...«

Maximilianes ernstes, von der Diakonissenhaube beschattetes Antlitz beugte sich forschend über das dritte Bett. In dem lag eine junge Frau regungslos, mit geschlossenen Lidern. Die Pflegerin nahm den Fieberthermometer unter ihrem Arm hervor und schüttelte unzufrieden den Kopf, während sie das 38,6 in die Temperaturkurve einzeichnete.

»Schwester!«

Der Ruf kam aus der anderen Ecke. Schwester hier und Schwester da.

»Schwester — warum hämmern sie denn da draußen so?«

»Sie nageln Girlanden an. Morgen ist doch Kaisers Geburtstag!«

»Darf ich da aufstehen und ein bißchen aus dem Fenster schauen?«

[S. 441]

»Das müssen wir den Herrn Doktor fragen! Vielleicht erlaubt er's!«

»Schwester ... fährt da der Kaiser unten vorbei?«

»Hier nicht!«

Schwester Maximiliane beantwortete alle Fragen mit der gleichen Geduld, während sie und die inzwischen eingetretene Schwester Agathe, auch eine Dame aus altem preußischen Geblüt, das Zimmer fegten, die Kranken wuschen und kämmten und die Betten machten. Man durfte keine Zeit verlieren. Bis zu dem Rundgang des dirigierenden Arztes der inneren Abteilung mußte alles in Ordnung sein. Indes die ältere Diakonissin die Patientinnen mit dem Frühstück versorgte, kniete Maximiliane vor dem Ofen und fachte das Feuer an. Sie schaute aufmerksam in die knisternden Flammen. Die Glut warf einen hellen Schein über ihr schlicht gescheiteltes hellblondes Haar. Die Oberschwester, bejahrt, rundlich, mit gutmütigem Matronengesicht, schaute, das große Kreuz vorn an der Brust, eine entleerte Morphiumspritze in der Hand, herein und suchte nach einer Unordnung. Die mußte sie haben. Des Grundsatzes wegen. Etwas fand sie immer! Da: Auf dem Teller in der Ecke lag weiß Gott eine herrenlose halbe Semmel!

»Schwester Maximiliane ... ich versteh' Sie wirklich nicht! ... Sie sind schon über ein halbes Jahr Probeschwester. Sie könnten doch nun nachgerade wissen, wie Typhusrekonvaleszenten sind! ... Die schlingen doch Nägel hinunter und beißen Türklinken ab, wenn man den Rücken dreht! Nu lassen Sie 'mal[S. 442] das Elschen da hinten über die Schrippe kommen! Da haben wir morgen die Bescherung!«

»Ja. Es war sehr unvorsichtig!«

»Sie kann ja gar nichts dafür!« rief Schwester Agathe vom Fenster. »Ich hatte das Frühstück unter mir!«

Die Oberschwester machte erstaunte Augen.

»Ja, warum sagen Sie denn das nicht selbst?«

»Ach — es ist ja ganz gleich!« versetzte Maximiliane gelassen, schloß die Ofentüre und stand elastisch auf. Zugleich warnte die andere: »Pst! Der Sanitätsrat!«

Der dirigierende Arzt trat ein, von dem Stab seiner Assistenten gefolgt. Er untersuchte die acht Kranken und war zufrieden.

»Das Typhuszimmer gefällt mir!« sagte er, schon wieder auf der Schwelle. »Da ist Leben drin. Nur immer so weiter!«

Sein Blick glitt dabei von den anderen Diakonissen ermutigend zu Maximiliane hinüber, anders als sonst. Er respektierte unwillkürlich die frühere große Dame, die den Schritt von der Exzellenz zur Schwester getan. Sie wurde vor Freude bei seinem Lob ein wenig rot.

»Es wäre zu schön, wenn wir sie alle durchbrächten!« sagte sie in der Türe lebhaft und so leise, daß man sie drinnen nicht hörte. »Das ist jetzt mein ganzer Ehrgeiz!«

Sie hatte den Vormittag über in dem Krankenzimmer zu tun. Erst gegen Mittag verließ sie es und ging über den Flur, auf dem Genesende in ihren blau und weiß gestreiften Kitteln müßig umherschlurften. Sie hatte unten zur ebenen Erde eine Bestellung durch[S. 443] das Telephon auszurichten. Auf dem halben Wege dahin begegnete sie dem Anstaltsgeistlichen. Ein Siebziger, gebückt, mit weißen Haaren, blieb er stehen und reichte ihr freundlich die Hand. Er war durch seine Heirat mit einer pommerischen Adeligen zu vielen preußischen Familien in Verschwägerung getreten. Seine beiden Söhne waren Offiziere und hatten Offizierstöchter zu Frauen. Er lächelte und frug: »Nun, Schwester Maximiliane — wie geht's?«

»Danke, Herr Pastor! Ganz gut!«

»Sind Sie zufrieden?«

»Wenn man mit mir zufrieden ist, bin ich es auch!«

»Sie bereuen Ihren Entschluß wirklich noch nicht?«

»Warum sollt' ich denn? Ich hab' hier meine Ruhe, und ich mache mich nützlich! ... Ich will nicht mehr ...«

»Jedenfalls halten Sie sich immer vor Augen: Sie sind noch ganz frei. Sie haben sich noch zu nichts verpflichtet! Sie können gehen, wann Sie wollen!«

Die schöne junge Frau lachte ein wenig.

»Wollen Sie mich wirklich hier mit Gewalt wieder an die Luft setzen, Herr Pastor? ... Was hab' ich denn angestellt, um das zu verdienen?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Ich für mein Teil freu' mich ja nur, wenn Sie hier wirklich Ihren Frieden finden! Aber heute hab' ich wieder einen Brief von Ihrer Frau Mutter aus Darmstadt! Sie ist nach wie vor verzweifelt über Ihren Entschluß ...«

»Ja, da kann ich Mama nicht helfen!«

»... und hofft immer noch, Sie würden sich besinnen.«

[S. 444]

»Ich hab's mir vorher überlegt, Herr Pastor! Schreiben Sie das nur Mama ...«

Beide schwiegen eine Sekunde. Dann meinte der Geistliche herzlich: »Sie sollten einmal des Nachmittags ein Stündchen bei uns vorsprechen! Meine Frau würde sich auch so freuen!«

»Ja. Ich komme nächstens!«

»Das sagen Sie immer nur, und es wird nie etwas daraus! Und dabei ist's doch nur über die Straße!«

»Ich komm' eben gar nicht auf die Straße! Ich war — glaub' ich — seit Monaten nicht mehr draußen! ... Ich hab' meine nächsten Verwandten Gott weiß wie lange nicht gesehen.«

»Darüber grämt sich Ihre Mutter ja so. Sie haben Ihre Schwester in Berlin. Ihr Bruder steht nicht weit davon bei der Artillerie. Ihr Onkel hat hier seine Division. Aber Sie seien für alle seit einem halben Jahr und länger wie verschollen, schreibt die Frau Oberst. Niemand sieht und hört mehr etwas von Ihnen!«

»Ich will auch nichts mehr sehen und hören! Ich will nichts mehr von da draußen wissen ... ich hab' damit abgeschlossen ...«

Sie verabschiedete sich ruhig, ganz im Ton der Dame von einst.

»Adieu, Herr Pastor! ... Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrer verehrten Frau Gemahlin!«

»Adieu, Schwester Maximiliane ...«

Es gab in diesem Hause keinen Müßiggang, keine ungenützte Minute. Und doch blieb die Johanniterschwester, nachdem der Pfarrer sich entfernt, noch einen[S. 445] Augenblick stehen und schaute nachdenklich durch die großen, hellen, gardinenlosen Fenster des Flurs. Gerade vor den Scheiben schwankte etwas Frisch-Grünes im Winde, das Ende einer Tannengirlande. Die Arbeiter auf den hohen Leitern draußen pochten. Sie schmückten die Front des Hauses für morgen, zu Kaisers Geburtstag ...

Kaisers Geburtstag ... das war der immer sich gleichbleibende große Festtag jedes Jahres gewesen, solange Maximiliane sich erinnern konnte, bis in ihre früheste Kinderzeit hinein, als der greise Kaiser Wilhelm noch lebte — fern in Berlin — schon halb dem Irdischen entrückt — vom Strahlenglanz des Ruhms und Alters umgeben, Bismarck und Moltke gleich riesenhaften Recken rechts und links von seinem Thron. So hatte sie sich das als kleines Ding gedacht, und so war, als sie heranwuchs, vom März zum Januar hinüber, der feierliche Tag geblieben. Hier im Hause war das morgen ein Tag wie jeder andere. Die Kranken lagen und litten und hofften, und man ging von Bett zu Bett und gab da zweistündlich den Eßlöffel Medizin und dachte dort daran, daß um fünf Uhr abends die subkutane Injektion gemacht werden sollte.

Sie erschrak, daß sie sich so in ihre Träume verloren hatte. Sie wandte sich eilig zum Weitergehen und lief die Stufen hinab. Sie war schon beinahe unten, da hörte sie vom Hauseingang her, wo der Pförtner saß, Stimmen und, wieder wie eine Erinnerung an einst — ein leises Sporenklirren — das schwache Rasseln eines eingehakten Offiziersäbels — dann eine[S. 446] gedämpfte Frage — es war keine Täuschung ... sie vernahm deutlich ihren eigenen Namen ... Sie beugte sich unruhig über das Geländer. Auf dem Korridor unter ihr stand ein junger Hauptmann in der Uniform eines Feldartillerieregiments mit einer Dame. Sie erkannte ihren Bruder Otto und seine Frau. Er wiederholte eben aufgeregt dem Pförtner: »Ja ... zu meiner Schwester möchte ich ... der früheren Exzellenz von Glümke ...«

Und die kleine Frau Adda fügte hinzu: »Zur Schwester Maximiliane ... Jetzt ist doch Sprechzeit für die Diakonissen! Von zwölf bis eins ...«

»Was wollt Ihr denn?« frug die junge Frau von oben, stieg hinunter und reichte ihnen die Hand. »Bitte ... kommt da herein! Da ist das Besuchszimmer!«

Ihr Bruder Otto erschien ihr förmlich verjüngt, seit er wieder den schwarzen Kragen des Feldartilleristen trug, in dem sie ihn von früheren Zeiten, vom Elternhaus her, in Erinnerung hatte: Er war frisch und straff, sein hübsches Gesicht wettergebräunt vom Dienst.

»Also hör mal! ...« sagte er hastig. »Vorgestern war großes Versöhnungsfest bei Schwiegerpapachen in Charlottenburg. Der alte Herr war doch wütend, weil ich auf seine Moneten gepfiffen hab' und mich wieder zur Dienstleistung bei der Bombe hab' kommandieren lassen und weil wir uns die Zeit über mit dem Kommißvermögen mit Anstand durchgefressen haben, die Adda und ich. Nu empfand er also ein menschliches Rühren ... Wir haben uns geeinigt. Er gibt wieder was! ... Aber mit Vernunft. Ich seh's selber nun ein!«

[S. 447]

Er merkte einen Schatten von Ungeduld auf Maximilianes Zügen. Er beeilte sich: »Ich komm' schon zur Sache! Also da war großer Zauber ... alle Verwandten ... du warst pro forma auch eingeladen und die Ulla auch. Niemand hat von dir gedacht, daß du kommen würdest. Und von der Ulla noch weniger. Denn es geht ihr doch seit dem Herbst wieder ganz flau, und die letzten vierzehn Tage, bei der Bärenkälte, hat sie der Doktor überhaupt nicht aus dem Zimmer gelassen. Da, wie wir nun alle beisammen sind, geht die Türe auf, und sie tritt herein! Sie langweile sich daheim, sagt sie. Sie wolle auch einmal unter Menschen ...«

»O Gott — wie unvorsichtig!«

»Wart nur; das Tollste kommt noch: Also, sie setzt sich, trinkt Tee, ist ganz vergnügt und heiter, tut, als wär' es gar nichts, steigt endlich wieder in ein Auto und fährt davon! Aber glaubst du nach Hause? ... Jawohl! ... Vorgestern nachmittag trifft Adda zufällig in der Leipziger Straße Frau von Bliest, die draußen in Grunewald wohnt ... Ist doch die Ulla, das Unglücksgeschöpf, tags zuvor im offenen Wagen bei dem Ostwind zu ihr hinausgekommen, zu einer Stippsvisite ... ganz ohne Not ... die Bliest hat sich selber gewundert ... Nun — was sagst du zu dem grenzenlosen Leichtsinn? Es sieht der Ulla so gar nicht ähnlich. Sie ist doch sonst so ängstlich.«

»Ja. Es ist unbegreiflich!« sagte Maximiliane.

»Na — wir kriegten's nun doch mit der Angst! Heut' früh sag' ich zu meiner Frau: ›Wir wollen doch lieber sehen, wie's ihr geht!‹ Also gut! Wir gondeln[S. 448] nach Moabit! Da finden wir denn auch gleich die Bescherung: der Bursche verdattert. Die Mädchen verheult. Sie selbst, die Ulla, mit 'ner Lungenentzündung im Bett!«

»Ach, du großer Gott!«

»Ja ... das heißt doch das Schicksal mutwillig herausfordern!« klagte Frau Adda.

»Und was sagt sie denn selber?«

»Ich hab' sie doch nicht sprechen können, Maxe! ... Sie läßt ja niemanden vor, in ihrem unbegreiflichen Eigensinn! ... Da sind wir in unserer Ratlosigkeit zu dir! Es muß doch etwas geschehen ...«

Es kostete Maximiliane Überwindung, den Namen auszusprechen, der ihr die ganze Zeit schon auf den Lippen lag.

»Wozu hat sie denn ihren Mann?« sagte sie. »Ihr könnt das doch ruhig Erich überlassen!«

Die kleine Hauptmannsfrau rang die Hände.

»Ach so! Das haben wir ja ganz vergessen, dir zu erzählen. Erich ist ja gar nicht in Berlin! Er ist seit acht Tagen irgendwo in Schlesien, auf einer Dienstreise, an der russischen Grenze! Er kommt erst morgen früh, zu Kaisers Geburtstag, zurück. Wir wissen augenblicklich nicht einmal seine Adresse!«

»Und inzwischen geht die kostbarste Zeit verloren,« fügte ihr Mann hinzu. »Der einzige Mensch, der helfen kann, bist du, Maxe!«

»Ich kann doch auch nicht ohne weiteres von hier fort!«

»Wenn deine Schwester krank ist ...«

»... dann weiß ich doch noch lange nicht, ob sie[S. 449] mich als Pflegerin will! Ich kann doch nicht hier um Urlaub bitten und dann dort abgewiesen werden, so gut wie ihr!«

»Das ist wahr!« meinte der Artillerist und tauschte mit seiner Frau einen bedrückten Blick.

Die Diakonissin fuhr fort: »Ich will aber jedenfalls heute noch nach ihr schauen! Gegen Abend kann ich mich auf eine Stunde frei machen! Mehr als mich auch abweisen, kann sie nicht. Und nun entschuldigt mich. Ich hab' zu tun!«

»Wie geht's dir denn?«

»Immer gut!«

»Adieu, Maxe!«

»Adieu, Adda!«

Die beiden Frauen küßten sich. Dann stieg Maximiliane die Treppen hinauf, in ihr Revier zurück. Gewohnheitsmäßig tat sie da den Nachmittag über ihre Pflicht. Zuweilen dachte sie zwischen den Sorgen jeder Stunde an die Schwester. Vielleicht war es mit der nicht so schlimm. Ulla bereute hinterher ihren dummen Streich und bildete sich in ihrer Angst die Anzeichen einer Krankheit nur ein. Oder war einfach schlechter Laune. Wollte keinen Besuch. Das kam bei ihr auch vor. Die Stimmungen wechselten ja so rasch bei ihr. Und in Abwesenheit ihres Mannes war sie wohl doppelt unruhig und aufgeregt.

Maximiliane hatte Erich von Logow seit einem halben Jahr nicht gesehen, nur zuweilen, gegen ihren Willen, aus dem Mund von Verwandten etwas von ihm gehört. Einmal eine Äußerung Otto's: »Diesmal schafft's der Logow! Man ist mit ihm kolossal zufrieden!«[S. 450] ... Und ein andermal hatte Onkel Wilderich, der grauköpfige, stark unter dem Pantoffel stehende junge Ehemann, melancholisch gemeint: »Eigentlich seid ihr beide ins Kloster gegangen! Nicht nur du, Maxe, sondern der Erich auch. — Der Mensch kennt nur noch seinen Dienst. Er arbeitet zwanzig Stunden täglich wie ein Pferd. Im übrigen für die Menschheit total ungenießbar. Um den Preis möcht' ich nicht später mal ein Armeekorps kriegen!«

Sie zwang sich, nicht mehr daran zu denken. Sie hatte allmählich nun schon Übung gewonnen, sich auch innerlich zu beherrschen. Wenn sie wollte, schwand alles, und es blieb nur der eng umschriebene Umkreis von Pflichten übrig — vier kahle Wände mit Kruzifix und Bibelspruch, acht eiserne Betten mit Typhuskranken, die man warten und pflegen mußte, zwei große kahle Fenster, hinter denen sich langsam wie jeden Tag der frühe Winterabend auf das schmutzige Schneegrau der Straße senkte. Sie war so in ihre Beschäftigung vertieft, daß sie zusammenfuhr, als plötzlich die Oberschwester neben ihr stand und ihr ausrichtete: »Sie möchten sofort einmal zur Frau Oberin kommen!«

Die Oberin des Krankenhauses war eine alte vornehme Dame, eine Gräfin aus einer der ersten Familien Preußens. Sie sagte beim Eintritt der Johanniterin: »Schwester Maximiliane, erschrecken Sie nicht: Ihre Schwester, Frau von Logow, ist seit gestern nicht unbedenklich erkrankt!«

»Ich hab' es schon heute mittag von Verwandten erfahren, Frau Oberin!«

[S. 451]

»Mir hat soeben der behandelnde Arzt telephoniert, daß sich der Zustand leider ständig verschlimmert und eine Pflegerin dringend not tut. Er bat mich, Sie ungesäumt an das Krankenbett zu schicken!«

»Ich weiß nicht, ob ich dort willkommen bin, Frau Oberin!«

»Ihre Frau Schwester bittet darum! Sie ist bei Besinnung. Sie erwartet Sie mit Ungeduld. Also machen Sie sich sofort fertig, dort die häusliche Pflege zu übernehmen! Meine besten Wünsche auf Besserung!«

»Ich danke, Frau Oberin!«

Eine Viertelstunde später war Maximiliane schon unterwegs. Sie stand auf der Rückseite eines Straßenbahnwagens, eine Tasche mit Wäsche und den nötigsten Gebrauchsgegenständen in der Rechten. Um sie rauchende Herren, mit hochgeschlagenen Krägen, die Hände in den Paletots. Es war nun schon völlig Nacht. Der rötliche Widerschein, der da drüben, hinter dem Brandenburger Tor, jeden Abend den Himmel färbte, strahlte heute in zehnfacher Helle. Dort, in den Palästen Unter den Linden und in der Gegend der großen Kaufläden bis zum Spittelmarkt hin und in dem Bankviertel um die Französische und Behrenstraße probte man schon die Festbeleuchtung für morgen. Dort stauten sich heute bereits die Menschenmassen neugierig vor den bunten Kaiserinitialen, den preußischen Adlern, den Sternen und Bogen aus farbigen Glühlampen und zitternden Gasflämmchen, die ihren taghellen Glanz über das dunkle Meer von Hüten und Schutzmannshelmen unter sich warfen. Dort herrschte[S. 452] jetzt schon in der Friedrichstadt Jubel und Trubel am Vorabend der Kaisergeburtstagsstimmung. Hier draußen im Nordwesten war es kahl und finster wie sonst. Grau lag da die Moabiter Mietskaserne, trübe beleuchtet waren die Treppen, auf denen Maximiliane zu der Logowschen Wohnung emporstieg.

Oben vor der Flurtüre stand schon wartend eines der beiden Dienstmädchen und spähte in das dunkle Stiegenhaus hinaus. Sie atmete auf, als sie Maximilianes ansichtig wurde. Sie, die Dienstboten, hätten sich schon gegrault, berichtete sie, und hätten nicht gewußt, was tun. Der Doktor sei vor einer Stunde weggegangen. Die gnädige Frau sei jetzt auf einmal so sonderbar. Sie habe einen ganz roten Kopf und rede allerhand durcheinander ... man würde gar nicht klug daraus ...

Auf den ersten Blick sah Maximiliane beim Eintritt in das Krankenzimmer, daß ihre Schwester phantasierte. Sie schickte schleunig eines der Mädchen nach Eis und setzte sich an das Bett. Die Leidende warf sich unruhig in den Kissen hin und her. Dazwischen hustete sie schmerzlich und murmelte abgerissene Worte. Sie hielt die Augen geschlossen. Aber sie hatte gehört, daß jemand gekommen war. Sie frug: »Erich ... bist du's ...«

»Erich ist auch bald da! Hab' nur Geduld ...«

Es schien, daß Ulla von Logow die sanfte, ruhige Stimme ihrer Pflegerin erkannte. Ihre Lippen zogen sich eigensinnig klagend zusammen wie bei einem kranken Kind: »Erich soll nicht fort ...«

»Nein, nein!«

[S. 453]

»Sag Erich, er soll bei mir bleiben! Wenn du's ihm sagst, tut er's! ... Er tut alles, was du willst ...«

Maximiliane zuckte zusammen und beugte sich still über die Fiebernde und streichelte sie mit der Hand über die Stirn. Die schlug plötzlich die Wimpern auf und starrte sie aus ihren dunklen, heißen Augen an.

»Du, Maxe ... was hast du denn für eine Haube? ... Wenn die dein Mann sieht, wird er böse! Die Haube mußt du nicht tragen! Die steht dir nicht ... Du ... da hinten steht doch Erich?«

»Noch nicht, Ulla!«

»Dann schick den Mann fort! Da hinten soll niemand stehen! Ich will's nicht! Wenn Erich da wäre, würd' er ihn schon jagen!« ... Und während die Diakonissin einen dunklen, dort hängenden Mantel weglegte, flüsterte es in den Kissen geheimnisvoll: »Du ... Erich: die Maxe sieht elend aus! ... Die denkt immer an dich ... weißt du ...«

»Komm, Ulla ... sei jetzt vernünftig!«

»Ich hab' sie wieder fortgeschickt, Erich! ... Ich mag sie nicht! Ich mag nur dich! ... Wo bist du denn? ... Was habt ihr denn da? Warum tuschelt ihr nebenan! Immer habt ihr beide was miteinander!«

Im Nebenraum hatte das Mädchen das Eis aus der Apotheke hingestellt. Maximiliane war dazu getreten, um es in den Beutel zu füllen. Als sie sich umwandte, sah sie zu ihrem Schrecken durch die offene Türe, daß die Kranke aus dem Bett gestiegen war und lang und weiß in ihrem Nachtgewand wie ein[S. 454] Geist mitten in dem dämmerigen Zimmer stand. Sie eilte auf sie zu und legte den Arm um sie, um sie sanft wieder zurückzugeleiten. Aber Ulla sträubte sich flüsternd, den Blick unruhig in der Ferne: »Laß ... laß ... ich muß fort!«

»Bleib nur hier! Hier ist's besser, Ullachen!«

»Ich muß fort ... das Auto ... hörst du ... da draußen tutet's ... kalt ... sehr kalt ... der Grunewald ...«

»Komm', Ulla ...«

»Weit fort! ... Du ... die Bliest hatte so 'nen Diamantring am Finger! Ob der echt ist? Eigentlich haben die's doch gar nicht dazu. Da hinten ist ja der Erich ... ganz da hinten im Schnee ... Gott ... ist da viel Schnee! Er geht immer weiter! ... Erich! ... Erich! ... So bleib doch stehen! Ich muß dir was sagen! ... Der Maxe auch! ... Euch beiden! ... Fix! ... Wo steckt denn die Maxe?«

»Ich bin ja bei dir! Sei nur jetzt hübsch still!«

Mit leisem Zwang führte die Diakonissin ihre Schwester wieder an das Lager und bettete sie. Die Kranke ließ es geschehen. Sie seufzte und schloß die Augen. Der Eisbeutel auf der Stirne tat seine beruhigende Wirkung. Sie frug mit klagender Stimme: »Maxe, bist du noch da?«

»Ja. Gewiß!«

»Bleibst du auch da?«

»Freilich!«

»Der Erich auch?«

»Er wird auch bald da sein!«

»Eben! ... Ihr beide sollt ja doch jetzt ...«[S. 455] Ulla faßte geistesabwesend nach der Rechten ihrer Pflegerin, die noch feucht und kühl vom Hantieren im Eiswasser war. »Ist das deine Hand, Maxe? ... Warum ist sie denn so kalt? ... Bist du auch schon tot? ...«

Die junge Frau neben ihr fröstelte zusammen.

»Schlaf nur, Ulla!«

»Du bist fort ... schon lang ... weit weg ... aber du bist doch immer da ... weißt du? ...«

»Schlaf! Schlaf!«

Die Kranke beruhigte sich allmählich. Einmal warf sie sich noch in den Kissen hin und her und befahl ungeduldig: »Nein ... klappen Sie das Verdeck nur auf ... Was? ... Zu kalt? ... Herrgott ... wenn ich's doch will!« Dann wurden ihre Atemzüge lang und tief. Sie verfiel in einen Betäubungsschlummer. Maximiliane saß still an ihrem Bett. Sie war diese einsamen wachen Nachtstunden gewohnt, die schattenhaft, lautlos, eintönig vorüberglitten. Erst zwischen zwei und drei Uhr morgens entstand ein leises Geräusch im Krankenzimmer. Der Arzt war auf den Fußspitzen eingetreten. Er begrüßte Maximiliane mit einer Kopfneigung, die halb vertraulich zur Pflegerin, halb ehrerbietig gegen die Exzellenz war, setzte sein Stethoskop der Patientin auf die Brust, horchte und klopfte schweigend. Sein bärtiges Gesicht zeigte Besorgnis.

»Ich bin gar nicht zufrieden!« sagte er flüsternd, während er mit der Diakonissin in das Nebenzimmer trat. »Der Krankheitsprozeß schreitet immer weiter fort! ... Auf die Dauer hat das Herz nicht die Kraft,[S. 456] da mitzukommen. Wenn man einem derartig schwachen Organismus einen so wahnsinnigen Insult zufügt — hinterher sollen wir es dann gut machen! ... Uns trifft die Verantwortung! In wenigen Stunden kommt Herr von Logow an. Er findet seine Frau zwischen Tod und Leben ... ja, wenn Ihr Herr Schwager dann in seiner begreiflichen Angst und Aufregung mir Vorwürfe macht — ich vermag ihm nur zu erwidern: Wenn jemand mit aller Gewalt krank werden will, kann ich's nicht hindern und kein Arzt der Welt!«

»... krank werden will?«

»Ja! Ihre Schwester mußte wissen, was die unausbleibliche Folge einer solchen Fahrt bei Kälte und Ostwind sein würde! Ich hab's ihr hundertmal gesagt und sie zur Vorsicht ermahnt. Warum sie's trotzdem getan hat, weiß der Himmel! Ich wasche jedenfalls meine Hände in Unschuld!«

Der Doktor hatte noch einige Anordnungen getroffen und sich dann in sehr ernster Stimmung verabschiedet. Die Diakonissin saß still, die Hände im Schoß. Sie hatte die Mädchen zu Bett geschickt. Es gab jetzt nichts zu pflegen und zu tun, bei dem tiefen Schlaf der Bewußtlosigkeit da drinnen, in dem langsam, je weiter die Stunden über Mitternacht hinaus vorrückten, die Fieberhöhe sank. Zuweilen trat Maximiliane auf leisen Sohlen an das Bett und sah nach ihrer Schwester. Dann schritt sie wieder durch die Räume, setzte sich, nahm mechanisch ein Buch zur Hand und legte es weg, ohne darin zu lesen, und erhob sich und stand am Fenster und schaute hinaus. Draußen[S. 457] war tiefe, schwarze Winternacht. Nüchterner, reihenweiser Laternenglanz auf der ausgestorbenen Straße, kaltes Sternenflimmern über den beschneiten Dächern. Kein Laut, keine Bewegung in diesem brütenden Dunkel. Berlin schlief. Sie dachte sich: Jetzt fährt ein Zug durch die Finsternis. In dem sitzt er und kommt heim und findet seine Frau zwischen Leben und Sterben — halb im Sterben — sie schrak zusammen — sie schloß im Stehen die Augen — sie frug sich: ›Bist du das wirklich? Ist das nun doch wahr? ... Und wie ist es gekommen?‹ Ein sonderbares Grauen vor etwas Unbekanntem, Geheimnisvollem durchfröstelte sie. Da hörte sie von drinnen einen schwachen Laut, und sofort verwandelte sie sich, im Instinkt der Pflicht, in die barmherzige Schwester. Sie eilte in das Krankenzimmer. In dem kämpfte das erste fahle Morgengrau mit dem gelblichen Dämmer der Nachtlampe. Geisterbleich lag Ullas Kopf in den weißen Kissen. Sie war bei Bewußtsein. Ihre Augen waren offen. Ihr Züge zeigten eine ängstliche Spannung. Sie streckte der anderen die Hand entgegen und flüsterte: »Versprich mir, Maxe ... nicht wahr, du tust's ...«

»Was denn, Ullachen?«

»Hol nachher, um halb elf, Erich selbst am Bahnhof ab! Er weiß ja noch von nichts! ... Er soll es nicht von Fremden hören! Sag du's ihm, daß es mit mir zu Ende geht!«

»Um Gotteswillen, Ulla — was bildest du dir ein? In vierzehn Tagen bist du wieder wohl und munter!«

[S. 458]

Ein eigenes, feierlich-abwehrendes Lächeln durchgeistigte das Antlitz der Kranken.

»Das weiß ich besser, Maxe! ...«

»Ulla — man muß auch gesund werden wollen! Das hilft auch, wenn man krank ist. Denk' doch an deinen Mann! Du hast ihn doch so lieb!«

»Und ob ich ihn lieb hab' ...« sagte Ulla von Logow langsam und andächtig, den Blick nach oben, und hustete schmerzlich und hielt immer noch die Hand der Schwester fest.

»Erinnerst du dich noch, Maxe ... wie wir beide hier darüber geredet haben ... in diesem Zimmer. Es ist jetzt bald ein Jahr! ... Damals war ich noch so voll Hoffnung — voll Zuversicht! ... Ich dachte, es müßte mir gelingen — ich müßte seine Liebe wiedergewinnen. Ich hab' darum gekämpft, wie eine Verzweifelte ...«

»Erzähl' mir das später einmal, Ulla! Du regst dich zu sehr auf!«

»Wann denn, Maxe? — Ich bin bald ganz still! ... Ich bin ja so schwach und krank. Ohne ihn kann ich nicht leben!«

»Du sollst ihn ja auch haben!«

Die Kranke sah sie traurig an und schüttelte den Kopf.

»Du hast ihn nach wie vor! Du wirst ihn ewig haben, solange er lebt ... Klingen dir nicht manchmal die Ohren? Ich bild' mir ein, das müßte man förmlich hören, wenn ein anderer Mensch so immerzu an einen denkt — Tag und Nacht — immerzu — das tut er ...«

»Ulla!«

[S. 459]

Die andere hustete. Das Sprechen bereitete ihr Schmerz. Ihre Stimme war kaum vernehmbar.

»Es war ja lächerlich von mir, es zu versuchen, Maxe! ... Du bist ja so, so viel stärker! ... Du stehst in ihm so unverrückbar wie ein Bild von Erz ... O, er verrät sich nicht. Er war immer zu mir lieb und gut ...«

»Ulla — hör jetzt auf!«

»Und du hast gerade so die Zähne zusammengebissen wie er! ... Euch kann keiner einen Vorwurf machen. Ich bin an allem schuld! Ich hab's schon früher geahnt, bei unserem letzten Gespräch. Wie jetzt der Herbst ins Land gekommen ist, da hab' ich es allmählich ganz klar erkannt!«

»Du mußt nicht so viel reden! Es schadet dir!«

»Ich hab' deine Liebe verraten, weil ich's gewußt hab' und hab' ihn doch genommen ... und ich hab' seine verraten — denn ich hab' ihn ohne Liebe genommen. Das ist das ganze Geheimnis dieser zehn Jahre, Maxe! So darf man nicht mit Menschen spielen! ... Jetzt weiß ich's! ... Ich bin jetzt besser ... Ich hab' zu viel gelitten! ... Ich bin über mich hinaus!«

Sie richtete sich mit letzter Kraftanstrengung halb auf und flüsterte: »Siehst du — so kommt die dumme Geschichte jetzt ganz gelegen — diese Ausfahrt von mir bei Wind und Wetter ... Es war ein Leichtsinn von mir — ich geb' es zu ... Ich hatt' es nicht bedacht! ... Sag ihm gleich auf dem Bahnhof, daß es ein Leichtsinn war! ... Sag es Mama und den Geschwistern ... sag es allen Leuten! ... Sie sollen es alle glauben,[S. 460] daß es ein Leichtsinn war. Sie werden's auch! ... Warum denn nicht? ... Du allein weißt es besser! Gib mir die Hand, Schwester ... schau mir ins Gesicht und verzeih mir!«

Ihre Stimme war noch einmal laut und leidenschaftlich geworden. Die andere stand erschrocken vor ihr. Sie strich sich mit der Rechten über die Stirne: »Ulla, um Gotteswillen, was hast du getan?«

»Ich denke, das Rechte! Ich habe eine Ende gemacht. Freiwillig ... Ich wußte: Die Ausfahrt war das Ende!« Sie sank zurück. Es war ein feierlicher Ausdruck in ihren Zügen. »An den anderen liegt mir nichts! ... Aber du, Maxe ... du sollst mich doch so sehen, wie ich jetzt bin und mich so im Gedächtnis behalten, und es niemandem verraten, bei Gott im Himmel, — auch Erich nicht! ... Ich hab' die Waffen gestreckt vor eurer Liebe ... Es stand schon seit Wochen in mir fest. Wie Erich nun in Schlesien war, hab' ich's ausgeführt und hab' mir draußen im Grunewald mein Schicksal geholt ... und ich bereu' es nicht ...«

Ein schwerer Hustenanfall machte ihren Worten ein Ende. Sie rang nach Luft. Maximiliane lag, aufschluchzend, neben ihrem Bett auf den Knieen. Es wurde still. Die Kranke dämmerte erschöpft vor sich hin, ein Rückschlag nach der Anstrengung des vielen Redens. Ihre Gedanken wanderten wieder. Sie murmelte unverständliche Worte und bewegte seltsam suchend die Finger. Ihre Schwester wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, während sie da kniete. Sie fuhr erst auf, als sich ihr eine Hand leise auf die Schulter legte. Um sie war heller Tag. Neben ihr[S. 461] stand eine Pflegerin vom Roten Kreuz. Der Arzt hatte sie zu ihrer Entlastung geschickt. Er selbst wollte bald nachkommen. Und da von nebenan schauten angstvoll ihr Bruder Otto und seine Frau herein, und er flüsterte: »Ich hab' Mama noch gestern abend nach Darmstadt telegraphiert. Sie kommt heute mittag hier an. Die Grotjans auch. Peter ist schon da.«

Der kleine Grenadier drückte ihr stumm die Hand. Seine junge Frau war an seiner Seite. Immer mehr Besucher füllten jetzt zwischen acht und neun Uhr morgens flüsternd die Vorderräume der Logowschen Wohnung: Günter von Ottersleben, durch den Fernsprecher aus seiner Garde-Infanteriekaserne herbeigerufen, und hinter ihm sein Vater, der General. Und der Freiherr und die Freifrau von Koninck kamen, Burschen und Ordonnanzen mit Anfragen nach dem Befinden, das Telephon klingelte, es war ein Treppauf und Treppab, ein Schweigen, ein Raunen, unruhige Blicke nach den verschlossenen Türen, hinter denen der Arzt mit den Krankenschwestern waltete.

»Sie gehen jetzt, Herrn von Logow abzuholen?« frug er leise, als sich Maximiliane fertig machte.

»Ja, ich hab's ihr in die Hand versprochen!«

Der Doktor schaute auf.

»Sehen Sie, daß Sie keine Zeit verlieren!« sagte er sehr ernst. »Bringen Sie ihn so rasch wie möglich! Sie wissen schon, was ich meine!«

Es war ein kalter, klarer Wintertag. Die Straßen reingefegt vom Schnee, der Himmel blau, die Häuser voll Fahnen. Maximiliane ging das Spreeufer entlang. Wenig Menschen begegneten ihr bis zur Weidendammer[S. 462] Brücke. Da umfing sie plötzlich das festliche Gewühl der Friedrichstraße. Mächtige Girlanden hingen drüben an der Kaserne des zweiten Garderegiments, nach der anderen Seite, gegen die Absperrung unter den Linden zu, war unter dem Flaggenwald der beiden engen Straßenfronten alles schwarz von Köpfen — dahinter undeutlich der Prunk der Auffahrt zum Kaiserschloß — im Winde flatternde Federbüsche der Generale — schwarz-weiße Lanzenwimpel — das Schaukeln und Flimmern der Adlerhelme der Garde du Corps — verwehte Musik — wie eine Vision aus dem achtzehnten Jahrhundert die altfränkischen Galakarossen mit dem hinten stehenden gepuderten Lakaien — und dann mit einem Schlag wieder der Alltag, das Hasten und Drängen auf dem Bahnhof Friedrichstraße, zu dem sie emporstieg.

Sie hatte sich beeilen müssen, um gegen die herabflutenden Menschenströme den Aufgang zu gewinnen. Atemlos stand sie oben auf dem Bahnsteig im Wellenschlag der Menge. Es waren nur noch zwei Minuten bis zur Ankunft des schlesischen Schnellzugs. Aber noch war seine Tafel nicht aufgezogen und ein Beamter erklärte ihr den Grund: Schneeverwehung ... Eine halbe Stunde Verspätung ...

Warten ... wieder warten ... Und daheim lag die Kranke ... die Sterbende ... Sie schaute verstört vor sich hin. Sie wurde im Gedränge angestoßen ... hin- und hergeschoben ... Langsam trat sie zur Seite, ging wieder die Stufen hinab, über die Straße, gesenkten Haupts — sie wußte selbst nicht, wohin. Ihr Schwesternkleid schaffte ihr Durchlaß. Auf einmal war[S. 463] sie an der Ecke der Linden, hart an der Ruhmeshalle, wo eben die Parole ausgegeben war, die immer gleiche an diesem Tag: »Es lebe Seine Majestät der Kaiser und König.« Sie sah vor sich die mächtigen abgesperrten Flächen des Opernplatzes, sie sah von der grauen Riesenfront des Hohenzollernschlosses die Reichsstandarte purpurn über Berlin wehen, sie sah nach der anderen Seite bis zum Brandenburger Tor hin den Festprunk der Siegesstraße, die Fahnen und Kreuze, die Teppiche und Inschriften, sie sah vor sich auf der lichten Weite des Asphalts Hunderte und Tausende von Offizieren, die schärpenumgürtet, in lichtgrauem Mantel und hohen Stiefeln aus dem Zeughaus traten — sie sah die Federbüsche, die schwarzen und weißen Roßschweife, die Pickel- und Kugelhauben, die Tschakos, die Adlerhelme und Tschapkas und Bärenmützen. Und all dies bunte Gewimmel stand mit einem Schlag still. Die Hände hoben sich zum Gruß — ein Brausen und Hochrufen und Tücherschwenken schwoll an den Seiten hinter den Schutzmannsmauern an und durchzitterte die dunklen Menschenmassen und rollte, sich immer verstärkend, bis über die Spree. Zwischen ihr und der Ruhmeshalle war eine breite, freie Gasse. Mitten auf ihr schritt ein General, sechs jüngere Offiziere ihm zur Linken, in einiger Entfernung ein Schwarm von Gefolge: der Kaiser kehrte mit seinen Söhnen vom Zeughaus nach dem Schloß zurück ...

Der Ruf der Tausende hallte Maximiliane im Ohr nach, während sie sich umwandte und wieder den Weg nach dem nur wenige hundert Schritte entfernten Bahnhof einschlug, dieser Ruf, der heute in jeder[S. 464] deutschen Stadt erklang, auf jedem deutschen Panzer, der das Meer durchfurchte, an jeder fernen Küste des Erdballs, an der die schwarz-weiß-rote Flagge wehte. Das war das Heer. Das war das Reich. Das war die Größe. Die eigene Not erschien einem wenigstens einen Augenblick klein dagegen und kam dann wieder mit aller Macht über sie. Sie stand und rang die Hände ineinander und atmete auf, als endlich, endlich der Zug einlief und Erich von Logow ausstieg.

Er war in Zivil. Denn auf den Straßen Berlins durfte er sich heute nur in Paradeuniform zeigen, und die konnte er erst zu Hause anlegen. Mit ruhigem Gesicht schritt er dem Zug entlang, seine Handtasche in der Rechten und erblickte plötzlich Maximiliane und blieb stehen, als hätte er einen Geist gesehen.

»Du hier?«

»Ja.«

»Was ist denn geschehen?«

»Hast du unsere Depeschen nicht erhalten?«

»Nein!«

»Deine Frau ist sehr krank! ... Komm rasch!«

Er war betäubt. Er fand kein Wort. Stumm folgte er ihr. Als sie in einem Automobil saßen, wiederholte sie mit erstickter Stimme: »Komm rasch! ... Sonst kommst du zu spät!«

Und nun begriff er ...

Der Wagen schoß dahin. Erich von Logows Gesicht war fahl geworden.

»Maxe ... Sag mir die ganze Wahrheit!«

Und sie erwiderte, eingedenk ihres Worts: »Ulla war zu leichtsinnig! ... Sie ist ausgefahren. Dabei[S. 465] hat sie sich's geholt! Der Arzt gibt kaum mehr Hoffnung!«

Sie stiegen aus und eilten die Treppen hinauf. Oben in der Wohnung waren jetzt noch mehr Menschen. Die Mutter war aus Darmstadt gekommen, die Grotjans aus Thorn — all die Ottersleben und ihre Verwandten waren beisammen. Aber nicht mehr in den Vorderräumen. Sie waren sämtlich in das Krankenzimmer getreten. Sie umstanden schweigend mit gefalteten Händen das Bett. Davor der Pfarrer. Der Arzt richtete sich empor. Er murmelte: »Gott sei Dank! ... Da sind Sie!«

Ulla schlug noch einmal die Augen auf. Eine Bewegung ging über ihr Gesicht. Sie erkannte die beiden, die an ihr Lager traten. Sie reichte ihrem Mann die Hand. Es war ein schwaches Lächeln um ihre Lippen. Dann tastete sie mit der Linken nach etwas. Sie nahm ihren schwindenden Willen zusammen. Sie suchte es und fand es. Sie hatte, auf der anderen Seite des Bettes, Maximilianes Rechte ergriffen und hielt sie so fest, wie drüben die ihres Mannes, und sah die beiden an und bemühte sich, deren Hände zusammenzulegen. Es war keiner im Zimmer, der das nicht fühlte. Dann verließ sie die Kraft. Ihre Arme sanken nieder. Arzt und Pflegerin beugten sich hastig über sie. Maximiliane drehte sich zur Seite. Sie konnte nichts mehr sehen, so verschleierten ihr die strömenden Tränen den Blick. Sie hörte nichts mehr. Es war eine tiefe, große Stille ...

Und in ihr plötzlich die Stimme des Geistlichen: »Vater unser, der du bist im Himmel! Dein Reich[S. 466] komme ... Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden ...« eine Bewegung umher — ein Aufschluchzen ... da faltete auch sie die Hände ...

»Und vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!«

Sie sank am Bett der Toten auf die Knie. Ulla lag still. Auf der anderen Seite kniete Erich von Logow. Vom Fenster her fiel über sie beide und die Schläferin in ihrer Mitte ein heller Sonnenstrahl ...


Rudolph Stratz:

Der weiße Tod

Roman aus der Gletscherwelt. 41.-50. Tausend


Buch der Liebe

Sechs Novellen. 4. Tausend


Der arme Konrad

Roman aus dem großen Bauernkrieg von 1525
5. und 6. Tausend


Die letzte Wahl

Roman. 7. und 8. Tausend


Montblanc

Roman. 16.-22. Tausend


Die ewige Burg

Roman aus dem Odenwald. 9. Tausend


Alt-Heidelberg, du Feine ...

Roman einer Studentin. 46.-55. Tausend


Es war ein Traum

Berliner Novellen. 7.-9. Tausend


Gib mir die Hand

Roman. 20.-24. Tausend


Ich harr' des Glücks

Novellen. 7.-9. Tausend



Rudolph Stratz:

Du bist die Ruh'

Roman. 18.-27. Tausend


Der du von dem Himmel bist

Roman. 13.-17. Tausend


Herzblut

Roman. 42.-51. Tausend


Für Dich

Roman. 49.-58. Tausend


Liebestrank

Roman. 32.-41. Tausend


Du Schwert an meiner Linken

Ein Roman aus der deutschen Armee 59.-68. Tausend


Seine englische Frau

Roman. 83.-95. Tausend


Stark wie die Mark

Roman. 36.-40. Tausend


Jörg Trugenhoffen

Ein deutsches Schauspiel in fünf Aufzügen


Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart